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Titel
Curiositas. Welterfahrung und ästhetische Neugierde in Mittelalter und früher Neuzeit


Herausgeber
Krüger, Klaus
Reihe
Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 15
Erschienen
Göttingen 2002: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
180 S.
Preis
€ 17,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franz Mauelshagen, Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie, Universität Bielefeld

Der Sammelband vereinigt Beiträge des 15. "Göttinger Gesprächs zur Geschichtswissenschaft" vom 13. April 2000. Zwei Kunsthistoriker, zwei Literaturwissenschaftler und eine Wissenschaftshistorikerin haben hier miteinander über curiositas diskutiert und legen die Ergebnisse nun in gedruckter Form vor. Entstanden ist eines jener ansprechenden Bändchen, die stets aus diesen vom Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen regelmäßig ausgerichteten Anlässen hervorgehen. Schon durch die beteiligten Disziplinen findet man mehr als nur Anmerkungen zu Hans Blumenberg 1. Die Lektüre lohnt nicht zuletzt deshalb, weil sie zum Weiterfragen und zu kritischer Auseinandersetzung herausfordert.

In seiner kurzen Einleitung umreißt Klaus Krüger die ästhetische Neugierde in Anknüpfung an Augustins concupiscentia oculorum (Begehrlichkeit der Augen) und verknüpft die Thematik mit dem Konzept der Erfahrung, wie es Jan-Dirk Müller bereits Anfang der achtziger Jahre getan hat. In dieser Ausweitung geht es um semantische Umbesetzungen der curiositas in den Wissenschaften und Künsten.

Im Bereich der concupiscentia oculorum ist die Bilderfrage angesiedelt, die der Kunsthistoriker Jeffrey Hamburger (Harvard) beleuchtet. Der Beitrag mit dem Titel Idol Curiosity konzentriert sich weitgehend auf das Hoch- und auf das frühe Spätmittelalter, ergänzt um einen Ausblick auf die Reformation. Eine der wichtigsten Rechtfertigungen bildlicher Darstellungen im Mittelalter bietet die natürliche Theologie. Sie begründet ein Verweissystem zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, der erschaffenen Welt in ihrer unendlichen Vielfalt und ihrem Schöpfergott. Insbesondere Vertreter der Schule von St. Viktor, allen voran Richard von St. Victor, verstehen Gotteserkenntnis als spekulativen Aufstieg vom Sichtbaren zum Unsichtbaren (vgl. S. 40). Die künstlerische Repräsentation des Sichtbaren knüpft daran an, rechtfertigt sich als Visualisierung der invisibilia, als Nachschöpfung oder gleichsam als Schöpfung zweiter Ordnung. Ein wichtiges Argument, das den entscheidenden Unterschied zum strikten Bilderverbot des Judentums markiert, ist der inkarnierte Christus. Gott hat damit, so könnte man sagen, selbst ein (Ab-)Bild von sich gegeben. Einen der wichtigsten Bezugspunkte für die natürliche Theologie bietet eine Stelle aus dem Paulusbrief an die Römer (Röm. 1,20). Hamburger bringt die von ihm zitierten Autoren und Autorinnen ebenso wie schließlich Luther in eine Diskussion um die Auslegung dieser wie einiger damit in Verbindung gebrachter Bibelstellen (Weish S. 13,19-16) und bietet den Anfang einer Rezeptionsgeschichte der Römerbriefstelle (vgl. S. 37). Dies ist das Neue. Die damit zu gewinnenden Einblicke in mittelalterliche Kontroversen betreffen nicht nur das "materielle", sondern auch das imaginäre Bild der Visionen, wie am Beispiel Gertrudes von Helfta (1256-1301/02) deutlich wird. Die Bildbeispiele fügen sich in diesen Kontext ein und offenbaren einige beachtliche Beobachtungen.

Am Ende seines Beitrags greift Hamburger die Frage nach dem Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit auf und erörtert die Alternative, ihn als "linguistic" oder "iconic turn" zu charakterisieren. "To answer that, at least as far as sacred art was concerned, the Reformation championed the word over the image would hardly be a novel suggestion and banal to boot." (S. 55) Vielleicht wäre die Antwort aber nicht nur banal, sondern irreführend, weil der christliche Westen schon in der Auseinandersetzung mit der Ostkirche beanspruchte, den Vorrang des Worts vor dem Bild behauptet zu haben. Angesichts mittelalterlicher Bilderkritik droht das Novum reformatorischer Bildkritik zu verschwinden, wenn man ihren historischen Bezugspunkt, die spätmittelalterliche Bildfrömmigkeit, nicht einbezieht. Statt einer Antwort auf die Alternative zwischen "linguistic" und "iconic turn" zeigt Hamburger schließlich, wie Luther in seiner Auslegung von Röm. 1,20 das spekulative Band zwischen Schöpfer und Schöpfung, Sichtbarem und Unsichtbarem zerschneidet, mit der Pointe: "Henceforth, curiosity need no longer be considered an idle distraction or an invitation to idol worship. Idolatry gives way to industry and to the celebration of artistic endeavor." (S. 58) Das klingt beinahe so, als ob Luther den ausgelassenen Kunstgenuss erfunden hätte. Blumenberg dagegen hat auf die Kunsttheorie der Renaissance mit ihrem Anschluss an die aristotelische Imitatiopoetik verwiesen und behauptet, dass diese Strategie - eine Verlegenheitslösung im Angesicht einer übermächtigen Tradition - dem "Renaissancegestus der Rebellion" nicht widersprochen habe, sondern mit ihm zusammgehöre 2. Künstlerische Naturimitation bleibt demnach weiterhin als Nachschöpfung legitimierbar.

Der Beitrag von Christian Kiening (Ordnung der Fremde. Brasilien und die theoretische Neugierde im 16. Jahrhundert) befasst sich in der Hauptsache mit den drei großen, fast zeitgleichen Brasilienreisebeschreibungen von Hans Staden (1557), André Thevet (1557/58) und Jean de Léry (1578). Kiening weist darauf hin, dass in diesen wie in anderen Reisebeschreibungen die Erfahrung als Berufungsinstanz Teil einer Rhetorik der Glaubwürdigkeit ist (S. 67) und somit als "Argument in einem Diskurszusammenhang" aufzufassen sei (S. 106). Die Anbindung der Reiseliteratur an die curiositas-Thematik wird nicht durch die Quellensprache hergestellt, sondern konstruiert. Das ist durchaus legitim, aber Kienings Versuch, Anschluss an die Debatte zur theoretischen Neugierde zu finden, scheitert. An entscheidender Stelle konstatiert er zunächst, das Interesse der in verschiedenen Reisebeschreibungen unternommenen Versuche, Ordnung in die Fremde zu bringen, sei "zweifelsohne ein eher vortheoretisches, als eigentlich ein theoretisches. Es gilt nicht in systematischer Weise der Position, die die Neue Welt im System der Alten einzunehmen hätte, oder den Prinzipien der Ordnung des Wissens." (S. 83) Gleichwohl unternimmt Kiening einen Versuch, den Theoriebezug zu retten: "Versteht man jedoch theoria nicht im Sinne einer geschlossenen, logisch kohärenten Metasprachlichkeit, sondern auch im Sinne einer immerhin punktuellen Reflexion des (proto-)ethnographischen Tuns, so manifestiert sich hier durchaus eine ‚archaische' Form theoretischer Neugierde." (ebd.) Die Formulierung signalisiert und erzeugt Unsicherheit, der Klärungsbedarf überwiegt die Klärung: Es ist schon nicht selbstverständlich, Theorie als "logisch kohärente Metasprachlichkeit" aufzufassen (wenn auch nur als Abgrenzungsbegriff). Und dann: Welche archaische Form theoretischer Neugierde ist gemeint? Käme etwa Herodots Ägypten-Logos als Beispiel für die Reflexion ethnographischen Tuns in Frage?

Was Kiening hier umständlich zur theoria erklärt, meint letztlich nur eine "reflektierende Betrachtung", wie er selbst schließlich sagt (S. 109). Aber mit einem so großzügigen Verständnis von Theorie endet die Absicht, Anschluss an die Debatte zur theoretischen Neugierde zu finden, im Unterbestimmten. Nur undeutlich erkennbar ist auch Kienings Position im Alteritätsdiskurs der Gegenwart. Was bedeutet die Feststellung: "Der Rückgriff auf das Bekannte sucht das Unbekannte zu domestizieren" (S. 71)? Läßt sich der Rückgriff auf Bekanntes im Angesicht des Fremden hermeneutisch überhaupt vermeiden? Wenn ja, wie sieht diese Alternative aus? Wenn nein, wo fängt dann die Domestikation an? Das Fremde ist per se eine perspektivische Kategorie und hat schon damit das Eigene (die eigene Kultur und Lebenswelt) zur Interpretationsfolie.

Niklaus Largier (Rhetorik der Erfahrung. Kynische und theoretische Neugierde in der Frühen Neuzeit) knüpft an seine Studien zu dem Kyniker Diogenes von Sinope als vielfach topisch besetzter und umbesetzter Figur des abendländischen Denkens an und ergänzt sie um ein weiteres Kapitel 3. Von Diogenes und Paracelsus her beleuchtet er Giordano Brunos eigenwilliges und bilderreiches Erfahrungsdenken. Bruno steht im Zentrum. Er selbst nennt Diogenes und Paracelsus gleichsam als Exempel für sein Selbstverständnis. Was die drei Figuren miteinander verbindet ist ihre weltläufige Heimatlosigkeit als eine Art Offenheit für die Vielfalt des Seienden. Dabei betont Bruno die unüberschreitbare Bildhaftigkeit und Sinnlichkeit menschlichen Denkens. Largiers Ausführungen sind als Beitrag zur Welterfahrung zu lesen, werden aber auch nur dadurch - gleichsam durch den Untertitel des Sammelbandes - thematisch "eingefangen". Der Bezug zur Neugierde bleibt blaß, was Largier gegen Ende selbst einräumt: "Theoretische Neugier, wenn wir von einer solchen hier sprechen wollen, legitimiert sich so weniger in einer Theorie als in einer Poetik der Erfahrung, die Bruno in seiner Verschränkung philosophischer Allegorien gleichzeitig zu verteidigen und möglich zu machen sucht." (S. 144) Das könnte man mit Brunos eigenen Worten aus seiner Explicatio triginta sigillorum von 1583 unterstreichen: "Philosophi sunt quodammodo pictores atque poetae/ non est enim philosophus, nisi qui fingit et pingit."

Kein anderer Beitrag des Sammelbandes verhält sich so unmittelbar zur curiositas-Thematik wie derjenige von Lorraine Daston (Die Lust an der Neugier in der frühneuzeitlichen Wissenschaft). Sie teilt die Skepsis Krzysztof Pomians und anderer an Blumenbergs Großentwurf von der Antike bis zur Moderne. Es fehlt ihr darin vor allem am Bezug zu den jeweiligen Objekten des "Willens zum Wissen" (S. 152). Unter Einbeziehung dieses Gesichtspunktes forscht sie dem "Auftauchen und Verschwinden einer bestimmten Sensibilität für das Fragen und Forschen" (S. 154) nach, einer spezifischen Verknüpfung von Staunen und curiositas, die typisch sei für das 17. Jahrhundert, keinen Vorläufer und keinen Nachfolger habe. So die These. Daston entdeckt hier dem Leser eine Umbesetzung der "Leidenschaften des Erkennens" (S. 155) in ihrer Kombinatorik, eine eigene, oft auch eigenwillige "Psychologie" des Forschens. Was sie bei Isaac Newton, Robert Hooke, in den Philosophical Transactions und anderen Zeugnissen und Selbstzeugnissen des 17. Jahrhunderts aufgespürt hat, ist eine wissenschaftliche Aufmerksamkeit, die beim Staunen anfängt und von der Neugierde gefesselt wird (S. 163). Die Aufwertung von Staunen und Neugierde gegenüber Jahrhunderten der Geringschätzung oder Verdammung sei u.a. auf das naturphilosophische Interesse an Wundern und Geheimnissen als Objekten des Erkennens zurückzuführen. Die Kombination von Staunen und Neugierde entsprang der Aufmerksamkeit auf Besonderes statt auf die Universalia des Aristotelismus. Das Baconsche Programm forderte eine "neue Ökonomie der Aufmerksamkeit und ein Umlernen der Sinne" (S. 162). Das führte zur Neuordnung im Gefühlshaushalt: Das Staunen löste sich aus der traditionellen Nähe zur Angst und näherte sich dem Entzücken (S. 166), während die Neugierde nicht mehr eine kurzweilige und lästig-ablenkende Lust war wie bei Augustinus, sondern eher einer "(Hab)Gier" glich, die sich dauerhaft an ihren Gegenständen festbiss. "Eine der Qualen des Tantalus ist der ungestillte körperliche Appetit, für Hobbes dagegen fließt die größte Lust aus ungesättigter Neugierde." (S. 168) Staunen und Neugierde bildeten eine - in dieser Reihenfolge - zeitlich gestaffelte, auf Ausdauer gerichtete Motivationslage, die die Erforschung des Besonderen begünstigte. Staunen war die "Zündschnur [...], um Neugierde zu entfachen" (S. 175). Diese für das 17. Jahrhundert typische wissenschaftliche Leidenschaft stieß jedoch auf moralische Kritik und wurde als Skurrilität "verirrter" Forscher, die über der Faszination für Details ihre familiären und staatlichen Verpflichtungen vergessen (ein Topos der curiositas-Kritik), verspottet. Das trug wieder zur Trennung von Staunen und Neugierde und zur neuerlichen Umordnung wissenschaftlicher Sensibilität um die Wende zum 18. Jahrhundert bei, mit dem Ergebnis, daß das Staunen jetzt allenfalls der Neugierde folgte und in der Bewunderung des Schöpfergottes gebündelt wurde (typisch für die Physikotheologie). Es "wurde zur Belohnung der Neugierde, es war nicht länger Anreiz. Und die Neugierde wurde ruhiger." (S. 174)

Am Ende fällt es schwer, einen gemeinsamen Nenner der Beiträge ausfindig zu machen. Der Aufsatz von Jeffrey Hamburger lässt sich am ehesten dem Problem der ästhetischen Neugier zuordnen, während Lorraine Daston in einer Art sensibilitätsgeschichtlichen Untersuchung eher der Ästhetik der Neugierde als der ästhetischen Neugierde nachgeht. Vage bleiben die Bezüge zur curiositas-Thematik bei Christian Kiening und Niklaus Largier. Mag die inhaltliche wie fachliche Vielfalt der Beiträge somit letztlich nur locker zusammengehalten werden, muss doch betont werden, dass die Lektüre aller Beiträge empfohlen werden kann.

Anmerkungen:
1 Der Prozess der theoretischen Neugierde, Frankfurt am Main 1984.
2 Blumenberg, Hans, Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen (1957), in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt am Main 2001, S. 9-46.
3 Vgl. Largier, Niklaus, Diogenes der Kyniker. Exempel, Erzählung, Geschichte in Mittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen 1997.

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