B. Hoppe u.a. (Hrsg.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden

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Titel
Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Bd 7: Sowjetunion mit annektierten Gebieten, 1. Besetzte sowjetische Gebiete unter deutscher Militärverwaltung, Baltikum und Transnistrien


Herausgeber
Hoppe, Bert; Glass, Hildrun
Erschienen
München 2011: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
891 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Ackermann, European Humanities University, Vilnius

Die Dokumentation der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 – 1945 wird seit 2008 in 16 Bänden von einem Konsortium aus Bundesarchiv, Institut für Zeitgeschichte, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Freiburg und Lehrstuhl für die Geschichte Ostmitteleuropas am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin realisiert. Der siebte Band dokumentiert den Holocaust in den besetzten sowjetischen Gebieten unter deutscher Militärverwaltung sowie im Baltikum und Transnistrien. Bert Hoppe und Hildrun Glass haben sorgfältig die Auswahl und wissenschaftliche Aufarbeitung von über 300 Dokumente besorgt. Ein wichtiger Teil ihrer Arbeit lag darin, zusätzlich zu den Schlüsseldokumenten der deutschen Täter in umfangreichen Recherchen neue, bisher nicht auf Deutsch veröffentlichte Dokumente zu finden, die aus den Jahren 1933 bis 1945 stammen. Zu den Stärken dieser Sammlung gehört die dichte Zusammenführung von aus Sicht der Täter verfassten und aus Opferperspektive geschriebenen Dokumenten. Die so abgebildete Multiperspektivität schließt explizit auch die „Bystander“ vor Ort ein. Sie reicht von Wehrmachtsbefehlen und Berichten der Einsatzgruppen über Tagebücher und Briefe von deutschen Soldaten, osteuropäischen Juden und ihren christlichen Nachbarn bis hin zu Protokollen der Judenräte und ausgewählten Zeitungsartikeln.

In der Einleitung fassen die Bearbeiter des hier anzuzeigenden Bandes den Forschungsstand zum jüdischen Leben im Baltikum, in der Sowjetunion sowie in Transnistrien zusammen und gehen auf die wichtigsten Phasen seiner Vernichtung in den jeweiligen Regionen ein. Hoppe und Glass ordnen die unterschiedlichen Formen von Interaktion zwischen deutschen Besatzern, jüdischen Opfern und der christlichen Bevölkerung in den unterschiedlichen Regionen kritisch ein. Und sie beziehen die unterschiedlichen Wissensstände der Akteure über den damals anderswo bereits begonnenen Völkermord in die vorliegende Dokumentation mit ein. Sie wiegen genau die Unterschiede zwischen Zivilverwaltung und Militärverwaltung ab und beschreiben unter Auswertung der vorhandenen Forschungsliteratur die aktive Rolle der Wehrmacht bei der Durchführung des Völkermords.

Ein besonderes Verdienst der Quellenedition liegt darin, dass eine Vielzahl von Texten die jüdische Perspektive in den Ghettos und Verstecken abdeckt und die inneren Konflikte der um das Überleben kämpfenden jüdischen Gemeinden dokumentiert. Dabei haben Hoppe und Glass besonders aufschlussreiche Fragmente ausgewählt und für die Bearbeitung ihre Übersetzung aus dem Jiddischen gesorgt. Etwa ein Tagebucheintrag von Eliezer Yerushalmi aus dem Getto in Shavl (Schaulen / Siauliai) vom 24.3.1943, in dem er die Diskussionen des Judenrats über die Legitimität von Zwangsabtreibungen wiedergibt, um das von den deutschen Besatzern im Sommer 1942 für die Bevölkerung des Gettos ausgesproche Geburtsverbot einzuhalten. (S. 699–700)

Der Prozess des Auffindens, Auswählens und der Übersetzung ebensolcher Dokumente sowie deren sorgfältige wissenschaftliche Editierung macht den Kern der Dokumentation aus. Ihre hohe Qualität liegt genau in der dadurch gegebenen starken Selektivität der Quellen, die nach einer Vielzahl von Kritierien ausgesucht und gekürzt wurden. Sie gerantiert einerseits den wissenschaftlichen Mehrwert der Übersetzung und ihrer Bearbeitung. Andererseits schränkt diese aber den Nutzen für weiterreichende Forschungen zu den jeweiligen Regionen ein. So wurden Mosaiksteine eines von den Herausgebern projizierten Gesamtbilds der Vernichtung der europäischen Juden zusammengetragen. Das mindert nicht den Wert der Dokumentation, unterstreicht hingegen ihre Bedeutung vor allem für die Komparistik, die Erstellung von überregionalen Synthesen und die universitäre Lehre. So ist die Dokumenation dank der Kombination aus sorgfältiger Übersetzung und Edition auch ideal für auf Deutsch abgehaltene Lehrveranstaltungen zum Holocaust in den jeweils behandelten Regionen des besetzen Europa. Die Studierenden werden so in die Lage versetzt, Quellenkritik anhand von exzellent aufbereiteten Quellen zu üben. Wissenschaftlern, die sich bestimmten Teilaspekten des Holocaust widmen, ermöglicht der Band einen guten Überblick sowie einen exzellenten Handapparat mit weiterführenden Hinweisen auf die offen stehenden Bestände von Dokumenten.

Der geographische Fokus des Bandes von Hoppe und Glass, der ein vom Norden bis zum Süden Europas reichendes Grenzland zwischen dem besetzten Kernpolen und dem Inneren der Sowjetunion abdeckt, irritiert zunächst. Er ermöglicht aber einen Vergleich der unterschiedlichen Dynamiken der Vernichtung im Baltikum sowie in unterschiedlichen Gebieten der besetzten Sowjetunion. Besonders aufschlussreich ist hier der Unterschied zwischen dem besetzten Litauen und der Ukraine, wo die stark mit Polen konkurrierenden Nationalbewegungen jeweils zu einem Ausbruch lokaler Gewalt gegen Juden zum Beginn deutscher Herrschaft führten. Die geographische Struktur der gesamten Dokumentation folgt der Verwaltungsstruktur des deutsch besetzten östlichen Europa. Diese Entscheidung ist nachvollziehbar, da die unterschiedlichen Praktiken der Vernichtung jüdischen Lebens vor allem von diesen Strukturen geprägt waren. Allerdings führt diese Logik auch dazu, dass die Ostgebiete der Polnischen Republik losgelöst vom Polen der Zwischenkriegszeit betrachtet werden, die u.a. in den Bänden 4 und 9 dokumentiert werden. Dadurch wird etwa die Dynamik vor Ort ausgelöster Gewalt weniger deutlich in den Kontext des polnischen Staats eingeordnet als notwendig. Zu einer Gesamtschau der Dokumente fehlt derzeit noch Band 13, der das Generalkommissariat Weißruthenien und das Reichskommissariat Ukraine sowie die jeweils vom Deutschen Reich annektierten Gebiete abdecken wird. Bereits vor der Fertigstellung der weiteren geplanten Bände stellt die Dokumentation einen Meilenstein dar, der vor allem im Erschließen, Übersetzen und Zusammenführen von breit gefächerten Dokumentenbeständen zur Ermordung der europäischen Juden besteht.

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