A. Baumann: Gesellschaft Frühe Neuzeit

Titel
Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse.


Autor(en)
Baumann, Anette
Reihe
Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 36
Erschienen
Köln u.a. 2001: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
178 S.
Preis
€ 25.50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Nils Jörn, Rechtsgeschichte, Universität FFM

Neben dem Reichshofrat war das 1495 gegründete Reichskammergericht das oberste Gericht im Alten Reich. Anders als bei seinem Konkurrenten lagen Finanzierung und Besetzung des Reichskammergerichts in der Zuständigkeit der Reichsstände. Das Gericht wurde innerhalb kurzer Zeit zu einer unabhängig vom Kaiser agierenden, professionell arbeitenden, modernen Rechtsprechungsinstanz, die erheblichen Einfluss auf die Rechtspflege und die Professionalisierung der Richter an den Territorialgerichten ausübte. Von seiner Tätigkeit zeugen heute ca. 80.000 über Deutschland verstreute Prozessakten, die seit Mitte der 1970er Jahre in einem von der DFG geförderten Verzeichnungsprojekt nach einheitlichen Grundsätzen erschlossen werden. Seit dieser Zeit hat die moderne Forschung die Reichskammergerichtsakten als erstrangige Quelle für die Untersuchung der Rechts-, Reichs-, Regional- und Landesgeschichte erkannt und nutzt sie sehr umfassend. Bereits Ende der 1970er Jahre begann Filippo Ranieri, einen statistischen Überblick über alle zwischen 1495 und 1689 geführten Prozesse zu erarbeiten und legte diesen 1985 als Habilitationsschrift vor. 1 In seiner Arbeit gibt er Auskunft über Geschäftsanfall, soziale und regionale Inanspruchnahme, Streitgegenstände und Prozessdauer am Reichskammergericht und ermöglicht seitdem selektiv arbeitenden Forschern eine Einordnung ihres Materials in den Gesamtzusammenhang.

Anderthalb Jahrzehnte nach der Publikation dieses grundlegenden Werkes erscheint die lange erwartete Folgestudie. Die Leiterin der Forschungsstelle für Reichskammergerichtsforschung, Anette Baumann, kann – anders als Ranieri seinerzeit –die Ergebnisse des Verzeichnungsprojektes nutzen und tut dies sehr kompetent. In direkter Anlehnung an ihren Vorgänger stellt sie in kurzer, prägnanter Form ihre Ergebnisse zum Geschäftsanfall im 17. und 18. Jahrhundert dar und erklärt die verschiedenen Höhen und Tiefen der Inanspruchnahme überzeugend aus der Kenntnis der Geschichte des Alten Reiches und seiner Regionen. In kurzen Detailstudien wertet sie die Beanspruchung des Reichskammergerichts durch Kläger aus dem Niederrheinisch-Westfälischen, Niedersächsischen, Oberrheinischen, Fränkischen, Kurrheinischen und Schwäbischen Kreis aus. Sie kann den Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis als Schwerpunkt der Klageerhebung identifizieren (z.T. über 50% des Gesamtbestandes) und stellt Thesen zum Geschäftsanfall von Klägern aus einzelnen Kreisständen auf. Ähnliche Untersuchungen legt sie für die anderen genannten Reichskreise vor, wobei sie sehr konsequent das Gewicht auf die für ihre Darstellung wichtigsten Kreisstände legt. Baumann versucht, knappe Erklärungen zu geben, warum einige Reichskreise wie z.B. der Obersächsische das Reichskammergericht nur wenig beanspruchten. Dabei berücksichtigt sie jedoch den Einfluss der illimitierten Appellationsprivilegien für Kursachsen, Kurbrandenburg und Schwedisch-Pommern und die Gründung des Wismarer Tribunals, das für die schwedischen Reichslehen an die Stelle der obersten Reichsgerichte trat, nur ungenügend.

In einem weiteren Schwerpunkt trifft sie Aussagen zur sozialen Inanspruchnahme des Reichskammergerichts. Zunächst konstatiert Baumann, dass sich am Beginn ihres Untersuchungszeitraumes der Trend des 16. Jahrhunderts fortsetzt und geistliche Reichsfürsten weit häufiger als ihre weltlichen Standesgenossen klagen. Diese Klagehäufigkeit nimmt jedoch seit der Mitte des 17. Jahrhunderts ab und verharrt seitdem auf niedrigem Niveau. Statt dessen steigt die Anzahl der Prozesse, in denen geistliche Reichsfürsten als Beklagte auftreten, da sich ihre Untertanen gegen den Ausbau der Landesherrschaft wehrten. Dieser verrechtlichte Widerstand der Untertanen spielt auch eine Rolle bei der häufigen Nennung der weltlichen Reichsstände als Beklagte. Als Kläger spielten sie eine geringere, zudem abnehmende Rolle. Bei aller Knappheit der Darstellung hätte man sich an dieser Stelle einen Kommentar zur These Georg Schmidts gewünscht, nach dem Bauernkrieg hätte die Möglichkeit zur Klage am Reichskammergericht Proteste verrechtlicht und neue Unruhen der Unterschichten ausgeschlossen. 2

Am Gesamtklageaufkommen hatten die 53 Reichsstädte nur einen Anteil von 2,6%. Sie nutzten das Reichskammergericht vor allem, um ihre bedrohten Privilegien zu sichern. Nennenswerter (10%) war der Anteil der Prozesse der Reichsritterschaft Schwabens, Frankens und am Rhein. Besonders zu Beginn des 17. Jahrhunderts stritten sie im Bereich staatlich-hoheitliche Rechte. Die Privatparteien, die mehr als die Hälfte, zeitweise über 80% der Kläger stellten, werden von Baumann sehr knapp sozial und berufsspezifisch untergliedert und in ihrem Klageverhalten charakterisiert. Angesichts ihrer großen Bedeutung für den Geschäftsanfall am Reichskammergericht wäre hier eine ausführlichere Analyse, möglichst nach Regionen, willkommen gewesen und hätte sicher erhebliche Unterschiede zutage gefördert. Weit engagierter erfolgt die Darstellung von Frauen als Prozessparteien. Hier werden auch Anknüpfungspunkte zu Ranieri genutzt und dessen Aussagen für das 16. Jahrhundert an den Gegebenheiten der nachfolgenden Zeit geprüft und verworfen.

Ein nächster großer Schwerpunkt beschäftigt sich mit den Streitgegenständen. Baumann stellt fest, dass Prozesse um Geldwirtschaft im 17. und 18. Jahrhundert ein Drittel aller Prozesse ausmachten. Bei diesem wie bei den anderen acht von Ranieri gebildeten Konfliktgruppen (Handel und Gewerbe, Grund- und Bodenwirtschaft, Familienverband, Jurisdiktion, staatlich-hoheitliche Rechte, Grundherrschaft, Lehnswesen sowie Kriminalität und Unrecht) analysiert sie die Veränderungen im Untersuchungszeitraum und versucht diese zu erklären, indem sie Entwicklungen im Reich ebenso wie regionale Besonderheiten einbezieht. Nur sehr grob kann Baumann dagegen die Streitwerte fassen. Die Vielfalt der Währungen, der Einfluss der Inflation und häufig fehlende Angaben in den Prozessregesten verbauen ihr den Zugang zu dieser interessanten Fragestellung.

Ihr Problembewusstsein für die Verzeichnung beweist sie bei der sehr vorsichtigen Auswertung der Prozessdauer. Da der letzte Eintrag im Spezialprotokoll auch erfolgen konnte, wenn der Prozeß formal längst entschieden war, können diese Letzteinträge unser Bild von der Schnelligkeit des Reichskammergericht massiv beeinflussen. Trotzdem wagt sie die Aussage, dass die Hälfte der Fälle in weniger als fünf Jahren abgeschlossen werden konnten. Wünschenswert wäre hier und in den meisten anderen Bereichen eine stärkere Anknüpfung an die Erkenntnisse Ranieris gewesen, durch welche die säkularen Trends noch schärfer hätten herausgearbeitet werden können. Dies wird in ihrer knappen Schlussbetrachtung deutlich, in der sie den großen Überblick über den Gesamtzeitraum der Frühen Neuzeit zwar verspricht, dieses Versprechen aber nur sehr bedingt einlöst.

Baumann wendet sich an ein hochspezialisiertes Fachpublikum, sie setzt die Kenntnis um die Arbeit Ranieris und die Diskussionen darüber voraus und diskutiert sie nicht. Dies wäre jedoch notwendig gewesen, um breitere Leserkreise zu erschließen, ihnen den methodischen Zugang zu eröffnen und sie für eigene Forschungen zu sensibilisieren. Kritikwürdig ist, dass sie die statistische Grundlage ihrer Erhebung in eine Fußnote verbannt, die Zahlenangaben Hoschers aus dem Ende des 18. Jahrhunderts übernimmt und ihnen eine zentrale Rolle in ihrer Argumentation einräumt, ohne diese Grundlage entsprechend zu problematisieren und anhand der bereits vorliegenden Inventare zu verifizieren. Besonders deutlich wird dieses – schon bei der Arbeit Ranieris kritisierte – methodische Problem bei der Auswertung der reichsstädtischen Inanspruchnahme. Da ihre Stichprobe die Buchstaben A-E umfasst, fließen große, prozessintensive Städte wie Hamburg oder Frankfurt a.M. in die Auswertung nicht mit ein. Anders als Ranieri, dem diese Möglichkeit noch vorenthalten war, hätte Baumann das Problem mit einem Blick in die vorliegenden Inventare kompetent lösen können. Für diese Unterlassung versöhnt sie jedoch teilweise durch eine sehr vorsichtige Interpretation, die das Material nicht überstrapaziert und die statistische Grundlage nicht zu stark belastet. So angenehm und methodisch richtig dies ist, so sehr hätte man sich an einigen Stellen den Mut zur kühnen These und zur Einordnung in die „große Reichsgeschichte“ gewünscht, die dieser griffigere Angriffspunkte geliefert hätten. Lobenswert hervorzuheben sind die veröffentlichten Statistiken, die sehr gut aufbereitet sind, einen schnellen Zugriff auf das Material ermöglichen und zahlreiche Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen eröffnen. Baumann kennt und beherrscht die relevante Forschungsliteratur sehr gut, das Buch ist bis auf sehr wenige Ausnahmen gut redigiert und geschrieben.

Die Studien Ranieris und Baumanns, ergänzt um regionale Untersuchungen, liefern einen hervorragenden Einblick in die Arbeit des Reichskammergerichts während der Frühen Neuzeit. Reichsweite Trends können nun ebenso wie regionale Besonderheiten noch sicherer als solche erkannt und eingeordnet werden. Wünschenswert wäre es nun, dass zunächst für das andere oberste Reichsgericht eine ähnliche Auswertung vorgelegt würde, die den oft versuchten Vergleich beider Gerichte auf eine bessere Grundlage stellen und viel zu hoch gegriffene Schätzungen von 2-3.000 am Reichshofrat pro Jahr eingeführten Prozessen endlich auf die tatsächlichen 400 bis 700 neuen Verfahren berichtigen würde. Das Verzeichnungsprojekt zu den Alten Prager Akten im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien stellt einen Anfang dar und berechtigt in dieser Hinsicht zu großer Hoffnung. 3 Darüber hinaus würden quantifizierende Arbeiten zu den wenig erforschten kurfürstlichen Oberappellationsgerichten, zu einzelnen Hofgerichten und Konsistorien den nötigen und wünschenswerten Unterbau für die Aussagen Ranieris und Baumanns schaffen. Beide Autoren haben zwar keine perfekte, dafür aber eine solide, belastbare und anregende Grundlage für weitere Forschungen geschaffen, die es für weitere Studien zu nutzen gilt.

Anmerkungen
1 Filippo Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 17), Köln, Weimar, Wien 1985.
2 Georg Schmidt, „Wo Freiheit ist und Recht...“ da ist der Deutsche untertan?, in: Identität und Geschichte, hg. v. M. Werner, (Jenaer Beiträge zur Geschichte, 1), Weimar 1997, S. 105-124.
3 Eva Ortlieb, Die „Alten Prager Akten“ im Rahmen der Neuerschließung der Akten des Reichshofrates im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 50/2002; Gert Polster, Die elektronische Erfassung des Wolffschen Repertoriums zu den Prozessakten des Reichshofrats im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv, in: a.a.O., (im Druck).

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