W. Rammert u.a. (Hg.): Kollektive Identitäten

Titel
Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen. Ethnologische, soziologische und historische Studien


Herausgeber
Rammert, Werner; Knauthe, Gunther; Buchener, Klaus; Altenhöner, Florian
Erschienen
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Sven Reichardt, Wissenschaftszentrum Berlin, Reichpietschufer 50, 10875 Berlin Tel.: (030) 25491-532

Die Hauptschwäche vieler Sammelbände besteht in ihrer mangelnden Kohärenz. Auch der zu rezensierende macht hier keine Ausnahme. Wie könnte er auch, da es sich um eine Art Selbstdarstellung der Doktoranden des „Graduiertenkollegs Gesellschaftsvergleich“ handelt, welches sich aus Historikern, Soziologen und Ethnologen zusammensetzt, denen nicht ein bestimmtes Thema, sondern eine Methode gemeinsam ist: sie alle vergleichen.

Will man unter solchen Voraussetzungen einen zusammenhängenden Sammelband publizieren, muß die Themenwahl schon so breit sein, wie sie durch die Begriffe „kollektive Identitäten“ und „kulturelle Innovationen“ ermöglicht wurde. Kaum ein Thema könnte darunter nicht subsummiert werden. Die skeptische Annahme, es handle sich um eine Buchbinder-Synthese, liegt recht nah.

Gleichwohl zeigt sich wieder einmal, wie lohnend ein zweiter Blick sein kann. Denn der Zusammenhalt ist doch stärker als vermutet. Alle Beitragenden haben sich nämlich darauf einigen können, daß kollektive Identitäten nicht essentialistisch als etwas Feststehendes, sondern als Prozeß der Kreation, der konflikthaften Aushandlung oder der institutionellen Festigung verstanden werden können. Da für die Konstruktion von Identität die Existenz eines „Außen“ konstitutiv ist, wird die Bildung und Findung kollektiver Identität als politischer Definitionskampf und Machtakt verstanden. So gesehen wird kollektive Identität hier als etwas Konstruiertes aufgefaßt, wobei sich unter einem solchen Blickwinkel, wie es in der Einleitung heißt, „Traditionen in Ressourcen für Innovationen“ (S.12) verwandeln können. Der Band versammelt daher sowohl kulturalistische als auch modernisierungstheoretisch orientierte Beiträge zum Thema. Er gliedert sich in fünf große Blöcke, die Aspekte und Dimensionen dieses „offenen Identitätsbegriffes“ (so Andreas Reckwitz in seinem instruktiven Aufsatz zur wechselhaften Bedeutungswandel des Identitätsbegriffes im 20. Jahrhundert) behandeln:

In dem ersten Abschnitt „Imaginationen“ geht es um die Semantik der kollektiven Identitätsbildung und darum, wie die konstruierten Identitäten wirkungsmächtig wurden. Das Bildhafte und das Mediale stehen bei den (meist historischen) Arbeiten dieses Abschnitts im Zentrum. Dabei geht es um die bürgerlichen Reisen des 19. Jahrhunderts (Philipp Prein), die Essentialisierung des Katholizismus als das „Andere der Moderne“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Manuel Borutta), die durch Gerüchte, Zeitungen oder Romane geschürte Angst vor Spionen zwischen 1900 und 1914 (Florian Altenhöner) und um Selbst- und Fremdbilder in den DDR-Spielfilmen (Stefan Zahlmann). Abgrenzung, Devianz, Fremdheit oder Feindschaft waren jeweils die Folien, vor denen sich eine moderne Identität formte – sei es die männlich-rationalistische der liberalen Antikatholiken wie in Boruttas Beispiel, sei es die nationale wie in Altenhöners Fall.

Im zweiten mit „Gedächtnis“ betitelten Teil geht es um die zeitliche Dimension der kollektiven Identitätsbildung. Schon Maurice Halbwachs hatte in den zwanziger Jahren auf den Zusammenhang der sich gegenseitig stützenden Dimensionen von Gedächtnis und Gruppenidentität aufmerksam gemacht, da das Sich-Gleich-Bleiben überhaupt erst durch Erinnern konstruiert werden kann. Verschiedene Bilder und Konstruktionen über die Vergangenheit führen also zu unterschiedlicher Wahrnehmung der Gegenwart. Von daher ist es schon erstaunlich, daß sich unter den drei Aufsätzen dieses Abschnitts nur einer aus der Hand eines Historikers befindet. Statt dessen dominieren die Ethnologen. Im einzelnen geht es um eine kleine Bevölkerungsgruppe zwischen Albanien und Griechenland, die ihre Identität aus der Interpretation ihrer Ortsgeschichte beziehen (Georgia Kretsi). Ein interessanter Aufsatz zur Serbisch Orthodoxen Kirche zeigt, wie sehr die mythische Großerzählung vom Kosovo die Wahrnehmung des aktuellen serbisch-albanischen Konfliktes beeinflußt (Klaus Buchenau). Schließlich findet sich hier auch eine Untersuchung zur alevitischen Minderheit in der Türkei, die die Heterogenität der Vorstellungen über das, was Aletivismus bedeutet, rekonstruiert (Elise Massicard).

Der dritte Abschnitt „Praktiken“ befaßt sich - in Anlehnung an Pierre Bourdieus Sozialtheorie - mit den sozialen Handlungen, mit denen kollektive Identitäten gestiftet und reproduziert werden. Mittels ethnographischer Verfahren analysiert Christoph Liell die jugendliche HipHop-Szene, deren Gewaltförmigkeit zur Erprobung und Generierung ihrer kollektiven Zugehörigkeit dient. Jörg Potthasts interessante techniksoziologische Studie behandelt den Sportsgeist der Wartungstechniker vom Großflughafen Paris-Roissy und erklärt deren kollektive Identität zu einer Kategorie situierter Praxis. Ihre strukturell „unsichtbare“ Arbeit, so Potthast, liege zwischen instandhaltendem Charakter und Investition.

Im vierten Kapitel „Heimat“ geht es um die räumliche Dimension der kollektiven Identitätsbildung. Im Zentrum der Beiträge, die sich alle um aktuelle Probleme drehen, stehen Migration und kulturelle Grenzüberschreitungen. So werden hybride Identitäten im Berliner Stadtfeld beleuchtet – seien es die der russischsprachigen Zuwanderer (Tsypelma Darieva) oder die der Berliner Franzosen (Frederic Duchène).

Das letzte Kapitel schließlich befaßt sich mit „Institutionen“, also mit gesellschaftlichen Ordnungsmustern und informellen oder formellen Regeln im Spiel von sozialen Gruppen. Diese Identitätspolitik wird am Beispiel der Eigentumsrechte im Ungarn der 1990er Jahre (Tatjana Thelen) oder der Erwerbsbiographie im gegenwärtigen Rußland veranschaulicht (Gunther Knauthe). Kiran Klaus Patel zeigt am NS-Regime, wie die Sozialisationsinstanz des Arbeitsdienstes eine Volksgemeinschaftsideologie konstruierte, symbolisierte und vermittelte.

Das allgemein hohe Niveau der Beiträge zeigt, wie wertvoll interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaften sein können - trotz (oder gerade wegen?) der „weak ties“ zwischen den einzelnen Forschungsthemen. Schade nur, daß der Band, nachdem man ihn einmal durchgelesen hat, komplett auseinandergefallen ist. Der Buchbinder hatte hier in der Tat den geringsten Anteil an der Synthese.

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