Cover
Titel
Die DDR.


Autor(en)
Ihme-Tuchel, Beate
Reihe
Kontroversen um die Geschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
128 S.
Preis
€ 16,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Owzar, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Forschungsberichte sind wie Landkarten: Sie orientieren den Unkundigen, retten den Verirrten, und manchmal helfen sie sogar dem Erfahrenen, einen bislang unbekannten Pfad zu entdecken. Wer Forschungsberichte konsultiert, der spart unter Umständen viel Zeit: Denn idealiter erfassen und vermitteln sie die Komplexität historischer Sachverhalte, unterscheiden zwischen zentralem und peripherem Wissen, und - vielleicht ihre wichtigste Aufgabe - legen die Positionen von Autoren offen, die diese nur implizit zu vertreten bemüht sind. Forschungsberichte sind also von außerordentlichem Nutzen für jeden, der ein Ziel vor Augen hat und nur über begrenzte Zeit verfügt, sich aber mit einer Materie mehr als auf eine dilettantische Weise beschäftigen möchte: für Erstsemester wie für Examenskandidaten, für Lehrer wie für Dozenten. Die Textsorte hat nur einen Nachteil: Es gibt zu wenig davon. Die im Oldenbourg-Verlag erscheinenden Reihen, der Grundriß der Geschichte und die Enzyklopädie deutscher Geschichte 1, die in Fachzeitschriften unregelmäßig veröffentlichten Sammelrezensionen und die höchst selten in Buchform verfaßten Dokumentationen aktueller Kontroversen 2 erschließen weder sämtliche Forschungsfelder, noch sind sie stets auf dem neuesten Stand.

Schon deshalb ist es zu begrüßen, dass sich die Zeithistoriker Arnd Bauerkämper, Peter Steinbach und Edgar Wolfrum entschlossen haben, eine neue Reihe auf den Markt zu bringen. Die von ihnen herausgegebenen Kontroversen um die Geschichte wollen wissenschaftliche Auseinandersetzungen zu Kernthemen des Geschichtsstudiums aufbereiten und sie vor allem Studierenden durch einen „didaktischen und prüfungspraktischen Darstellungsstil“ vermitteln (S. VII). Für die DDR-Geschichte ist ein solcher Band insofern überfällig, als die letzte Auflage der einzigen vergleichbaren Publikation von 1999/2000 datiert 3.

Schließlich ist seit der Öffnung der ostdeutschen Archive der Markt mit Überblicksdarstellungen und Monographien, Lexika und Sammelbänden geradezu überschwemmt worden. Überdies konkurrieren zahlreiche Deutungsversuche miteinander, was sich in erbitterten Debatten nicht nur zwischen einzelnen Wissenschaftlern, sondern auch ganzen Instituten niedergeschlagen hat, worauf Ihme-Tuchel vor allem im letzten „‚Was bleibt?‘ - Perspektiven der Forschung“ überschriebenen Abschnitt eingeht (S. 101-105).

Diesem Ausblick gehen drei Teile voraus: Eine Einleitung, in der die Verfasserin nicht nur die Forschungsentwicklung skizziert, sondern auch ihre Vorannahmen offen legt (S. 1-6), ein weitgehend redundanter Überblick (S. 7-10) sowie der eigentliche Hauptteil des Buches, eine 90 Seiten lange Abhandlung ausgesuchter Forschungsprobleme, von denen vor allem die beiden letzten Kapitel hervorzuheben sind. Sie enthalten einen Überblick über die „Kontroversen um das Ende der DDR - Wende, Implosion, Revolution oder ‚Refolution‘?“ (S. 73-89) und den Abschnitt über „Interpretationen der DDR-Geschichte“, der sich sowohl den grundsätzlichen Typologisierungen des Herrschaftssystems („Die DDR als Diktatur“, S. 89-95) als auch den bislang unternommenen Versuchen einer historischen Komparatistik („Die DDR in vergleichender Perspektive“, S. 95-100) widmet. Die vier anderen Kapitel behandeln „Die Gründung der DDR“ (S. 11-22), den „17. Juni 1953 - ‚Aufstand‘ oder ‚Erhebung‘, Arbeiter oder Volk als Träger?“ (S. 22-42), den „Bau der Berliner Mauer - Vorgeschichte, Ablauf und Folgen“ (S. 42-62) sowie die Phase „Von Ulbricht zu Honecker - ‚Machtwechsel‘, Bruch, Kontinuität oder Wandel?“ (S. 62-73).

Gewiss: Nicht alle Felder, nicht alle Debatten, erst recht nicht alle Stadien der Forschung können in einem so relativ schmal angelegten Band berücksichtigt werden. Allerdings überzeugen die Schwerpunkte, die Ihme-Tuchel setzt, nicht immer. So gewinnt der Leser den Eindruck, dass die außenpolitischen Aspekte eine ungleich größere Gewichtung erfahren als die innen- und gesellschaftspolitischen Fragen. Überraschend auch, dass Ihme-Tuchel dem Mauerbau, einem in der Forschung nicht sonderlich kontrovers diskutierten Ereignis, ganze 20 Seiten widmet. Dass sie sich dabei in manchem Detail verliert, wiegt um so mehr, als andere, weitaus zentralere Themen kaum behandelt werden.

So erfährt der Leser nichts über die ehemals bürgerlichen Parteien, die zu Beginn der Sowjetischen Besatzungszone noch keine ‚Blockflöten‘ waren und die noch in der Spätphase der DDR eine integrierende Funktion erfüllten (etwa als Sammelbecken für diejenigen, die ihre Karriere nicht gefährden wollten, aber nicht in die SED einzutreten gewillt waren). Auch die um die (Zwangs-)Vereinigung von KPD und SPD geführte Debatte findet keine Berücksichtigung. So wie überhaupt die gesamte Vor- und Frühgeschichte der DDR unterbelichtet bleibt. Unverständlich auch, warum Themen wie Landwirtschaft, Kirche, Bürgertum, Arbeiterschaft und Gewerkschaftsbewegung nur wenig Interesse entgegengebracht wird, wo doch mittlerweile einschlägige Studien dazu vorliegen. Ebenfalls kaum zur Kenntnis genommen werden die Erträge der alltagsgeschichtlichen und regionalhistorischen Forschung 4. Des weiteren stellt sich die Frage, ob nicht nur manchen Themen, sondern auch einigen Begriffen (wie „Nische“ oder „Eigensinn“) und Konzepten (wie „Entdifferenzierung“ oder „Herrschaft als soziale Praxis“) eine größere Aufmerksamkeit hätte zuteil werden sollen.

Mehr Aufmerksamkeit hätte der Verlag jedenfalls auf das Register verwenden müssen. Schon die Auswahl der Stichworte irritiert: Nur fünfzehn Begriffe haben es geschafft, darunter „Aktion Ungeziefer“, „Boykotthetze“ und „Zentralinstitut für Jugendforschung (ZfJ)“. Leider unberücksichtigt bleiben Begriffe wie „Blockpartei“, „Bodenreform“, „FDJ“, „Stalinnote“ oder „Wende“. Auch die im Text erwähnten Personen sind nicht alle aufgenommen. Bewusst nicht verzeichnet wurden die in der Darstellung namentlich erwähnten Wissenschaftler. Nicht nur das unterscheidet diesen Band von dem Hermann Webers.

Auch sonst bleibt der Service, den man von einer vor allem für Studienzwecke gedachten Reihe erwarten darf, hinter dem zurück, was der Oldenbourg-Verlag in seinen beiden Reihen seit vielen Jahren erfolgreich praktiziert. Etwa fehlen in den Kontroversen um die Geschichte die am Seitenrand angebrachten Stichworte, die dem Leser eine schnelle Orientierung ermöglichen. Auch nach den knappen, in eckigen Klammern in den Fließtext integrierten Literaturverweisen beginnt man sich nach der Lektüre weniger Seiten zu sehnen. Um so mehr, als die Verfasserin manche (darunter auch namhafte Historiker) ungern beim Namen nennt. Wer wissen möchte, wer genau sich hinter „einigen Forschern“, „anderen Autoren“ oder „einer vermittelnden Sicht“ verbirgt, der muss immer wieder blättern. Ein weiteres Manko: Quellen findet der Leser im Anhang überhaupt nicht aufgeführt, weder Selbstzeugnisse noch Editionen.

Die genannten Schwächen ließen sich problemlos beheben. So wie auch eine inhaltliche Überarbeitung des darstellenden Teils im Rahmen einer zweiten Auflage ohne weiteres möglich wäre. Und eine solche Neuauflage möchte man dem Werk durchaus wünschen. Schließlich füllt Ihme-Tuchel mit ihrem Band nicht nur eine Lücke, sie wird dem Genre auch durch ihre um Zurückhaltung bemühte Darstellungsweise gerecht.

Anmerkungen:
1 Herausgeber der bislang 32 Bände umfassenden Reihe Grundriß der Geschichte sind Jochen Bleicken, Lothar Gall und Hermann Jakobs. Die bislang 60 Bände umfassende Enzyklopädie deutscher Geschichte wird herausgegeben von Lothar Gall in Verbindung mit Peter Blickle u.a.
2 Siehe etwa den mittlerweile in erweiterter Neuausgabe erschienenen Forschungsbericht von Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, aus dem Englischen von Jürgen Peter Krause, Reinbek 2. Auflage 2001.
3 Dabei handelt es sich um den in der Oldenbourg-Reihe Grundriß der Geschichte erschienenen Band Die DDR 1945-1990 (OGG 20), München 3. Auflage 1999/2000, verfasst vom Nestor der Historiographie zur DDR Hermann Weber.
4 Nur eine Auswahl vor 2001 erschienener Studien, die nicht im Literaturverzeichnis aufgeführt sind: Beatrix Bouvier, Ausgeschaltet! Sozialdemokraten in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR 1945-1953, Berlin 1996; Anna-Sabine Ernst, „Die beste Prophylaxe ist der Sozialismus.“ Ärzte und medizinische Hochschullehrer in der SBZ/DDR 1945-1961, Münster/New York/München/Berlin; Peter Hübner, Konsens, Konflikt und Kompromiß. Soziale Arbeiterinteressen und Sozialpolitik in der SBZ/DDR 1945-1970 (Zeithistorische Studien 3), Berlin 1995; Ralph Jessen, Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära, Göttingen 1999; Ulrich Mählert, Die Freie Deutsche Jugend 1945-1949. Von den ‚antifaschistischen Jugendausschüssen‘ zur SED-Massenorganisation: Die Erfassung der Jugend in der Sowjetischen Besatzungszone, Paderborn/München/Wien/Zürich 1995; Andreas Malycha, Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946-1953, Paderborn/München/Wien/Zürich 2000; Damian van Melis, Entnazifizierung in Mecklenburg-Vorpommern. Herrschaft und Verwaltung 1945-1948 (Studien zur Zeitgeschichte 56), München 1999; Ina Merkel, Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR (alltag & kultur 6), Köln/Weimar/Wien 1999; Patrick von zur Mühlen, Der ‚Eisenberger Kreis‘. Jugendwiderstand und Verfolgung in der DDR 1953-1958, Bonn 1995; Petra Weber, Justiz und Diktatur. Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen 1945-1961 (Veröffentlichungen zur SBZ/DDR-Forschung im IfZ/Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 46), München 2000.

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