Titel
Poesie des Lebens. Eine Kulturgeschichte der deutschen Romantik 1795-1820


Autor(en)
van Dülmen, Richard
Erschienen
Köln 2002: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
350 S.
Preis
€ 29.90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Schöning, SFB 511 "Literatur und Anthropologie", Universität Konstanz

Die Romantik gehört zu den spannungsreichsten Epochen der deutschen Literaturgeschichte. In diachroner wie in synchroner Hinsicht weit ausgreifend und unscharf abgegrenzt, ist die Zahl der Werke, Einstellungen und Phänomene, die mit dem Epitheton „romantisch“ belegt wurden, so groß, dass man die wissenschaftliche Tauglichkeit des Begriffs mit guten Gründen in Frage stellen kann. Eingebürgert hat sich als Behelf die Unterscheidung von einerseits Früh- und Spätromantik, seltener auch Hoch-, Nach- bzw. Postromantik, die „die Romantik“ wahlweise vollständig substituieren oder als markierte Ränder für Kontur sorgen sollen. Andererseits lassen sich Jenaer, Berliner und Heidelberger Filiationen ebenso identifizieren wie disziplinspezifische Ausprägungen in (Natur-)Philosophie, Medizin, Kunst, Politik oder Recht, die eigenen Bedingungen unterliegen. So unscharf der Phänomenbereich auch sein mag, den der Begriff Romantik bezeichnet, die europäische Moderne und der deutsche Sprachraum (in spannungsreichem Verhältnis) in ihr verdanken „der Romantik“ eine Vielzahl von Stichworten, die terminologisch nicht zu bündeln, einen Reflexionsverzicht darstellte, der durch Begriffshygiene niemals zu kompensieren wäre. Mehr noch: es ist gerade ihre widerspruchsvolle Gestalt, die genuin moderne Moderneskepsis oder die „gegenstrebige Fügung“ (Taubes) von forciertem Zeitlichkeitsbewusstsein und sehnsüchtiger Totalintegration, die der Romantik ihren symptomatischen Charakter verleiht und sie zur unerschöpflichen Ressource moderner Selbstverständigungsdiskurse macht. Zugegeben: Was von der Romantik sich ungebrochen inspirieren lässt, mag manchmal in eine „verschwitzte Sinnsuche“ (Habermas) münden. Ob die unübersichtliche Epoche selbst dafür haftbar zu machen ist, bleibt gleichwohl fraglich.

Aus den angedeuteten Gründen – einer komplexen Rezeptionsgeschichte, die auf eine komplexe Epoche antwortet bzw. diese als solche überhaupt erst konstituiert – werden Gesamtdarstellungen der Romantik, die über Literaturgeschichtsschreibung im engeren Sinne hinausgehen und mehr als eine erste Einführung sein wollen 1, eher selten unternommen 2 – im Gegensatz zu einer Vielzahl von Einzelstudien. Einen solchen Versuch hat nun Richard van Dülmen vorgelegt: Unter dem Titel „Poesie des Lebens. Eine Kulturgeschichte der deutschen Romantik“ ist im Böhlau Verlag der erste Band einer auf zwei Bände angelegten Gesamtdarstellung der deutschen Romantik erschienen, die es sich zu Ziel setzt, auf der „Basis“ von „rund 80 Lebensgeschichten“ eine Kulturgeschichte weniger „der Romantik“, als vielmehr „der Romantiker“ (und Romantikerinnen) vorzulegen, „die vom Menschen, d.h. vom Künstler und seinem Werk ausgeht, von seinem Wissen, seinen Erfahrungen und Wünschen“ (S. 4).

Misst man den von van Dülmen vorgelegten ersten Band am eigenen Anspruch, so befindet sich das Projekt zunächst einmal auf gutem Wege. In 14 Kapiteln, die sich Lebensphasen und biografischen Schwellenzeiten (Kapitel: „1. Die Eltern – Herkunft und Erziehung“; „2. Ausbildung: Schule und Universität“; „13. Liebe – Ehe – Scheidung“), Selbstbildern, Kommunikations- und Kontaktformen („3. Weibliche Lebenswelt“, „5. Lebensplanungen – Schriftstellerleben – Berufsziele“; „6. Freundschaftsbünde“; „7. Briefwechsel – Selbstbekenntnisse“), regionalen Ausprägungen („8. Der Schlegelkreis in Jena“; „9. Die Berliner Gesellschaften“; „9. Heidelberger Romantik“; „11. Romantik in Dresden“) und historischen Kontexten („4. Französische Revolution“; „14. Glaube – Religion – Christentum“) widmen, werden die je interessantesten Protagonisten aufgerufen und charakterisiert, so dass sich, vornehmlich additiv strukturiert, meist anschauliche und informative Übersichten ergeben. Jedem Kapitel vorangestellt ist eine Art Emblem, das auf die Kapitelüberschrift ein zeitgenössisches Bild folgen lässt, als dessen Subscriptio ein zeitgenössisches Textzeugnis, meist ein Brief, folgt. Der anschließende Haupttext, der sich vor allem auf Selbstzeugnisse und biografische Darstellungen jüngeren Datums stützt, bietet weniger eine detaillierte Interpretation des Emblems, als weiteres Text- und Bildmaterial, das über Personen-, Sach- und Ortsregister gut angesteuert werden kann. Überhaupt ist der Band, bei kleineren Fehlern, hochwertig ausgestattet. – Ihre Grenze findet das von van Dülmen gewählte Verfahren allerdings dort, wo es nicht um die Romantikerinnen und Romantiker, sondern die Werke, Programme und Themen geht (insbes. Kapitel „12. Romantische Themen“, S. 233–246), die sich mit ihren Namen verbinden. Außerdem bleibt grundsätzlich unerörtert, wieso die deutsche Romantik überhaupt eine eigene (Mikro-)Kultur darstellen soll.

Wie gesagt, gemessen am explizierten Anspruch (der allerdings sicher nicht alle Intentionen erschöpft), einen populären Überblick über die Leben und Lebenswelten der Romantikerinnen und Romantiker bieten zu wollen, leistet der zu besprechende Band einiges, wenngleich ein an manchen Stellen differenzierteres Bild wünschenswert wäre. Es fragt sich allerdings grundsätzlich, ob der eingeschlagene Weg gut gewählt ist. Einzuwenden wäre vor allem, dass eine Kulturgeschichte der Romantiker, die programmatisch von den historischen Einzelpersonen ausgeht und an die Semantik von deren Egodokumenten anschließt, Gefahr läuft, für jene Innovationen blind zu bleiben, die der Romantik ihren Stellenwert für die Kultur der Moderne sichern. Insbesondere dass die Selbstbeschreibungssemantik der Individualität von den Romantikerinnen und Romantikern wenn auch nicht inauguriert, so doch allererst etabliert, forciert und in allen Facetten durchgespielt wird – sei es auch im Modus des Scheiterns – bleibt unterbelichtet. Was van Dülmen als fraglos voraussetzt, dass individuelle Leben (von Untertanen) interessant sein können und Künstler Bürger schrecken, wird erst zur Zeit der Romantik fester Bestandteil des Redens über Kunst und bleibt – die Termini „interessant“, „das Interessante“ eingeschlossen – ganz unabhängig davon wirksam, ob die ‚romantischen Lebensläufe‘ selbst gelungen oder interessant gescheitert sind. Unbemerkt bleiben außerdem – jedenfalls bis zum Ende des ersten Bandes – die vielfältigen Anstrengungen zur Konzeptualisierung des Verhältnisses von Individualität und Gesellschaft/Gemeinschaft, die Temporalisierung des kunsttheoretischen Vokabulars und die Experimente mit Kunstformen, die der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (Lukács) des modernen Subjekts adäquat sein wollen. Statt dessen werden antiromantische Klischees reaktualisiert, die im Fragment nur ein Symptom mangelnder Schöpferkraft erkennen und den Autorinnen und Autoren, denen man auf 310 Seiten biografisch nachstellt, den geringen Erfolg beim zeitgenössischen Publikum vorhalten. Eine kleine Auswahl: „Generell äußerten die Romantiker ein beträchtliches Maß an Freiheitswünschen, die nicht primär darin bestanden, sich von den Eltern bzw. der Familie finanziell unabhängig zu machen; dann hätten sie allesamt früher und direkter einen Beruf ergreifen müssen.“ (S. 64) – „[...] nicht einmal in den Befreiungskriegen nahmen sie geschlossen Partei. Im Mittelpunkt all ihrer Interessen stand der Wunsch, sich selbst zusammen mit anderen zu bilden, ja auszuleben durch kreative Tätigkeiten auf den verschiedenen Feldern der Poesie, der Reflexion, des Romans und des Gesprächs, der Kunst und der Philosophie und sie öffentlich zu inszenieren.“ (S. 235f.) – „Sie bezogen sich in ungewöhnlicher Breite auf Dichtkunst, Philosophie und Wissenschaft, doch neue traditionsbildende und wegweisende oder auch publikumswirksame Werke, die über ihren Kreis wirkten, entstanden letztlich nicht. Gerade weil die Romantiker so vieles wollten, aber die Perfektion im Kleinen fehlte, kamen sie häufig über Fragmente nicht hinaus.“ (S. 237)

Nimmt man einzelne Äußerungen über einige der prominentesten Vertreter wie Clemens Brentano („ihm fehlte jeder Realitätssinn“, S. 123) Wilhelm Heinrich Wackenroder („Wackenroder ging an seinen inneren Konflikten zugrunde“, S. 135), Friedrich Schlegel (einem „oft auch verzweifelten und sprunghaften Intellektuellen, der nie aufhörte, an seiner Philosophie zu arbeiten, die so zersplittert und fragmentarisch blieb wie sein Leben“, S. 150), Heinrich von Kleist („Die große Fähigkeit zur Selbstanalyse und seine prägnante Beschreibungskunst – er wollte stets mehr als Unterhaltung – machte ihn zum Vertreter einer dichterischen Botschaft, die im Selbstmord endete“, S. 155) und E.T.A. Hoffmann („Die Freundschaft mit einem Weinhändler, der später auch sein Verleger wurde, intensivierte sein Bedürfnis nach Gasthausgeselligkeit“, S. 203) hinzu, so erscheint die romantische „Poesie des Lebens“ als mutwillige Selbststilisierung wenig lebenstüchtiger Männer, die vieles begannen und sich zunehmend verzettelten. Anstatt sich, sei es wirkungsgeschichtlich aufgeklärt oder modernetheoretisch informiert, zu fragen, worin die Signifikanz gerade der „Projektemacherei“ für eine beginnende Moderne bestehen könnte 3, legt van Dülmen seiner Darstellung von Künsten und Biografien lebenspraktische Gelingensbedingungen zugrunde, die jedes forcierte Kunstprogramm zwischen Romantik und Surrealismus verfehlen müssen. So kommt er stellenweise dem fatalen Bild der Romantik-Kritik von Hegel bis Carl Schmitt sehr nahe, die angesichts romantischer Kunstprinzipien und Künstlergestalten lediglich „Charakterlosigkeit“ (Hegel) oder die „Gesinnung der Intrige“ (Schmitt) zu erkennen glaubten. Anders als diese Kritiker jedoch, deren Texte die Sprache einer erbittert geführten Auseinandersetzung um konkurrierende Grundprinzipien sprechen, knüpft van Dülmen eigentlich positiv an Bausteine romantischer Programmatik an; da die dort formulierten Absichten und Ansprüche aber uneingelöst bleiben, gerät die Darstellung ungewollt zur Kritik.

Man kann es auch zugespitzt formulieren: Während van Dülmen unter weitgehender Ausblendung der kommunikations- und formgeschichtlichen Innovationen romantischer Künste, die Tendenz der Programmschriften, Kunst und Leben entdifferenzieren zu wollen, einseitig privilegiert und damit seine eigene Optik gleichsam romantisiert, legt er seiner Beurteilung der Werke und Lebensläufe ganz unromantische Erfolgskriterien zugrunde, die eher den verhassten Philistern abgelesen scheinen als den Romantikerinnen und Romantikern.

Zusammengefasst: Die eingeschlagene Perspektive vergisst ihre eigene romantische Abkunft; ihre Begründung, dass sich eine „Vergangenheit [...], mit der sich auseinanderzusetzen [...] lohn[e]“, im Spiegel biografischer Zeugnisse besser vermitteln lasse, unterschlägt, dass es sich dabei um eine folgenreiche Theorieentscheidung handelt, und nimmt sich die Möglichkeit, den eigenen Standpunkt historisierend, darüber Auskunft zu geben, warum eine Auseinandersetzung mit der Romantik noch heute aufschlussreich sein könnte. Symptomatisch dafür ist die Rechtfertigung des gegenwärtigen Interesses damit, dass die Romantiker, „gemessen an ihren Wünschen, Sehnsüchten und Erfolgen“, zwar gescheitert seien, immerhin aber einen Mythos ihrer selbst geschaffen hätten, „der bis heute nachwirkt“ (S. 5).

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Gerhard Schulz, Romantik. Geschichte und Begriff, München 1996.
2 Vgl. zuletzt Theodore Ziolkowski, Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen, übers. von Lothar Müller, München 1994.
3 Vgl. den Essay von Georg Stanitzek, „Der Projektmacher. Projektionen auf eine ‚unmögliche‘ moderne Kategorie“, in: Ästhetik & Kommunikation 65/66, S. 135–146.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension