T. Pierenkemper: Die Industrialisierung europäischer Montanregionen

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Titel
Die Industrialisierung europäischer Montanregionen im 19. Jahrhundert.


Herausgeber
Pierenkemper, Toni
Reihe
Regionale Industrialisierung, 3
Erschienen
Stuttgart 2002: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
427 S.
Preis
€ 74,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Horst Wessel, Mannesmann-Archiv Mülheim an der Ruhr

Der Herausgeber, Ordinarius für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Köln, zeichnet sich dadurch aus, dass er neue Fragestellungen aufgreift oder eingefahrene wider den Strich bürstet. Das ist nicht nur berechtigt, sondern liegt in der wissenschaftlichen Arbeit begründet. Der Titel der hier vorzustellenden Veröffentlichung lässt zunächst nichts Revolutionäres vermuten, im Gegenteil, die Verbindung von Industrialisierung und Montanregionen verspricht interessante wissenschaftliche Betrachtungen.

Pierenkemper will jedoch mehr, viel mehr: Er will eine eigenständige Forschungstradition begründen; er will über die Deskription hinaus und die „Region“ als Subjekt betrachten, weil er davon ausgeht, dass die räumliche Determination des wirtschaftlichen Handelns relevant ist, weil er sie als zusätzliche, spezifische Variable in der Determination ökonomischen Handelns wertet. Mit Hilfe des räumlichen Ansatzes hofft er, einen weiteren, zusätzlichen Erklärungsgehalt für das Wirtschaftswachstum zu gewinnen. Die Region soll also, um das noch einmal klar herauszustellen, zum Träger eigenständiger ökonomischer Entwicklung werden und regionale Industrialisierung eine angemessene Kategorie der Wachstumsanalyse sein.

A priori gibt es keine hinreichende Definition von Wirtschaftsräumen; Pierenkemper verortet sie zwischen der Mikroebene des „Dorfes“ und der „Stadt“ auf der einen sowie der Makroebene des „Gesamtstaates“ oder der „Weltgesellschaft“ auf der anderen, auf der sog. „Mesoebene“ von „Landschaft“ und „Territorium“. Da es ihm um „die Analyse modernen Wirtschaftswachstums in Räumen“ geht, grenzt er ein: räumlich auf den durch die Produktionsbeziehungen funktional definierten Raum, sachlich auf die Faktoren einer regionalen Produktionsfunktion und zeitlich auf die entscheidende Wachstumsphase im Transformationsprozess der modernen Gesellschaft.

Entsprechend haben die Referenten einer internationalen Arbeitstagung über „Die Industrialisierung europäischer Montanregionen“, die vom 11. bis 13. März 1999 mit Unterstützung u. a. durch die Fritz Thyssen Stiftung in Köln stattfand, vorab einen Fragenkatalog erhalten, der u. a. die Forderung nach einer präzisen Definition der untersuchten Region enthielt. Es wurde also keine Definition der Region vorgegeben, sondern nur die „Mesoebene“ zur Auflage gemacht. Innerhalb dieser Vorgabe hatte jeder Bearbeiter freie Hand. Elf Beiträge wurden im vorliegenden Band veröffentlicht.

Der Rezensent gesteht freimütig, dass er sich mit dem erhobenen Anspruch nicht weniger schwer tut als mit den Begriffen, die teilweise nicht nur mehrdeutig, sondern auch nicht vergleichbar sind; umso gespannter war er darauf, inwieweit die Analyse der verschiedenen Regionen das mutige Vorhaben stützt.

Untersucht wurden der Oberharz (Christoph Bartels), die Saarregion (Ralf Banken), die Zwickauer Steinkohlenregion (Hubert Kiesewetter), Oberschlesien (Toni Pierenkemper), das niederschlesische Kohlenrevier (Zygfryd Piatek), die lothringisch-luxemburgische Minette-Region (Stefanie van der Kerkhof), die Region von Liège (René Leboutte), die Obersteiermark (Akos Paulinyi) und die mährisch-schlesische Region (Vladimir Marek). Hinzu kommen zwei Beiträge mit regionenübergeifenden Aspekten; sie betrachten die regionalen Interdependenzen zwischen Montanregionen (Rainer Fremdling) und den Strukturwandel in Montanregionen (Björn Hansen).

Man wird zugestehen, dass zahlreiche wichtige Montanregionen berücksichtigt und andere (Siegerland, Eifel) aus vermutlich guten Gründen keine Beachtung gefunden haben. Dass jedoch eine der bedeutendsten Montanregionen, das Ruhrgebiet, weggelassen wurde, das erfordert zumindest eine Erklärung. Zwar wäre das Sample der Regionen dann hinsichtlich Größe und vor allem im Hinblick auf die wirtschaftliche Bedeutung noch uneinheitlicher geworden, aber hier hätte sich die Tragfähigkeit der „Mesoebene“ von „Landschaft“ und „Territorium“ prüfen lassen – vielleicht wäre man zu dem Ergebnis gekommen, dass dieses Gebiet in mehrere „Regionen“ unterteilt werden muss. Auf jeden Fall hätte die Erarbeitung der Daten auf Kreisebene, die vielen Autoren – verständlicherweise – so große Mühe bereitet und noch mehr Zeit gekostet hat, ohne dass sich der Aufwand ausgezahlt hätte, Sinn gemacht.

Die „Regionen“ sind, wie bereits bemerkt, höchst unterschiedlich groß; auch die betrachteten Zeitabschnitte sind, der jeweiligen Entwicklung entsprechend, keineswegs deckungsgleich. Bartels setzt mit Frühzeit und Mittelalter ein und lässt erst mit dem Jahr 1992 ausklingen, wobei er den Schwerpunkt jedoch auf die Zeit von 1700 bis 1914 legt; Banken beginnt 100 Jahre später, Kiesewetter und Paulinyi im Mittelalter, alle übrigen wählten das 19. Jahrhundert.

Im Hinblick auf die Region stellt Bartels fest, dass der Charakter der Montanwirtschaft des Oberharzes ganz anders war als der anderer Regionen, und das „unter sich wandelnden Außenbedingungen bei teilweise überaus beharrenden Rahmenverhältnissen in der Region“(S. 38), ferner dass „durch die natur- und kulturräumlichen Gegebenheiten ... die Spielräume, in denen sich der Industrialisierungsprozess entfalten konnte, von vornherein eng bemessen“ war (S. 39). In wie weit der „Oberharz“ als Region der „Mesoebene“ zuzurechnen ist, wird nicht diskutiert. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass das Ergebnis ohne den von Pierenkemper vorgegebenen Ansatz nicht anders ausgefallen wäre.

Banken konstruiert in der Erkenntnis, dass der Begriff „Saarland“ ebenso wenig wie das heutige Bundesland dieses Namens nicht mit dem Kohlen- und Erzrevier an der Saar gleichzusetzen ist und daher nicht als „sinnvolle Basis für eine historische Analyse des Industrialisierungsprozesses dieser Region dienen“ kann (warum eigentlich nicht?) und „Verwaltungseinheiten keine Wirtschaftsregionen abbilden“ (S. 59) (auch das trifft in der behaupteten Ausschließlichkeit nicht zu; denn das Saarland war nach beiden Weltkriegen eine eigene Wirtschaftsregion!), „auf der Basis der kleinsten Verwaltungseinheiten eine eigene Wirtschaftsregion“ (also doch Verwaltungseinheit als Wirtschaftsregion!). Ausgewählt wurden insgesamt zehn preußische und lothringische Kreise und Gemeinden sowie bayerische Gemeinden und Bezirkshauptämter, außerdem wurde eine Kernzone ausgewählt – das ganze nach dem „Homogenitätsprinzip“. Ist es dann verwunderlich, dass der sekundäre Sektor dominierte?! Und ob „im Vergleich mit anderen Montanrevieren ... das Saarrevier eine sehr starke Konzentration auf die beiden Montanbranchen Kohle und Eisen aufwies“ (S. 93), diese Aussage lässt sich erst dann treffen, wenn auch die anderen Reviere nach der von Banken angewandten Methode konstruiert und damit erst vergleichbar gemacht wurden. Verwirrend ist, unter den gegebenen Voraussetzungen, die Verwendung der Begriffe „Saarregion“ und „Saarregion und Minetterevier“ nebeneinander, oder wenn (Abb. 7) unter der Überschrift „rheinische und westfälische“ Werke wenigstens zwei saarländische erscheinen.

Kiesewetter untersucht zwar mit dem Kreisdirektionsbezirk Zwickau eine Region, die der vorgegebenen „Mesoebene“ zuzuordnen wäre, aber er macht ausdrücklich darauf aufmerksam, dass er diese eben nicht als eine „Industrieregion“, höchstens als die „Teilregion einer Industrie- bzw. Wirtschaftsregion“ ansieht (S. 104). Er plädiert dafür, solche Regionen zu vergleichen, „die über einem bestimmten Wert liegende Gebietsgrößen und Bevölkerungsdichten am Beginn des Industrialisierungsprozesses aufweisen, in denen die unterschiedlichen Faktoren so zum Tragen kommen, dass sie auch noch im 20. oder 21. Jahrhundert als politisch und wirtschaftlich autonome Staaten bzw. Teilstaaten existieren können“ (S. 103 f.). Was für diese Auffassung spricht, das erfahren wir nicht. Zu Recht macht er darauf aufmerksam, dass neben den im engeren Sinne industriellen Faktoren auch andere, z. B. geographische, klimatische oder politische, in eine Untersuchung einbezogen werden müssen. Unabhängig von den geäußerten Vorbehalten findet sich in seinen Kapitelüberschriften neben dem Begriff „Revier“ wiederholt auch der der „Region“. Als Ergebnisse hält er fest: „der Kreisdirektionsbezirk Zwickau ist ... keine Industrieregion, ... eine möglichst kleinräumige Regionalbildung wird nicht zu erklärenden Ergebnissen von Industrialisierungsprozessen kommen können, ... zwei Regionen in der gleichen Periode vergleichen zu wollen, setzt voraus, dass gleiche oder ähnliche Faktoren für die Industrialisierung verantwortlich sind, was selten der Fall sein wird, ... ein im strengen Sinn >spezifisches Verlaufsmuster< der industriellen Durchdringung von Montanregionen gab es nicht und kann es nicht geben ...“ (S. 147).

Pierenkemper betrachtet vorab den „Raum“ Oberschlesien naturräumlich, geologisch, politisch sowie kulturell und stellt fest, dass dieser vielfältig gegliedert ist und sich die „Industrie“ (gemeint ist die Montanindustrie) auf einen relativ kleinen Teil, nämlich vier Kreise, des Regierungsbezirkes Oppeln erstreckt. Im übrigen scheint sich das Problem des „regionalen Ansatzes“ auf die Gewinnung quantitativer Angaben zu reduzieren – und dass obwohl nach der Konstruktion der „Region“ die dafür gefunden Zahlen für die montanindustrielle Förderung und Erzeugung doch weitgehend mit denen für den genannten Regierungsbezirk übereinstimmen müssen!

Piatek versucht den Vorgaben zu entsprechen, indem er das niederschlesische Kohlenrevier in Bezirke und Kreise, teilweise sogar Werke unterteilt und dafür Zahlen nachweist, die einen Vergleich dieser Teilregionen untereinander, jedoch nicht ohne weiteres mit anderen Montanregionen erlauben; denn neben den verschiedenen Zweigen der Montanindustrie berücksichtigt er auch die in seiner Region stark vertretene Textilindustrie, den Maschinenbau, die Nahrungs- und Genussmittelindustrie sowie die Porzellanindustrie.

Van der Kerkhoff widmet sich einer Region, die bisher noch nicht grenzüberschreitend untersucht worden ist. Die wechselnden Bezirks-, Kreis- und Gemeindegrenzen im lothringisch-luxemburgischen Minettegebiet erschweren die kleinräumliche Regionenbildung; außerdem sind die in Belgien, Luxemburg und Frankreich erhobenen statistischen Angaben nicht nur zeitlich, sondern teilweise auch inhaltlich nicht ohne weiteres vergleichbar. Im übrigen wird z. B. bei den Beteiligungsziffern am Stahlwerksverband, der Roheisenproduktion sowie bei den Beschäftigten der Eisen- und Stahlindustrie, über die „Region“ hinausgegriffen.

Leboutte untersucht mit dem Lütticher Raum eine Region, die zwar kleinräumig ist, aber einen bedeutenden montanindustriellen Schwerpunkt bildete und die er in die Teilbereiche Hainaut und Liège unterteilt. Hier stellt er auch Vergleiche an, die über die Montanindustrie und teilweise auch über die Gesamtregion hinausgehen.

Paulinyi hütet sich, in die Problematik einer Inhaltsbestimmung der Begriffe „Wirtschaftslandschaft“, „Gewerbe- oder Industrielandschaft“, „Region bzw. Industrieregion“ einzusteigen. Er hält die inhaltliche Bestimmung für ein Problem, und „Region“ sei ein „reales historisches Problem“, deshalb seien „ihre Grenzen nicht beliebig festzustellen“ (S. 309 f.). Letztlich bestimme die Fragestellung des Wissenschaftlers, was als Region betrachtet werden könne. Dennoch biete die „von Sidney Pollard geforderte funktionale Betrachtung, der Gesichtspunkt des inneren Zusammenhaltes einer Region, >der viel mehr ist als ein bloßes Nebeneinander von Unternehmen< ... in dieser Allgemeinheit einen gut handhabbaren Leitfaden“ (S. 302).

Marck wiederum „komponiert“ seine mährisch-schlesische Montanregion – den Vorgaben gemäß – aus ausgewählten, möglichst kleinen Einheiten. Hauptkriterium für die Zugehörigkeit einer Verwaltungseinheit zu dieser Region ist die innere wirtschaftliche Homogenität im Vergleich zu anderen Einheiten. Diese wird anhand der Berufszugehörigkeit und der Verteilung der Montanunternehmen gemessen.

Fremdling, der der Interdependenz zwischen Montanrevieren nachgeht und neben den komplementären und wettbewerblichen die über die Konkurrenz auf den Absatzmärkten indirekt vermittelten Verflechtungen untersucht, nimmt keinerlei Begrenzung, ja nicht einmal eine Definition der berücksichtigten Steinkohlenreviere u. a. Englands, Westfalens und Oberschlesiens vor.

Hansen betont, dass die Frage der sachgerechten Abgrenzung von Wirtschaftsregionen ein Grundproblem jeder Untersuchung auf regionaler Ebene ist: „Ohne eine räumliche Abgrenzung, ohne eine genaue Definition des betrachteten Raumes, ist die Untersuchung einer Montanregion und auch einer anderen Wirtschaftsregion nicht möglich.“ (S. 389). Er wählt als Indikator für die gesamte wirtschaftliche Entwicklung der Regionen die menschliche Arbeit, also nur einen der Produktionsfaktoren, für den die Daten dieser aus wirtschaftshistorischer Sicht eher willkürlichen Stichjahre genügen müssen. Aussagen über kurzfristige Schwankungen sind für die hier betrachteten 25 Jahre nicht möglich. Die zur gleichen Zeit erhobenen Ergebnisse der Betriebszählungen werden nicht mitberücksichtigt, weil sie nur für zwei der drei Stichjahre in der für die Mesoebene verwendbaren Form vorliegen. Denn entsprechend der Vorgabe werden die Kreise – unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu größeren Verwaltungseinheiten und den Staaten des Deutschen Reiches – zu Regionen zusammengefasst, die über eine sehr ähnliche Erwerbsstruktur verfügen, also homogen sind, und die aneinandergrenzen. Mit einer „Montanregion“ haben wir es nach der Definition von Hansen dann zu tun, wenn mindestens 7% der Erwerbstätigen eines Kreises oder wenn mindestens 2000 Erwerbstätige eines Kreises im Montanbereich tätig sind. Dabei wurden die beiden Kriterien so gewählt, dass auf ihrer Basis mehrere prägnante Montanregionen ermittelt werden können. Es liegt auf der Hand – und wird vom Autor auch freimütig zugestanden, dass letztendlich die Entscheidung für diese Schwellenwerte willkürlich ist. Das ist jedoch von Bedeutung, weil das für die Struktur der Regionen und zugleich auch für die weitere Analyse entscheidend ist. Da allein die Erwerbstätigkeit und damit der Wohn- und nicht der Arbeitsort der Erwerbstätigen für die Bestimmung der Regionen ausschlaggebend ist, werden Kreise als Teile von Montanregionen angesehen, in denen sich weder Bergbau noch sonstige Montanindustrie befanden!

Dieses Beispiel macht besonders anschaulich, wie beliebig, um nicht zu sagen willkürlich, trotz Vorgaben, die Regionen gewählt wurden, und dass ein interregionaler Vergleich des Wirtschaftswachstums der vorgestellten Montanregionen nicht möglich ist.

So bleibt nur, den Verfassern für die auf früheren Forschungsergebnissen fußenden, jedoch für diesen Zweck in einen neuen Blickwinkel gerückten Forschungsergebnisse zu danken. Sie sind z. T. sehr anregend und bedenkenswert, jedoch weitgehend unabhängig von dem mit großem Aufwand für die jeweilige Region zusammengestellten Datensatz. Dass es dazu eines eigenständigen Forschungsansatzes bedürfte, das ist dem Rezensenten nicht klar geworden.

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