A. Takeda: Ästhetik der Selbstzerstörung

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Titel
Ästhetik der Selbstzerstörung. Selbstmordattentäter in der abendländischen Literatur


Autor(en)
Takeda, Arata
Erschienen
Paderborn 2010: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
314 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hüseyin I. Cicek, Cluster für Anthropologie und Gewalt, Universität Innsbruck

Altruistisch motivierte Selbstmordattentate sind ein universelles Phänomen. Anders gesagt: das Selbstmordattentat ist kein Vorrecht einer Religion, Kultur oder Ethnie. Vielmehr müssen wir uns den Kontext und die genauen Beweg- bzw. Hintergründe der Täter vor Augen führen, sowie uns davor wappnen leichtfertige bzw. simple Erklärungsmodelle zu akzeptieren. Die Literatur zum Selbstmordattentat ist kaum noch überschaubar. Über die Attraktivität des Themas muss nicht viel gesagt werden, jedoch über die Theorien sowie Auslegungen, weshalb sich Menschen bereit erklären, für die eigene Gruppe ihr Leben vorzeitig zu beenden und willentlich Menschen, die nicht der eigenen Gemeinschaft angehören, in den Tod reißen. Arata Takeda untersucht in seinem Buch „Ästhetik der Selbstzerstörung“ das Phänomen anhand der abendländischen Literatur und zeigt, dass das Selbstmordattentat nicht nur mit der islamistischen Bedrohung in Verbindung gebracht werden darf. Vielmehr will er aufzeigen, dass das Phänomen auch in den fundamentalen Texten abendländischer Literatur und somit in seiner Geschichte einen spezifischen Platz einnimmt. Zu Recht lautet die Kernfrage des Buches, ob die im Westen geführten Diskussionen über das Selbstmordattentat, vor allem seit 9/11, der Sache überhaupt gerecht werden (S. 45). Ein Blick auf die Publikationen, die sich mit dem Thema Selbstmordattentat auseinandersetzen, zeigt, dass immer wieder versucht wird, eine künstliche Verbindung zwischen historischen und gegenwärtigen Gruppierungen herzustellen, die sich der Taktik bedient haben bzw. es noch tun. Die zentrale These des Buches lautet: „Das Zustandekommen eines Selbstmordattentats ist weder ethnisch noch kulturell, weder ideologisch noch religiös, sondern allein durch die Asymmetrie der ökonomisch-politischen Konstellation bedingt.“ (S. 26)

Zuerst jedoch wollen wir uns dem Untersuchungsgegenstand bzw. Textkorpus, der Begriffsbestimmungen und der Methode widmen. Der Fokus konzentriert sich, wie bereits erwähnt, auf das Phänomen des Selbstmordattentats. Anhand von ausgewählten Texten „Sophokles’ Aias; John Miltons Samson Agonistes; Friedrich Schillers Die Räuber; und Albert Camus’ Les Justes“ will Takeda sich der Komplexität und der fundamentalen Bedeutung des Phänomens für die abendländische Literatur nähern. Zu beachten gilt, dass sich die Beweggründe der Protagonisten voneinander unterscheiden. Trotzdem gibt es viele Berührungspunkte zwischen ihnen und ihren Argumentationen. Somit ermöglicht die komparatistische Vorgehensweise von Takeda dem Leser die Analogien und Differenzen besser zu verstehen und gleichzeitig ermöglicht sie, die von ihm aufgestellte These über das Selbstmordattentat zu überprüfen. Ebenso macht Takeda darauf aufmerksam, dass in den Geisteswissenschaften keine allgemein anerkannte Definition des Begriffs Terrorismus vorliegt. Deswegen übernimmt Takeda die von Charles Townshends verwendete Begriffsbestimmung, dass systematische Gewalt gegen Zivilisten bzw. „undifferenzierte Zerstörung“ als terroristisch definiert werden muss (S. 32). Abgesehen davon macht Takeda darauf aufmerksam, dass terroristische Akte außerdem als „suizidoagonal“ und „suizidterroristisch“ betrachtet werden müssen. Suizidoagonal bezeichnet einen präzisen Angriff auf eine oder mehrere Zielpersonen und suizidterroristisch willkürliche Tötungen, die den Staat zu einer Panik- bzw. Überreaktion verleiten und unter der Bevölkerung eine Stimmung der Angst und Unsicherheit hervorrufen sollen.

Das Buch ist in sechs Haupt- und mehrere Unterkapitel gegliedert. An dieser Stelle wollen wir uns der Geschichte Samsons zuwenden und die Einsichten Takedas näher betrachten. Dies aus drei Gründen: Erstens zumal auch die aktuelle Debatte um das Phänomen des Selbstmordattentats hauptsächlich die religiösen Täter und ihre Beweggründe in den Fokus stellt und – zweitens – immer wieder die abrahamitischen Religionen gewalttätiger als die Nicht-abrahamitische Religionen dargestellt werden, sowie – drittens – weil auch „religiöse“ Selbstmordattentäter viele weltliche Gründe anführen, welche sie zu ihrer Tat inspirieren. Ebenso gilt es festzuhalten, wie Takeda in seinem Buch immer wieder aufzeigt, dass auch säkulare bzw. nicht-religiöse Selbstmordattentäter aufgrund von quasi-religiösen Ansprüchen ihre Tat legitimieren. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Tamil Tigers, die zu den „Pionieren“ des Selbstmordattentats im letzten Jahrhundert zählen.

Besonders anschaulich zeigt Takeda die Diskrepanz zwischen der biblischen Erzählung und Miltons Drama auf. So kann er dem Leser deutlich machen, dass ein Ereignis nicht wie es stattfand wiedergegeben wird, sondern sich mehr und mehr von der biblischen Vorlage entfernt. Bereits in der alttestamentlichen Geschichte wird die Verkündigung nur ansatzweise bzw. sehr verkürzt von der Mutter an den Vater des Protagonisten weitergegeben. Milton ändert die Geschichte und übernimmt nur die Passagen aus dem Alten Testament, die seine Erzählung besonders attraktiv erscheinen lassen. Beispielsweise weiß Simson in der alttestamentlichen Geschichte nichts über sein Schicksal und Jahwes Einfluss auf dessen Leben. Miltons Simson ist sich ganz im Klaren über sein Sendungsbewusstsein und die Rolle, die er im Plan des Allmächtigen einnimmt. Schnell wird klar, dass die Erzählung bzw. Erzählungen unter dem Druck aktueller gesellschaftspolitischer, sozialer und wirtschaftlicher Herausforderungen in Einklang gebracht werden (müssen) – eine Lesart, die nicht nur von islamistischen Terroristen zur Rekrutierung neuer Mitglieder eingesetzt wird.

Etwas verwirrend werden Takedas Analysen im Zusammenhang mit dem Martyrium bzw. Märtyrern und Selbstmordattentätern, vor allem weil sich Takeda im Kontext des christlichen Märtyrers auf Augustinus stützt und neuere Forschungen zum Thema „christliches Martyrium“ nur am Rande erwähnt. Dass sich Augustinus in seiner Theologie selbst widerspricht, ist bekannt, und sein thematischer Zugang zum Martyrium ist auch unter Theologen umstritten. Ähnlich werden im Zusammenhang mit der Tradition des „Kiddush Hashem“ und der muslimischen Märtyrertradition wesentliche Punkte nur angedeutet. Für beide Traditionen gilt es festzuhalten, dass nicht nur führende Theologen, sondern auch Führer der jeweiligen Religionen ihre Mitglieder vor der Komplexität des Martyriums warnten. Der Prophet Muhammad warnt in vielen Hadithen seine Glaubensbrüder, dass das Martyrium eine Gnade Gottes ist und das ein gewaltsamer Tod auf einem Schlachtfeld keine Voraussetzung dafür ist.1 Vor allem anthropologische Zugänge zum Phänomen sind ein explizites Thema in der Bibel, Tora und dem Koran sowie anderen wichtigen religiösen Textgattungen, die zum besseren Verständnis beitragen sollen, und wurden bzw. werden von geistlichen (unter anderem von Priester, Theologen, aber auch von Philosophen etc.) immer wieder in den Vordergrund gerückt. Eine Gefahr bzw. Versuchung, überspitzt formuliert, die jeden Menschen willentlich zur Aufgabe seines Lebens verleiten kann und von Fjodor M. Dostojewski am besten zu Wort gebracht wurde ist, dass der Mensch nach Anerkennung und Ruhm lechzt. „In diesem Fall kann es dahin kommen, dass man sogar das Leben opfern will, wenn es nur nicht lange dauert, sondern möglichst rasch, wie auf der Bühne, vor sich geht, und von allen gesehen und gelobt wird.“2

Das Buch bietet dem Leser die Möglichkeit die Analogien und Differenzen zwischen den einzelnen Narrationen und Geschichten zu erkennen. Takeda zeigt einmal mehr, dass das Phänomen schwierig zu fassen ist und dass weitere interdisziplinäre Auseinandersetzungen damit notwendig sind. Dies stellt Takeda unmissverständlich zu Beginn und zum Schluss seines Buches heraus: „Die in der vorliegenden Arbeit präsentierten Ergebnisse verstehen sich als Zwischenergebnisse. […] Sie bilden insofern die ersten Anstöße für ein ‚offenes‘ Projekt, das durch interdisziplinäre Dialoge weiter vorangetrieben werden sollte.“

Anmerkungen:
1 Für die muslimische Auseinandersetzung vgl. Michael Bonner, Jihad in Islamic History, Princeton 2006; vgl. Richard Bonney, Jihad. From Qur’an to Bin Laden, New York 2004. Für die jüdische bzw. rabbinische Tradition vgl. Glen Bowersock, Martyrdom and Rome, Cambridge 2002; vgl. Daniel Boyarin, Dying for God, Stanford 1999.
2 Fjodor M. Dostojewski, Die Brüder Karamasow, aus dem Russischen von Swetlana Geier, Zürich 2003, S. 96.

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