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Titel
Sternstunden der Theologie. Schlüsselerlebnisse christlicher Denker von Paulus bis heute


Autor(en)
Christophersen, Alf
Erschienen
München 2011: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 12,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Wolfes, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Freie Universität Berlin

Zur Vorstellung seines Buches Anfang Dezember 2011 im Münchener Literaturhaus hatte der Autor den früheren Oberbürgermeister der Stadt, Bundesminister und SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel als Gesprächspartner eingeladen. Vogel repräsentiert einen offenen Geist, verankert im christlichen Glauben, und zugleich verkörpert er eine längerfristige historische Perspektive. Insofern war die Wahl sinnvoll und dem Buch angemessen. Denn Christophersen möchte mit den „Sternstunden der Theologie“ die großen Bewegungen der ereignisreichen Geschichte des christlichen Denkens auf eine besondere Weise erschließen. Es soll durchgehend der kulturelle Kontext hervortreten und mit ihm der politisch-gesellschaftliche Gehalt, der alle professionelle Glaubensdeutung mitträgt. Das ist oft unterschwellig der Fall und auf den ersten Blick nicht leicht zu erkennen, doch nur eine solche integrierte Wahrnehmung, in der die religiös-theologische Denkarbeit und die historisch-politische Ausrichtung in eins gehen, lässt die kulturgeschichtliche Prägekraft des Christentums sichtbar werden.

Man braucht, um Christophersen bei seiner Prämisse folgen zu können, nicht unbedingt gleich zu einem derart spektakulären Vorkommnis zurückzugehen wie Luthers Wittenberger Thesenanschlag, obwohl gerade dieses Ereignis paradigmatischen Charakter hat. Vielmehr zeigt sich die Mehrdimensionalität (und Medialität) von Theologie auf allen Ebenen und zu allen Zeiten; sie ist ein Schlüssel zu einem tiefergehenden Verständnis der Geschichte des Christentums überhaupt. Die „Sternstunden“ sind ein Versuch, das christliche Denken als Teilerscheinung der abendländischen Kulturgeschichte zu verstehen, und zwar in seinen unterschiedlichen historischen Erscheinungen und durchaus auch gegensätzlichen Strebekräften.

So offen Christophersen dafür ist, elementare Sachverhalte in seine Darstellung einzubeziehen, so erwartet er doch eine gewisse Sensibilität für die spezifischen Schwierigkeiten, die sich generell beim Nachdenken über Glaubensvorstellungen einstellen. Das gilt sowohl für die Rekonstruktion fernerliegender Epochen wie auch für die großen Debatten des 20. Jahrhunderts. Theologie ist in sich ein voraussetzungsreiches Unternehmen, und sie bleibt es auch dann, wenn die Vorgaben und Regularien im Umgang mit Gottesvorstellungen und Frömmigkeitsphänomenen zum hauptsächlichen Inhalt werden. Auch die Reflexion über Aufgabe und Bestimmung der Theologie ist selbst schon Theologie. Das muss man sich vor allem dann klar machen, wenn man sich mit der neueren Diskussion beschäftigen möchte. Hier handelt es sich nicht um eine Methodisierung der Theologie oder ein Ausweichen auf abseitige hermeneutische Randprobleme, sondern um eine, gemessen an traditionelleren Formen der theologischen Argumentation, zwar eigenartige, dennoch sachgemäße Form von Theologie. Sie entspricht dem gegenwärtigen Umgang mit dem christlichen Glauben innerhalb eines dramatisch verwandelten kulturellen Bezugsrahmens und steht deshalb für einen Wandel im Christentum selbst. Etliche Passagen in Christophersens Buch schildern genau diesen bisweilen höchst kontroversen Transformationsprozess im theologischen Selbstverständnis als eine Folgeerscheinung von Umgestaltungen auf der Glaubensebene.

Der äußeren Form nach orientiert der Münchener Privatdozent für Systematische Theologie sich mit Grund am bewährten Modell des biographisch-werkgeschichtlichen Porträts. Doch handelt es sich nicht einfach um Zusammenfassungen dessen, was war, sondern darum, das bewegende Moment herauszuarbeiten, jene besondere Antriebskraft, die die jeweilige Person zu einem exponierten Akteur im Entwicklungsverlauf der christlichen Geschichte gemacht hat. Solche Momente nennt Christophersen „Schlüsselerlebnisse“. Dem Wortsinn nach müsste es sich dabei um Geschehnisse handeln, die im Leben des Erlebenden wie Schlüssel zu Türen sind, durch die neue, oft unerwartete Wege sich eröffnen, so wie dies seinerzeit bei dem Apostel Paulus gewesen sein soll, als ihm vor Damaskus der auferstandene Christus erschien, oder bei dem Kirchenvater Augustinus, zu dem eine Stimme „Tolle lege, tolle lege“ sprach, bei Martin Luthers „Turmerlebnis“, bei Pascals Visionserinnerung oder auch bei Martin Luther Kings großem Freiheitstraum. Sie alle haben ihren Ort in diesem Band. Im engeren Sinne versteht Christophersen seine Aufgabe dahin, die Theologiegeschichte zu „vergegenwärtigen“, sie über jene Schlüsselerlebnisse und „Sternstunden“ aufzuschließen. Er konzentriert sich deshalb auf solche Aspekte der Ereignis- und Problemgeschichte, in denen sich Fragen und Ängste, aber auch Programme und Hoffnungen von Generationen oder ganzen Epochen aussprechen. Auf eigene Weise, innerhalb seines geschichtlichen Kontextes, eröffnet so „jeder dieser Lebensläufe, jedes Jahrhundertwerk einen überraschenden Zugang zu den zentralen Fragen nach dem Sinn menschlichen Seins oder der Möglichkeit einer Existenz Gottes“.

Gegeben werden achtundzwanzig Einzelporträts im Umfang von jeweils wenigen Seiten. Die ausgewählten Personen sind solche, die nicht nur alle ihre Schlüsselerlebnisse gehabt, sondern es auch verstanden haben, „daraus eine Sternstunde zu formen“. Natürlich kann es sich bei solchen Vorgaben ausnahmslos um kreative Intellektuelle handeln. Dem Interesse an Vergegenwärtigung ist wohl auch die recht ungleiche Epochenverteilung geschuldet. Die frühchristliche und die patristische Zeit sind lediglich durch den Apostel Paulus, den Häretiker Marcion und die beiden theologischen Zentralgestalten Origenes und Augustinus vertreten. Christophersens Entscheidung, das paulinische „Damaskuserlebnis“ als frühestes Exemplar an den Beginn seiner Sammlung zu stellen, ist völlig sachgemäß. Das Mittelalter hat fünf Repräsentanten: Anselm von Canterbury, Hildegard von Bingen, Franz von Assisi, Thomas von Aquin und Nikolaus von Kues. Für die reformatorische und frühneuzeitliche Epoche stehen neben Luther und Calvin Paul Gerhardt, Blaise Pascal und der Graf Zinzendorf. Die Reihe der theologischen Heroen neuerer Zeit wird mit Herder und Schleiermacher eröffnet und führt über Ferdinand Christian Baur und Kierkegaard unmittelbar bis zu Harnack. Die Kontroversen und Entwicklungen des 20. Jahrhunderts repräsentieren Teilhard de Chardin, Bultmann, Guardini, Barth, Tillich, Rahner, Martin Luther King, Dorothee Sölle und Johannes Paul II.

An dieser Auswahl gibt es nichts herumzukritteln. Gerne hätte man natürlich auch einige Seiten aus Christophersens Feder etwa zu Bonhoeffer gelesen, und vom Gehalt seines Denkens her wäre sicher auch Hegel noch in den allerengsten Kreis der christlichen Ideenwelt aufzunehmen – in beiden Fällen liegt es ja auch nahe, was als Schlüsselerlebnis anzuführen wäre. Auch der große Anteil deutscher Theologen fällt auf. Aber das entscheidende ist: Im Verlauf der Schilderung entwirft Christophersen ein so facettenreiches und gedankenvolles Bild, dass die Prägnanz des Panoramas selbst von der einzelnen Gestalt nicht mehr abhängt. Die Art und Weise, wie etwa der reformatorische Konflikt um die freie Willensbestimmung entfaltet wird oder die Kämpfe, die die historisch-kritische Bibelwissenschaft zu bestehen hatte, aber auch die schweren Auseinandersetzungen, in die sein Lebensführungsideal Franz von Assisi verwickelte, wie auch die modernen Dispute um das römisch-katholische Amtsverständnis – sie alle sind so angelegt, dass über die historische Situierung im Einzelnen der paradigmatische Charakter für den problemgeschichtlichen Kontext jeweils klar heraustritt.

Im Ganzen ist das Buch ein gelungener Wurf. Es kann jedem empfohlen werden, der sich für die Geschichte des christlichen Denkens interessiert und eine Vorliebe für die personenorientierte Zugangsweise hat. Gerade auch in studentischer Hand oder etwa in den intellektuell anspruchsvolleren Zonen des kirchlichen Lebens wird das Buch gute Dienste tun. Die literarische Meisterschaft Alf Christophersens bewährt sich bei jedem einzelnen Porträt, so unterschiedlich die Personen und ihre Problemstellungen auch sind. Bisweilen wäre die Lektüre noch entspannter, wenn diese oder jene Nebeninformation beiseite gelassen worden wäre. Was aber die Präsentation der Themen und Fragestellungen, der Formate und Entwicklungsstufen des christlichen Gedankens betrifft, so urteilt Christophersen stets mit großer Sachkunde und Treffsicherheit.

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