Cover
Titel
Europe United. Power Politics and the Making of the European Community


Autor(en)
Rosato, Sebastian
Erschienen
Anzahl Seiten
265 S.
Preis
€ 27,42
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Henning Türk, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Die Gründungsphase der Europäischen Gemeinschaften (EG) zwischen 1950 und 1957 wurde frühzeitig begleitet von Interpretationen über die Gründe, welche die Regierungen Frankreichs, Italiens, der Benelux-Länder und der Bundesrepublik Deutschland dazu brachte, supranationale Organisationen zu schaffen und ihnen weitreichende Kompetenzen zu übertragen. Mit dieser Grundfrage beschäftigt sich auch die Monografie von Sebastian Rosato, einem Politologen der University of Notre Dame im US-Bundesstaat Indiana.

Er stellt zunächst eine aus seiner Sicht allgemeingültige Theorie über die Entwicklung von Integration vor, die sehr stark der politikwissenschaftlichen Schule des Realismus verhaftet ist. Diese interpretiert die internationalen Beziehungen aus der Sicht der Staaten, die ihre meist geostrategischen Sicherheitsinteressen in der internationalen Arena gegen andere Staaten durchsetzen wollen. Dementsprechend basiert Rosatos Integrationstheorie auf der Grundannahme, dass die akute Bedrohung durch einen deutlich überlegenen Gegner die bedrohten Staaten dazu bringe, an eine Zusammenarbeit zu denken. Wenn diese Kooperation nicht ausreiche, um die Macht des Gegners auszubalancieren, seien die Staaten auch dazu bereit, Kompetenzen an eine gemeinsame Institution zu übertragen. Die Staaten geben Souveränitätsrechte ab und erhalten dafür Sicherheit. Zudem könne man durch eine gemeinsame Kontrolle der neuen Institution das Machtgleichgewicht zwischen den beteiligten Ländern austarieren.

Anschließend skizziert Rosato zwei alternative Interpretationen, von denen er sich in seinem Buch abgrenzen möchte. Zum einen greift er den „Liberal Intergouvernementalism“ des Harvard-Politologen Andrew Moravcsik auf, der im Integrationsprozess vor allem die Aushandlungsmechanismen zunächst innerhalb der Länder und dann auf dieser Basis zwischen den beteiligten Ländern untersucht und einen hohen Einfluss der wirtschaftlichen Interessengruppen konstatiert. Zum anderen nennt er die Theorie von Craig Parsons, der die entscheidende Rolle politischer Führungsfiguren für den Beginn der europäischen Integration betont, die pro-europäisch eingestellt gewesen seien und mit der europäischen Integration den Nationalstaat überwinden wollten.

In den folgenden Kapiteln versucht Rosato dann, seine Theorie am Beispiel der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), der gescheiterten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu testen. Dabei konzentriert er sich auf die jeweiligen Motive der Regierungen Frankreichs, der Bundesrepublik Deutschland und Großbritanniens, das bei allen drei Integrationsversuchen freiwillig außen vor blieb.

Seine drei Fallbeispiele schildert er nicht mit einer akkuraten Nachzeichnung der Entscheidungsprozesse, sondern sammelt selektiv Belege aus veröffentlichten Quellenbänden und der Forschungsliteratur, in der Regierungsvertreter balance-of-power-Motive für die Integration benennen und die seine Theorie damit vermeintlich bestätigen. Diese unterfüttert er mit statistischen Auswertungen zum Beispiel des Rüstungsverhältnisses zwischen den sechs Integrationsländern und der UdSSR. Aus dieser Sicht kommt Rosato zu dem Schluss, dass die europäische Integration zu Stande gekommen sei, weil man sich gegen einen deutlich überlegenen Gegner, die UdSSR, habe wehren müssen, der die Sicherheit der einzelnen Staaten bedroht habe. Diese Bedrohung sei so groß gewesen, dass eine Kooperation nicht ausgereicht hätte, so dass man zu dem Mittel der Integration gegriffen habe. Auf diese Weise habe man das Machtungleichgewicht in Europa ausbalancieren können. Eine mögliche politisch-militärische Reaktion der UdSSR sei unterblieben, da die USA ihre schützende Hand über die europäischen Länder gehalten habe.

Das letztlich erfolgte französische Nein gegen die EVG, das bei seinen Fallstudien etwas aus dem Rahmen fällt, begründet Rosato mit der bereits naheliegenden Lösung einer Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die NATO und dem Umbau des Brüsseler Pakts zur Westeuropäischen Union (WEU). Diese Lösung habe die französischen Sicherheitsbedürfnisse befriedigt, ohne dass eine Souveränitätsabgabe im nationalstaatlichen Kernbereich der Verteidigung nötig gewesen wäre.

Die institutionelle Ausgestaltung der EGKS und der EWG spiegele die Machtverhältnisse der Länder wieder und zeige, dass es Frankreich dabei vor allem um die Kontrolle des bundesrepublikanischen Aufstiegs gegangen sei. Für die Bundesregierung selbst habe diese Konstruktion die Möglichkeit geboten, erstmals wieder auf Augenhöhe mit den westlichen Partnern zu agieren. Großbritannien habe bei allen Integrationsversuchen eine Kooperation zugesagt, aber eine Integration abgelehnt, da es aus Sicht der britischen Sicherheitsinteressen gegenüber der UdSSR ausreichend gewesen sei, dass sich die sechs kontinentaleuropäischen Länder zusammenschließen würden; ein britischer Souveränitätsverzicht zur Eindämmung der Sowjetunion sei aus britischer Sicht nicht nötig gewesen.

Diese Interpretation konfrontiert Rosato in jedem Kapitel mit den Argumenten Moravcsiks und Parsons. Dabei macht er deutlich, dass sich die wirtschaftlichen Interessenverbände nicht für die EGKS und die EWG eingesetzt hätten und somit Moravcsiks Interpretation nicht zutreffe. Parsons hält er entgegen, dass es den europäischen Führungspersönlichkeiten nicht um die Abschaffung des Nationalstaats gegangen sei, sondern man habe diesen im Gegenteil vor der Bedrohung durch die UdSSR retten wollen.

Dass die historische Forschung mittlerweile wesentlich differenzierter argumentiert, nimmt Rosato nur am Rande zur Kenntnis. Diese hat vier Antriebskräfte für die europäische Integration herausgearbeitet, die zeitlich und je nach Land unterschiedlich wirkten und sich aus den Funktionsdefiziten der Nationalstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg ableiten.1 Danach konnten die Nationalstaaten nicht mehr den Frieden garantieren; sie waren nicht in der Lage die „deutsche Frage“ zu lösen; die Märkte der einzelnen Staaten waren zu klein, um eine international konkurrenzfähige Industrie zu sichern; und die einzelnen Nationalstaaten konnten gegenüber den Großmächten UdSSR und USA keine eigenständige Position mehr einnehmen. Die europäische Integration stellte somit den Versuch dar, diese nationalstaatlichen Funktionsdefizite zu überwinden. Das heißt balance-of-power-Überlegungen spielten selbstverständlich eine Rolle, waren aber nur ein wichtiger Teil eines Motivbündels. Dass zum Beispiel die französischen Interessengruppen gegen die Gründung der EWG agitierten, heißt ja nicht, dass wirtschaftliche Überlegungen bei der Gründung der EWG keine Rolle gespielt hätten. So wurde zum Beispiel der Wettbewerb in der EWG von französischen Politikern auch als Chance gesehen, die französische Wirtschaft zu modernisieren. Auch dass die europäischen Führungspersönlichkeiten nicht die Abschaffung des Nationalstaats planten, heißt nicht, dass diese für den Gründungsprozess unwichtig waren. Im Gegenteil, ihre häufige Sozialisation in Grenzräumen und ihre gemeinsamen Erfahrungen kriegerischer Auseinandersetzungen in Europa seit 1914 schufen erst ein Verständnis füreinander, das die Vertragsabschlüsse erleichterte und das Friedensmotiv in den Vordergrund rücken ließ.

Zudem hätte Rosato, um seine Theorie genauer verifizieren zu können, auch die Sicht Italiens und der Benelux-Länder heranziehen müssen. So sagt seine Darstellung streng genommen nur etwas darüber aus, warum die Bundesrepublik und Frankreich die europäische Integration in den 1950er-Jahren anstrebten und Großbritannien nicht. Dabei waren zum Beispiel gerade die Benelux-Länder für die 1955 initiierte „relance européenne“ nach dem Scheitern der EVG von großer Wichtigkeit.

Abschließend wagt Rosato auf der Basis seiner Theorie einen pessimistischen Ausblick auf die Zukunft der Europäischen Union. Weil dieser mit dem Zerfall der UdSSR 1991 der einigende Gegner abhandengekommen sei, machten sich mit einiger Verzögerung an allen Fronten desintegrierende Effekte bemerkbar. Eine vollwertige politische oder militärische Integration, die über die zurzeit bestehende Kooperation in diesen Bereichen hinausgehe, sei daher überaus unwahrscheinlich. Da die Europäische Union zudem kein Wirtschaftswachstum mehr generiere, entfalle auch ihre wirtschaftliche Legitimität. Eine Abschwächung der Integration und ein Zerfall des EURO-Raumes stehe damit bevor. Ein Blick in die Geschichte mahnt dagegen zu vorsichtiger Argumentation. Danach waren es immer wieder große Krisen, die langfristig einen Integrationsschub bewirkten. Insofern möchte ich die EU noch nicht abschreiben.

Sebastian Rosato hat damit ein Buch vorgelegt, das die nationalstaatlichen balance-of-power-Motive der Integration deutlich vor Augen führt, aber mit seiner einseitigen Blickrichtung dem vielschichtigen Gründungsprozess der Europäischen Gemeinschaften nicht gerecht wird.

Anmerkung:
1 Wilfried Loth, Explaining European Integration: The Contribution from Historians, in: Journal of European Integration History 14 (2008), S. 9-26. Darauf basierend auch Guido Thiemeyer, Europäische Integration. Motive - Prozesse - Strukturen, Köln 2010.

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