R. Boch (Hg.): Geschichte und Zukunft der deutschen Automobilindustrie

Cover
Titel
Geschichte und Zukunft der deutschen Automobilindustrie. Tagung im Rahmen der "Chemnitzer Begegnungen" 2000


Herausgeber
Boch, Rudolf
Erschienen
Stuttgart 2001: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
290 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elmar Grüneich, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Wirtschaftshistorisch ist die Bedeutung der Automobilindustrie in Deutschland vergleichbar mit Branchen wie der Schwerindustrie, der chemischen oder der elektrotechnischen Industrie. Aus dieser Gruppe ist die Automobilindustrie der jüngste Spross, der sich, obwohl die Grundlagen schon Ende des 19. Jahrhunderts geschaffen wurden, erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Schlüsselindustrie entwickeln konnte. Da aber kaum ein einzelner Gegenstand in den letzten Jahrzehnten unser alltägliches Leben so umfassend geprägt hat wie das Kraftfahrzeug, ist seine kultur- oder sozialgeschichtliche Rolle weitaus höher einzuschätzen, als der volkswirtschaftliche Rang der dahinterstehenden Industrie vermuten lässt. Die vom Auto ausgehende Faszination und die beträchtliche gesellschaftliche Relevanz des Komplexes finden ihren Niederschlag in einer umfangreichen Literatur zur Geschichte des Kraftfahrzeugs, der Automobilindustrie sowie der Motorisierung des Verkehrs.

Dabei bedienen rein technikgeschichtliche Arbeiten, wie sie lange Zeit die Literatur dominiert haben, mittlerweile eher populärwissenschaftliche Interessen, während die akademische Forschung spätestens seit den 80er Jahren breitere Zugänge bevorzugt. Aktuelle Arbeiten zeichnet ein umfassenderer Erklärungsanspruch sowie das Bemühen um eine Einordnung der Thematik in übergreifende gesellschaftliche Zusammenhänge aus. Diese Arbeiten lassen sich grob zwei Gruppen zuordnen: Arbeiten zur Branchenentwicklung mit engem Bezug zum parallel dazu verlaufenden gesellschaftlichen Motorisierungsprozess 1 sowie Untersuchungen zur Geschichte einzelner Hersteller 2. Eine Überblicksdarstellung, die über den Stand einer bloßen Faktensammlung 3 hinausginge, steht allerdings noch aus und mit umso größerem Interesse nimmt man den vorliegenden Sammelband in die Hand.

Die Veröffentlichung ist aus zwei Veranstaltungen hervorgegangen, einer wissenschaftlichen Tagung sowie einer Podiumsdiskussion, abgehalten im Rahmen der „Chemnitzer Begegnungen“ 2000 zu Geschichte, Gegenwartstendenzen und Zukunftsfähigkeit der deutschen und der sächsischen Automobilindustrie. Anlass war der Abschluss eines mehrjährigen Projekts zur Erschließung der im Sächsischen Staatsarchiv Chemnitz lagernden Aktenbestände der Auto Union AG und ihrer Vorläuferunternehmen, das die TU Chemnitz gemeinsam mit der Sächsischen Archivverwaltung und finanzieller Unterstützung der Audi AG durchführte. Mit Erstellung der Findbücher 4 ist nun auch die umfangreiche Überlieferung des zeitweilig zweitgrößten deutschen Automobilkonzerns einer breiteren Forschungsöffentlichkeit zugänglich, was um so höher zu bewerten ist, als diese bislang für die Zeit vor 1945 in vielen Fragen auf die Überlieferung der Daimler-Benz AG angewiesen war.

Der Sammelband gliedert sich in zwei ungleiche Teile: Der erste Abschnitt (S. 23-265) umfasst zehn Beiträge zur Tagung, die sich in chronologischer Folge wechselnden Aspekten der Branchengeschichte widmen. Daran anschließend dokumentiert ein Anhang (S. 267-288) die Stellungnahmen der prominent besetzten Podiumsdiskussion zu jüngeren Entwicklungen und Zukunftschancen der Automobilindustrie. Leider bestand keine Gelegenheit, gegenwärtigen Stand und absehbare Trends mit Rückgriff auf historische Erfahrungen zu analysieren, denn anders als die Anordnung der Beiträge suggeriert, fand die Podiumsdiskussion schon am Vorabend der Tagung statt. Folge ist, dass die Beiträge beider Veranstaltungen recht unvermittelt nebeneinander stehen.

Die Auswahl der Tagungsbeiträge lässt das Bemühen erkennen, möglichst aktuelle Forschungsergebnisse zu präsentieren. Fast alle Artikel gehen aus laufenden oder erst vor kurzem abgeschlossenen Forschungsprojekten hervor, wobei neben wenigen ausgewiesenen Kennern wie Heidrun Edelmann oder Peter Kirchberg die meisten Autoren erstmals mit diesem Thema an die Öffentlichkeit treten. Im Allgemeinen handelt es sich um Ausschnitte aus oder Kurzfassungen von Monographien, deren Veröffentlichung vor kurzem erfolgte oder zu erwarten ist 5.

Da die Beiträge fast alle Perioden in der Geschichte der deutschen Automobilindustrie abdecken, liegt ein nahezu lückenloser Überblick vor, der allerdings auf Grund wechselnder Schwerpunkte und Fragestellungen wenig systematisch ausfällt: Während die ersten drei Artikel von Barbara Haubner, Heidrun Edelmann und Reiner Flik die Motorisierung in Deutschland bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs behandeln, stehen unternehmensgeschichtliche Themen mit dem Schwerpunkt auf der Zeit der 20er bis 40er Jahren im Mittelpunkt der folgenden drei Artikel von Carsten Thieme, Martin Kukowski und Eva Pietsch. Von den vier Beiträgen zur Nachkriegsgeschichte der deutschen Automobilindustrie befassen sich die Artikel von Norbert Stieniczka und Peter Kirchberg mit technikgeschichtlichen und -soziologischen Aspekten des Automobilbaus der 50er und 60er Jahre und die von Thomas Haipeter und Andreas Knie stammenden Aufsätze mit jüngeren Entwicklungen und aktuellen Trends der Branche vorrangig aus soziologischer Perspektive.

Barbara Haubner stellt fest, dass sich der Siegeszug des Automobils trotz seiner zunächst eher zögerlichen Verwendung schon im Kaiserreich abzeichnete. Sie führt dies auf das mit dem Automobil verbundene neue Lebensgefühl von Freiheit und Individualität zurück und betont die Bedeutung der seit 1897 gegründeten Automobilclubs, die es den sich oft in einflussreichen gesellschaftlichen Positionen befindlichen Automobilisten erlaubten, ihre Interessen trotz geringer Anzahl effektiv zu vertreten.

Heidrun Edelmann sieht Gründe für den deutschen Rückstand in der Motorisierung für die Zwischenkriegszeit weniger in Versäumnissen der Automobilindustrie bei der Modernisierung ihrer Produkte und der Einführung neuer Produktionsmethoden als in politischen Hemmnissen, wie der außerordentlich hohen Belastung der Fahrzeughaltung mit Steuern und Abgaben. Auch der Abbau von Belastungen zu Beginn des Dritten Reichs änderte daran nur wenig, war doch die Massenmotorisierung mit der auf Autarkie und Kriegsvorbereitung gerichteten Wirtschaftspolitik des Dritten Reichs nicht vereinbar.

Diese Ergebnisse präzisiert Reiner Flik mit einem Vergleich des Automobilmarktes in den USA und Deutschland. Die drückende Überlegenheit der ausländischen Industrie hinderte die zahlreichen Hersteller, moderne Produktionstechniken zu übernehmen, und zwang sie, in Nischenprodukte wie Kleinst- und Oberklassewagen auszuweichen. Allerdings veranlasste der enorme Selektionsdruck in der Weltwirtschaftskrise auch eine Reihe von Produktinnovationen, die mittelbar in die Entwicklung des europäischen Kompaktwagens einflossen und damit zum Wiederaufstieg der deutschen und europäischen Automobilindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg beitrugen.

Carsten Thieme untersucht die Strategie der Krisenbewältigung durch Kooperation, wie sie die Deutsche Bank für ihre Beteiligungen in der Automobilindustrie verfolgte. Allerdings blieb die Fusion der Daimler-Benz AG 1926 einziges greifbares Ergebnis dieser Bemühungen und das eigentliche Ziel unerreicht, unter Einschluss führender deutscher Hersteller einen marktbestimmenden Fahrzeug- und Motorenkonzern zu schaffen. Gründe sieht Thieme in den mit den Zusammenschlüssen verbundenen hohen Transaktionskosten, der bei Daimler-Benz reifenden Überzeugung, die Krise aus eigener Kraft bewältigen zu können, sowie der Konkurrenz der Großbanken.

Etwas aus dem Rahmen der übrigen Beiträge fällt der Aufsatz von Martin Kukowski, der auch die Findbücher zum Auto Union-Bestand erstellt hat. Neben den Grundzügen der Unternehmensgeschichte umreißt er das in der archivarischen Überlieferung des sächsischen Herstellers liegende wirtschafts- und sozialgeschichtliches Forschungspotential. Ebenfalls mit der Auto Union befasst sich Eva Pietsch, wobei sie deren Exportaktivitäten in den 30er Jahren in den Blick nimmt. Die These von der Fremdbestimmung des Exports im Dritten Reich ist nach ihrem Befund zumindest für die Auto Union deutlich zu relativieren, gelang es doch dem ausgesprochen exportorientierten Unternehmen, seinen Anteil an der deutschen Automobilausfuhr zu steigern, bevor politische Maßnahmen zur Exportförderung griffen. Erst ab 1936 lässt sich von einem „Zwang“ zur Ausfuhr sprechen, der Exporterfolge zur Voraussetzung für Rohstoffzuteilungen und damit für weitere Produktionssteigerungen machte.

Norbert Stieniczka untersucht, inwieweit die technische Ausgestaltung des Automobils vom Übergang zur Massenmotorisierung in den 50er Jahren und der damit verbundenen Erschließung neuer Käuferschichten geprägt wurde. Als Erbe soziokultureller Rahmenbedingungen der 50er und 60er Jahre, das uns bis heute erhalten blieb, identifiziert er das Leitbild der „Rennreiselimousine“, die Modellvielfalt als Medium sozialer Distinktion und die Ausstattung der Fahrzeuge mit passiver Sicherheitstechnik.

Peter Kirchberg beschreibt zwei Versuche der DDR-Automobilindustrie, ihre Produkte in der wirtschaftlichen Reformphase der 60er Jahre über die Lizenzierung westdeutscher Technologien zu modernisieren. Obwohl die Ost-West-Kooperation nur sehr eingeschränkt als Erfolg zu werten ist – die Übernahme des M-Verfahrens für Dieselmotoren von der MAN gelang erst nach erheblichen Anstrengungen und die in Kooperation mit NSU betriebene Entwicklung eines Kreiskolbenmotors wurde wie im Westen ergebnislos eingestellt – betont Kirchberg den Wert der Erfahrungen, die der Kraftfahrzeugbau der DDR über die Kooperation sammelte.

Thomas Haipeter analysiert die langwierige Abkehr des Volkswagenwerks vom Konzept der fordistischen Massenproduktion, wie es in der Wirtschaftswunderzeit geradezu idealtypisch ausgeprägt worden war. Auf die existenzielle Krise der 70er Jahre reagierte der Konzern nur zögerlich mit Maßnahmen zur Flexibilisierung und auch in den 80er Jahren blieb er fordistischen Überzeugungen treu, so dass erst die Krise von 1993/94 deutliche Änderungen in der Unternehmensorganisation in Richtung mehr Flexibilität veranlasste. Mit einem Blick auf die jüngste Vergangenheit prophezeit Andreas Knie einen grundlegenden Wandel der Automobilunternehmen, die sich künftig zunehmend der Kreation und Pflege von Markenidentität zuwenden, klassische Aufgaben aber wie Konstruktion oder Produktion möglicherweise auslagern werden. Die Nutzung des Automobils sieht er künftig bestimmt vom Trend weg von der eigentumsrechtlichen Bindung an ein Fahrzeug hin zu leicht zugänglichen, hochvariablen Fahrzeugangeboten.

Der besondere Reiz des Sammelbandes liegt im zeitlich wie thematisch weit gespannten Bogen, der auch vor einer Auseinandersetzung mit wenig absehbaren Entwicklungen nicht Halt macht. Für eine erschöpfende Überblicksdarstellung fehlt es dem Werk zwar an inhaltlicher Geschlossenheit und dem berühmten roten Faden, doch eignet es sich als erster Zugang zur Thematik wie auch als rascher Zugriff auf aktuelle Forschungsergebnisse. Hier ist der Trend erkennbar, die Geschichte von Motorisierung und Automobilindustrie mit Rückgriff auf aktuelle sozialwissenschaftliche Konzepte zu bearbeiten und kultur- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen mit einzubeziehen. Sichtbar werden aber auch Schwachstellen, wie die relative Vernachlässigung der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg, die unzureichende Berücksichtigung der Nutzfahrzeuge oder der noch ausstehende internationale Vergleich. Tendenzen wie Schwachstellen deutlich gemacht zu haben, ist sicher nicht das geringste Verdienst des vorliegenden Bandes.

Anmerkungen:
1 Vgl. Zatsch, Angela: Staatsmacht und Motorisierung am Morgen des Automobilzeitalters, Konstanz 1993. Die Entwicklung der Motorisierung im Deutschen Reich und den Nachfolgestaaten. Eine Veranstaltung von Mercedes-Benz Classic. Das Archiv (Stuttgarter Tage zur Automobil- und Unternehmensgeschichte 2), hg. von Niemann, Harry / Hermann, Armin, Stuttgart 1995.
2 Vgl. Mommsen, Hans / Grieger, Manfred: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter, Düsseldorf 1996. Wellhörner, Volker: "Wirtschaftswunder" - Weltmarkt – westdeutscher Fordismus. Der Fall Volkswagen. Münster 1996. Gregor, Neil: Stern und Hakenkreuz. Daimler-Benz im Dritten Reich, Berlin 1997.
3 Vgl. Seherr-Thoss, H. C. von: Die Deutsche Automobilindustrie. Eine Dokumentation von 1886 bis 1979, 2. Aufl. Stuttgart 1979.
4 Kukowski, Martin (Bearb.): Findbuch zum Bestand der Auto Union im Staatsarchiv Chemnitz, 2 Bde., Halle an der Saale 2000.
5 Zu schon veröffentlichten Monographien vgl. Edelmann, Heidrun: Vom Luxusgut zum Gebrauchsgegenstand. Die Geschichte der Verbreitung von Personenkraftwagen in Deutschland, Frankfurt am Main 1989. Haubner, Barbara: Nervenkitzel und Freizeitvergnügen. Automobilismus in Deutschland 1886-1914, Göttingen 1998. Haipeter, Thomas: Mitbestimmung bei VW. Neue Chancen für die betriebliche Interessenvertretung?, Münster 2000.
Kirchberg, Peter: Plaste, Blech und Planwirtschaft. Die Geschichte des Automobilbaus in der DDR, Berlin 2000. Flik, Reiner: Von Ford lernen? Automobilbau und Motorisierung in Deutschland bis 1933, Köln [u.a.] 2001.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension