Titel
1900. Zukunftsvisionen der Großmächte


Autor(en)
Neitzel, Sönke
Erschienen
Paderborn 2002: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
219 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Graf, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Obwohl der Historikertag 1962 historische Zukunftsvorstellungen zum Gegenstand gemacht und Reinhard Wittram erklärt hatte, „das Element Zukunft“ sei „aus keiner historischen Betrachtung auszuschließen“, blieb die „vergangene Zukunft“ in der deutschen Geschichtswissenschaft lange Zeit ein Randgebiet, dem sich vor allem Reinhart Koselleck und im Anschluss an ihn Lucian Hölscher widmeten.1 Die Proklamation des „Endes der Utopie“ 2 nach 1989 und die gleichzeitige, durch den näher rückenden Jahrtausendwechsel katalysierte Inflation von Reflexionen über die Zukunft, bewirkten jedoch ein zunehmendes historisches Interesse daran, wie vergangene Generationen sich ihre Zukunft vorstellten.3 Dies äußert sich auch in dem von Sönke Neitzel herausgegebenen Sammelband, der aus einer Sektion auf dem 43. Historikertag 2000 in Aachen hervorgegangen ist, die dem Thema „Jahrhundertwende und Zukunftsvorstellungen“ gewidmet war. Um einige Beiträge erweitert, soll der Sammelband nun ein „rundes Bild“ der Zukunftsvisionen der Großmächte um 1900 im internationalen Vergleich liefern (S. 10).

Sieht man von Frank-Lothar Krolls kurzem Artikel ab, der „Endzeitvorstellungen im Kommunismus und im Nationalsozialismus“ untersucht, wird jedoch nicht der Versuch unternommen, die Zukunftsvisionen systematisch miteinander zu vergleichen, sondern die Autoren und Autorinnen widmen sich in ihren Artikeln jeweils einzelnen Ländern, nämlich Russland, Deutschland, Österreich, Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Dass der Vergleich weder in der Einleitung des Sammelbandes durchgeführt wurde, noch in dieser Rezension nachgeholt werden kann, liegt an einem Defizit der Konzeption. Großmächte haben keine Zukunftsvisionen, sondern innerhalb der – nach welchen Kriterien auch immer von anderen Ländern unterschiedenen – Großmächte sind verschiedene Individuen und kollektive Produzenten Träger von Zukunftsvorstellungen. Wollte man also zwischen verschiedenen Ländern unter einer sinnvollen Fragestellung vergleichen, so müsste man eine einheitliche Ebene bzw. Trägergruppe wählen, die für alle Länder untersucht wird. Statt dessen konzentrieren sich die Beiträge jedoch mal auf einzelne Denker, mal auf größere gesellschaftliche Gruppen und mal auf politische Entscheidungsträger, so dass sich ein eher buntes Bild dessen ergibt, was man um 1900 in den erwähnten Ländern über die eigene Zukunft – vor allem die außenpolitische bzw. die Rolle in der Welt – dachte.

Dieses konzeptionelle Defizit wird auch nicht durch Michael Salewskis einleitenden Artikel behoben, der unter dem Stichwort der „runden Zahlen“ die Ausprägung des intensiven Bedürfnisses, historische Jahrestage zu feiern, untersucht. Die „magische Jahrhundertzahl“, die es in dieser Bedeutung erst seit 1700 gebe, so Salewski, unterscheide sich von den historischen Jubiläen dadurch, dass sie nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft weise und somit Zukunftsprojektionen befördere. Die Analyse dieser vergangenen Prognosen solle man betreiben, um aus ihren Fehlern für zukünftige Prognosen zu lernen. Dieses Erkenntnisinteresse scheint auch die meisten anderen Autoren zu motivieren, die die Zukunftsvorstellungen um 1900 immer wieder mit der realen, inzwischen Vergangenheit gewordenen Zukunft vergleichen.

Jenseits der fehlenden Gesamtintegration enthält der Sammelband jedoch einzelne interessante Länderanalysen. Effi Böhlke untersucht die Geschichtskonzeptionen russischer Intellektueller im 19. Jahrhundert und erklärt, diese seien zutiefst eschatologisch gewesen. Durch die Untersuchung des Transfers dieser Geschichtsmodelle in den Westen legt sie die These nahe, das „westliche Endzeitdenken“ des 20. Jahrhunderts gehe letztlich auf die „östlichen Endzeiterfahrungen“ des 19. Jahrhunderts zurück.

Im Unterschied zu dieser mit dem Fokus auf wenige Intellektuelle sehr klassisch geistesgeschichtlichen Untersuchung beschreibt Sönke Neitzel in seinem Beitrag zu Deutschland vier größere Gruppen, deren Zukunftsvisionen je verschiedene Merkmale aufwiesen: die Bürgerlichen und Konservativen, die Deutschland zur Weltmacht machen wollten; die radikaleren Kräfte, die einen Kampf zwischen Slawen und Germanen erwarteten; die Sozialdemokraten, die den Aufbau der klassenlosen Gesellschaft in mehr oder weniger naher Zukunft sahen; und die Pazifisten, die die friedliche Koexistenz der Staaten zu erreichen suchten. All diesen Visionen sei, so Neitzels überraschende Schlussfolgerung, die Einigung Europas gemeinsam gewesen, wenn auch unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen.

In Frankreich, so argumentiert Martin Mayer, sei die Zeit um 1900 vor allem von kurzfristigen und tagespolitischen Diskussionen dominiert gewesen. Daneben sieht er nur drei „ernstzunehmende Modelle für ein Frankreich des 20. Jahrhunderts“: die Pläne einer weitergehenden Kolonialexpansion von Eugène Etienne, Jean Jaurès‘ Konzptionen eines sozialistischen Zukunftsstaates in friedlicher Koexistenz mit anderen und Maurice Barrès‘ pessimistisch-nationalistische Vision.

Nicht auf einzelnen Vorstellungen, sondern auf der zugrunde liegenden Stimmung in Großbritannien liegt der Fokus von Jürgen Elverts Beitrag. Da Großbritannien sich bereits auf dem Höhepunkt der eigenen Macht befunden habe, sei die Projektion radikaler Zukunftsentwürfe hier nicht nötig gewesen und man habe eher pragmatische Konzeptionen des Machterhalts entwickelt.

Im Gegensatz dazu zeigt Ragnhild Fiebig-von Hase auf, dass man in den USA der Zukunft grundsätzlich positiv gegenüber gestanden habe, da man sich selbst als Land der Zukunft begriff und begreifen konnte. Dennoch habe hier der liberal-kapitalistische Konsens keinen Spielraum für radikale Gesellschaftsvisionen gelassen, sondern ebenso pragmatische Konzeptionen begünstigt, die zur sicheren Evolution des amerikanischen Weltmachtstatus beitragen sollten.

Problematisch an den ansonsten differenziert argumentierenden Beiträgen ist die Tendenz, die vergangenen Zukunftsvorstellungen mit unserem heutigen Wissen als richtig oder falsch zu bewerten. Zum einen verstellt dies den Blick auf die eigentlich interessanten Fragen nach den Mentalitäten, die sich in den Zukunftsvorstellungen ausdrücken. Zum anderen sind die Wertungen häufig diskussionswürdig wie zum Beispiel Sönke Neitzels Feststellung, „die Realität des Jahres 2000 und die pazifistische Hoffnung des Jahres 1900“ lägen „recht nahe beieinander“ (S. 78). Darüber hinaus liegt der Verdacht nahe, dass durch die Bezugnahme auf ex-post Wissen die Untersuchung der zeitgenössischen Zukunftshorizonte verzerrt wird; denn dass Großbritannien sich auf dem Höhepunkt seiner Macht befand und dass das 20. Jahrhundert das amerikanische werden würde, stand für die Zeitgenossen um 1900 nicht fest. So hätte man im Falle Großbritanniens den weit verbreiteten Degenerationsängsten und den sehr wohl radikalen Vorschlägen einer eugenischen Erneuerung größere Aufmerksamkeit schenken können. Desgleichen wird auch in den anderen Beiträgen das komplexe Wechselspiel von außen- und innenpolitischen Zukunftsvorstellungen zu selten explizit zum Gegenstand der Untersuchung gemacht.

Diese Defizite – genauso wie das Fehlen der Integration der Beiträge – hätten durch eine stärkere theoretische Durchdringung des Themas der historischen Zukunftsvorstellungen vermieden werden können. So hätte man, um eine einheitliche Gesamtkonzeption zu erreichen, das weite Feld der Zukunftsvorstellungen nach inhaltlichen Kriterien, nach den verschiedenen Modi der Zukunftsaneignung, nach den Funktionen von Zukunftsvorstellungen für Individuen und Kollektive sowie nach den unterschiedlichen Diskurszusammenhängen von Wissenschaft, Politik und Popkultur unterteilen können und müssen. Der Sammelband liefert somit zwar ein interessantes Panorama verschiedener weltpolitischer Zukunftsvorstellungen um 1900, aber er verschenkt aufgrund der fehlenden Syntheseleistung einen großen Teil des Potentials, des Themas.

Anmerkungen:
1 Wittram, Reinhard: Zukunft in der Geschichte. Zu Grenzfragen zwischen Geschichtswissenschaft und Theologie, Göttingen 1966, 6; Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989; Hölscher, Lucian: Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich, Stuttgart 1989.
2 Fest, Joachim: Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin 1991.
3 Vgl. z.B.: Minois, Georges: Geschichte der Zukunft. Orakel, Prophezeiungen, Utopien, Prognosen, Düsseldorf 1998; Kroll, Frank: Lothar, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn 1998; Hölscher, Lucian: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a.M. 1999; Jakubowski-Tiessen, Manfred (Hg.): Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; Frevert, Ute (Hg.): Das Neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900 (Geschichte und Gesellschaft Sonderheft 18), Göttingen 2000.

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