Th. Sokoll: Essex Pauper Letters

Cover
Titel
Essex Pauper Letters. 1731 - 1837


Herausgeber
Sokoll, Thomas
Reihe
Records of Social and Economic History, New Series 30
Erschienen
Anzahl Seiten
727 S.
Preis
$85.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Ziemann, University of York, Department of History

Die historiografische Beschäftigung mit der Quellengattung “Brief” hat in der letzten Dekade eine beträchtliche Erweiterung erfahren, die einer völligen Neubewertung gleichkommt. Zuvor galt der Brief quellenkundlich als eine Domäne der literaten und ausdrucksstarken Oberschichten vor allem des 19. Jahrhunderts, als Medium bürgerlicher Selbstverständigung und Selbstreflexion. Intensive archivalische Forschung hat inzwischen jedoch eine ganze Reihe von Quellenbeständen identifiziert, in denen sich vielfältige Anlässe und Notwendigkeiten niederschlagen, welche Angehörige der Unterschichten seit dem späten 18. Jahrhundert zum Verfassen eines Briefes motiviert haben. Die vorliegende Arbeit des in Hagen lehrenden Historikers Thomas Sokoll erweitert nicht nur unsere Kenntnis der Schreibpraxis und des Umgangs mit Schriftlichkeit bei den englischen Unterschichten nachhaltig, sondern setzt mit der Genauigkeit und Reflektiertheit ihrer Editionspraxis Maßstäbe für jede weitere seriöse Beschäftigung mit Quellen dieser Art.

Der Band bringt 758 Briefe zum Abdruck, die im Kontext des bis 1834 geltenden Old Poor Law entstanden sind. Sie bilden keine geschlossene Überlieferung, sondern den Extrakt aus der zeitraubenden Durchsicht der Akten jener 55 Gemeinden in Essex, für die ein Schriftwechsel des Armenaufsehers archivalisch überliefert ist. Während für den Zeitraum von 1731 bis 1800 nur wenige Briefe zum Abdruck kommen können, datiert die große Mehrzahl der Schreiben aus den beiden letzten Jahrzehnten vor der Novellierung des Armenrechts, was als Indiz für die zunehmende Professionalisierung der Armenpflege und damit auch ihrer Aktenführung zu werten ist. Die Überlieferung dieser Briefe verdankt sich der Praxis der sogenannten „out-parish-relief“. Armenfürsorge konnten auch jene Personen beziehen, die nicht mehr in ihrer Heimatgemeinde wohnten, welche generell für ihre Unterstützung zuständig war. Dies konnte sowohl für den Unterstützungswohnsitz als auch für den tatsächlichen Wohnort des Betroffenen immer dann vorteilhaft sein, wenn die Kosten für die zwangsweise Rückführung des Unterstützten und seine Versorgung im Heimatort vermutlich höher liegen mussten als für die im Wohnort zu leistende Hilfe. Eine notleidende Person konnte den Armenaufseher oder den Gemeindevorsteher seiner Heimatgemeinde brieflich um die Gewährung von ‚non-resident-relief’ angehen und ihm dazu seine Lebensumstände und die Gründe für seine aktuelle Notlage schildern. Die Verfasser der Briefe wohnten jeweils zu rund einem Drittel noch in der Grafschaft in Essex, in London bzw. im restlichen England. Die Briefe folgen in ihrer großen Mehrzahl nicht dem formalen Aufbau einer Petition, der nicht zuletzt aus Musterbriefen in den einschlägigen Briefstellern hinlänglich bekannt gewesen sein dürfte. Viele Briefe zeigen zwar die formalen Ausdrucksformen der Ehrerbietung, aber insgesamt weist der Korpus eine große Vielfalt rhetorischer Strategien auf, mit denen man die Adressaten von der Notwendigkeit angemessener Unterstützung zu überzeugen versuchte. Gemessen am Formenkanon der Petition, zeigt sich oftmals ein sehr persönlicher, individuell geprägter Ton der Anrede und Argumentation. Thomas Sokoll deutet diesen Sachverhalt im Sinne einer schichtübergreifenden Verbreitung der im Rahmen einer modernen Briefkultur möglichen Bandbreite von Ausdrucksformen und Stilelementen bereits für die Zeit um 1800 (S. 61). Diese musste keineswegs immer auf der individuellen Schreibfähigkeit der um Armenunterstützung nachsuchenden Person basieren. Ein Mann konnte in der ersten Person Singular um Hilfe für seine Ehefrau nachsuchen, weshalb Absender und Autor zu unterschieden sind. Ebenso konnten beide von derjenigen Person verschieden sein, die den Brief tatsächlich niederschrieb. Beim Schreiber handelte es sich nur in seltenen Fällen um einen professionellen Schreiber, sondern vermutlich zumeist um Verwandte, Bekannte oder Nachbarn. Es ist unmöglich festzustellen, wie viele der Briefe in diesem Korpus tatsächlich von der Hand des Absenders und Autors verfasst wurden. Das Vorhandensein der Briefe ist allerdings als Beleg dafür zu werten, dass Schreiben in den englischen Unterschichten um 1800, bei denen formal zu dieser Zeit etwa ein Drittel als literat gelten konnten, eher eine soziale denn eine individuelle Praxis gewesen ist.

Selbstverständlich bringt die Edition alle Briefe in ihrer originalen Form zum Abdruck, um dem Leser einen unverfälschten Einblick in die Wahrnehmungsformen und Sprach- bzw. Sprechmuster (denn wie bei anderen Unterschichtenbriefen auch handelt es sich hier um ein verschriftlichtes Sprechen!) der Verfasser zu bieten. Doch der editorische Aufwand geht weit darüber hinaus. Die ausführliche Einleitung (S. 1-87) erläutert nicht nur die Struktur des edierten Quellenkorpus, sondern bietet gründliche quellenkritische Erläuterungen. Register erschließen den Band nach Orten, Absendern und Datum. Vom Absender selbst vorgenommene Änderungen im Text werden ebenso erläutert wie idiosynkratische Schreibweisen. Alle vorhandenen Kontextinformationen zu jedem Brief werden an Ort und Stelle beigefügt. Kurzum: Thomas Sokoll lässt den Briefen der Empfänger von Armenunterstützung aus Essex eine noch größere editorische Genauigkeit zuteil werden, als sie deutsche Historiker bislang höchstens bei Kabinettsakten oder Briefen hochgestellter Politiker und Kardinäle als unerläßlich erachtet haben. Die vorliegende Briefsammlung läßt sich somit auch als ein ironischer Kommentar zu den Relevanzkritierien einer gemeinhin großzügig geförderten Editionspraxis historischer Quellenreihen lesen und verstehen, an welcher die seit mehr als drei Jahrzehnten andauernde Etablierung des sozialhistorischen Paradigmas nahezu spurlos vorüber gegangen ist.1

Neben neuen Einblicken in die Geschichte der Schriftlichkeit und die Lebenslagen der ‚labouring poor’ um 1800 wird der Band wohl vor allem für die seit geraumer Zeit in Gang gekommene Neubewertung des ‚old poor law’ weitere Anstöße vermitteln. Ansätze zu einer Auswertung der Briefe und die Erläuterung von Erträgen für die künftige Forschung hat der Herausgeber bereits an anderer Stelle vorgelegt.2 Diese maßstabsetzende Edition läßt zudem die Hoffnung wachsen, dass auch für die Sozialgeschichte der Unterschichten und des Unterschichtenprotests im deutschen Vormärz eine Quellensammlung in Angriff genommen werden könnte, welche die verstreuten, bislang nur beiläufig dokumentierten Petitionen und Drohbriefe dieser Jahre in vergleichbarer Weise aufbereitet und der Forschung zugänglich macht. Es ist jedenfalls an der Zeit, dass das gewachsene Interesse an den schriftlichen Stimmen ‚from below’ sich auch in entsprechenden Editionen niederschlägt.

Anmerkungen:
1 Vgl. Sokoll, Thomas, Negotiating a Living. Essex Pauper Letters from London, 1800-1834, in: International Review of Social History 45 (2000), S. 19-46; ders., Old Age in Poverty: The Record of Essex Pauper Letters, 1780-1834, in: Tim Hitchcock (Hg.), Chronicling Poverty. The Voices and Strategies of the English Poor, 1640-1840, Basingstoke 1997, S. 127-154.
2 Als immer noch einziges Pendant für die deutsche Sozialgeschichte ist zu nennen: Tenfelde, Klaus; Trischler, Helmuth (Hgg.), Bis vor die Stufen des Throns. Bittschriften und Beschwerden von Bergleuten im Zeitalter der Industrialisierung, München 1986.

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