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Titel
Die Kathedrale von Worcester.


Autor(en)
Engel, Ute
Reihe
Kunstwissenschaftliche Studien, 88
Erschienen
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 75,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin Hitzbleck, Fachbereich Geschichte, Universität Köln

Mit der Mainzer Dissertation von Ute Engel liegt nun eine kunstgeschichtliche Monographie von umfassendem wissenschaftlichem Anspruch über die Kathedrale von Worcester vor. Dies ist umso erfreulicher, als Einzelstudien über englische Kirchbauten in deutscher Sprache nach wie vor dünn gesät sind. Ziel der Arbeit Ute Engels ist es, neben einem Überblick über die Baugeschichte und einer Würdigung des Bauwerks auch jenseits der unmittelbaren kunsthistorischen Thematik „Fragen der Nutzungen und Funktionen der Kathedrale von Worcester im Mittelalter“ (S. 10) nachzugehen. In die nicht nur kunstgeschichtliche Perspektive der Autorin fallen so auch Fragen nach dem historischen Kontext des Bauwerks, seinen Bauherren, Förderern, Architekten.

Ute Engel ordnet die Kathedralkirche von Worcester zunächst in ihren historischen und geographischen Kontext ein und beschreibt Kirche, Dombezirk und Domkloster in ihrem unmittelbaren Umfeld. Die Ausführungen sind knapp gehalten und vor allem der Sekundärliteratur entnommen, werden aber so ihrem Ziel, der Einführung des Lesers und der Mitteilung von Bekanntem, gerecht. Es folgt ein Überblick über die Restaurierungsgeschichte des Doms von Worcester. Diese zunächst erstaunlich scheinende Gliederung ist nur vernünftig, bedenkt man, dass das heutige Aussehen der Kirche stark durch die Modifikationen der nachmittelalterlichen Jahrhunderte geprägt ist. Die Zerstörungen, die die Reformation unter Heinrich VIII. sowie Bürgerkrieg und Commonwealth bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts an der Bausubstanz der Kathedrale angerichtet haben, werden ebenso nachvollzogen wie die Geschichte der Restaurierungs- und Reparaturarbeiten bis in die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein, die das Aussehen der Kathedrale noch einmal stark verändern sollten. Es wird deutlich, welch profunde Quellenkenntnis auch der neuzeitlichen Restaurationsberichte sich Ute Engel hat aneignen können. Durch den Vergleich von schriftlichen Zeugnissen und baulichem Befund gelingt ihr ein Beitrag zur Ehrenrettung vor allem der viktorianischen Restauratoren: „Die Restauratoren griffen tief in die Baustruktur der Kathedrale ein und zerstörten dabei viel mittelalterliche und nachmittelalterliche Substanz. Dennoch kann man schlussfolgern, dass sie nicht skrupellos vorgingen. Das alte Mauerwerk hatte einen so großen Wert für sie, dass sie es, wo es möglich war, zu erhalten oder wiederzuverwenden trachteten.“ (S. 47)

Das zentrale Kapitel der Arbeit ist der mittelalterlichen Baugeschichte und der kunstgeschichtlichen Bedeutung der Kathedrale gewidmet. Nach einer kurzen Würdigung der zerstörten angelsächsischen Vorgängerbauten der heutigen Kathedrale wendet Ute Engel sich zunächst der romanischen Kirche zu, die vor allem in der Krypta noch erhalten ist. Doch aus den Befunden der gotischen Kathedrale und dem Vergleich mit erhaltenen romanischen Bauten vermag sie ein recht plastisches Bild des romanischen Kirchbaus zu zeichnen. Zudem gelingt es ihr, in diesem ersten großen Bauprojekt nach der normannischen Eroberung in den West Midlands, Dekorationsformen im „bis zur dieser Zeit üblichen Kanon anglo-normannischer Architektur“ (S. 76) nachzuweisen, die auf angelsächsische Ursprünge zurückgeführt werden können. Auf ihren kunsthistorischen Befund aufbauend, kann Ute Engel zeigen, dass die angelsächsischen, somit traditionalistischen Bauformen ihre Begründung in der alten, angelsächsischen Liturgie finden: „Die romanischen Neubauten derjenigen Kathedralen [...], in denen die Mönche auch nach der normannischen Eroberung an der alten Liturgie festhielten [...], wurden von ihren Bauherren offenbar sehr bewusst so gestaltet, dass die traditionellen Abläufe weiterhin problemlos ausgeführt werden konnten.“ (S. 79)

Sodann wendet sich Ute Engel der in der Datierung umstrittenen frühgotischen Westfront der Kathedrale von Worcester zu und kann einen bedeutenden Beitrag zur kunsthistorischen Einordnung nicht nur des Doms selbst, sondern auch zur englischen Architekturgeschichte überhaupt leisten. Mit der Identifizierung eines in den schriftlichen Quellen für das Jahr 1175 dokumentierten Turmeinsturzes in Worcester als Zusammenbruch der Westfassade der romanischen Kirche, vermag sie den Beginn der Frühgotik in England festzulegen. Weitere Ausführungen befassen sich mit den zu diesem Zeitpunkt ebenfalls erneuerten Westjochen der Kirche sowie dem Umbau des Westquerhauses nach den Bränden der Jahre 1189 und 1202. Dabei kann Ute Engel die tiefe Verankerung der Bauformen in der romanischen Tradition festmachen, der zwar einzelne Elemente der französischen Frühgotik beigefügt wurden, die aber „in die starken Traditionen des anglo-normannischen Bauens“ (S. 110) integriert wurden. Eine unmittelbare Beeinflussung durch französische Vorbilder indes besteht nicht. Nicht nur für die Kathedrale von Worcester vielversprechend und bezeichnend für die weite Perspektive der Autorin ist Engels Vorschlag, den Einfluss französischer Bauformen nicht nur über exponierte Einzelpersonen wie Bischöfe oder Könige, sondern auch durch Gebetsbruderschaften, so des Domklosters von Worcester mit kontinentalen Institutionen, etwa dem Kloster St. Remi in Reims, zu erklären.

Die Choranlage der Kathedrale von Worcester aus dem 13. Jahrhundert ist der erste im Baustil des sogenannten Early English errichtete Teil der Domkirche. In ihrer Untersuchung kann Ute Engel zeigen, dass in der Ostanlage des Doms „in einmaliger Weise verschiedene Stilrichtungen des Early English zu einer neuen Einheit verschmolzen wurden“ (S. 160), wobei den Kathedralen von Lincoln und Salisbury eine besondere Vorbildfunktion zugesprochen werden kann. Zudem kann die Verbindung zu königlichen Bauhütten nachgewiesen werden, wie auch nicht zuletzt durch die Grabanlage König Johanns Ohneland in der Kathedrale eine Anbindung an das englische Königshaus erfolgte und durch Heinrich III. besonders gefördert wurde. Die Würdigung der Bauarbeiten des 14. Jahrhunderts, die noch einmal maßgeblich zum heutigen Aussehen der Kathedrale beitrugen, macht deutlich, dass hier die Bauformen bewusst denen der älteren Teile der Kathedrale angeglichen wurden, um eine stilistische Einheitlichkeit des Bauwerks zu erreichen. Die Auswertung der Quellen über Bauherren und Baufinanzierung erbringt darüber hinaus den Erweis, dass große Teile der Kathedrale in einer Zeit der finanziellen Enge erbaut wurden, was eine Erklärung nicht nur für die vergleichsweise günstigeren Baumaterialien, sondern auch für den im Vergleich zu den älteren Teilen schlichten Charakter der Architektur bietet. Ute Engel kann durch ihre genaue Beschreibung der architektonischen Phänomene und durch die Verbindung mit ihrer hervorragenden Kenntnis auch der schriftlichen Quellen immer wieder Ergebnisse präsentieren, die über die Erwartungen an eine kunstgeschichtliche Arbeit hinausweisen.

Der letzte Teil der Arbeit befasst sich mit der liturgischen Nutzung und Einrichtung der Kathedrale. Wichtig ist Ute Engel die Verehrung der beiden bedeutenden Heiligen Oswald und Wulfstan in der Kathedrale von Worcester. Wiederum vermag die Autorin vor allem durch genaue Quellenanalyse und den Vergleich mit anderen Kirchbauten, hier vor allem der Kathedrale von York, die Stelle zu rekonstruieren, an der die Grabmäler der Heiligen bis zur Reformation aufgestellt waren. Vor dem Hintergrund des liturgischen Konzeptes der Kathedrale würdigt Ute Engel auch die Ausgestaltung der Grabanlage König Johanns Ohneland, auf die auch ein Teil der Bauplastik in der Choranlage bezogen ist.

Die Monographie wird ergänzt durch Edition und Kommentar von drei zentralen Quellentexten zur Bau- und Restaurierungsgeschichte der Kathedrale von Worcester: der „Aedificiorum Chronologia“ aus der Handschrift WCCL, A 12, sodann einem Auszug aus den Notizbüchern des englischen Altertumsforschers Thomas Baker „Some Memorials to the Cathedral Church of Worcester“ und einer Urkunde des Erzbischofs von Canterbury, Robert Winchelsey, aus dem Jahre 1302 „Super remocione monumenti facti pro sepultura G. episcopi Wygorniensis juxta feretrum beati Oswaldi“, die aber einer älteren Edition entnommen ist. Des Weiteren umfasst das Werk ein umfangreiches Literatur- und Quellenverzeichnis sowie 25 Pläne und 220 Schwarzweiß-Abbildungen. Leider sind bei der Nummerierung und der Einrichtung der Verweise zwischen Text und Bild im Lektorat einige bedauerliche Fehler unterlaufen, die den ansonsten nicht nur inhaltlich hochwertigen Eindruck des Werkes ein wenig trüben (siehe z.B. den Verweis auf Abb. 653 auf S. 219).

Ute Engel demonstriert in ihrer Arbeit, dass die Architektur der Kathedrale von Worcester nie reiner Selbstzweck gewesen, sondern immer durch die liturgischen Erfordernisse sowie den historischen Kontext beeinflusst und erklärbar ist. Nicht zuletzt durch die Präzision der Beschreibung, die Synthese aus akribischer Kenntnis und Auswertung der schriftlichen wie der steinernen Zeugnisse sowie der Weite des Blicks schafft die Arbeit ein solides Fundament und Anregung für weitere, nicht nur kunsthistorische Beschäftigung mit der Kathedrale von Worcester.

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