M. Borgolte u.a. (Hrsg.): Transkulturelle Verflechtungen im Mittelalter

Cover
Titel
Transkulturelle Verflechtungen im mittelalterlichen Jahrtausend. Europa, Ostasien und Afrika


Herausgeber
Borgolte, Michael; Tischler, Matthias M.
Erschienen
Anzahl Seiten
271 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sita Steckel, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die Themen der Migration, des Überschreitens von Grenzen und der resultierenden transkulturellen Verflechtung erfreuen sich nicht nur in der Erforschung der Moderne, sondern auch der des Mittelalters seit Jahren erheblicher Aufmerksamkeit. Der anzuzeigende Band dokumentiert dieses Interesse, indem er die Beiträge zweier mediävistischer Sektionen des Historikertags 2010 vorlegt und erweitert. Er macht damit nicht zuletzt theoretische und methodische Überlegungen zugänglich, die im Rahmen längerfristiger Forschungsprojekte der beiden Herausgeber Michael Borgolte und Matthias M. Tischler gemeinsam mit Kollegen/innen verschiedener Disziplinen angestellt und auf dem Historikertag diskutiert wurden.

Der Band bietet insofern einen interessanten Querschnitt zu mehreren aktuellen Themenbereichen – einerseits dem Gebiet der Migration, andererseits der transkulturellen Verflechtung von Identitäten und religiösen oder wissensgeschichtlichen Formationen, die hier mit dem von Walter Benjamin entlehnten Begriff der ‚Passagen’ gefasst wird. Die Beiträge dieser beiden Hälften des Bandes sind in sich daher methodisch oder inhaltlich zwar nicht homogen oder geschlossen. Sie wollen und müssen dies jedoch auch nicht unbedingt sein. Tatsächlich legen beide Herausgeber (in der Einleitung sowie eigenen Beiträgen/Kommentaren) ebenso wie zahlreiche Beiträger das Schwergewicht ihrer Überlegungen weniger auf die Entwicklung einer geschlossenen Perspektive und Begrifflichkeit – es wird vielmehr durchgängig die Vielzahl von möglichen historischen Formationen und Transformationen betont, die sich unter den Schlagworten ‚Migration’ und ‚Passagen über Grenzen’ vollziehen können.

Michael Borgoltes Überlegungen zu Migration, die publizierte Vorarbeiten fortsetzen und rekapitulieren 1, machen so den Leser in der Einleitung und einer ‚Pilotstudie’ zum frühmittelalterlichen Langobardenreich zunächst mit den verwendeten Ansätzen zur transkulturellen Verflechtung vertraut. Sie erarbeiten dann mit ihrer Hilfe einen komplexen Zugang zur Migrationsgeschichte, den Borgolte mit erheblicher Sachkenntnis und einigem Elan auf die sehr kontroverse Geschichte der Langobarden anwendet.

Die weiteren Beiträge zum Thema Migration – in Asien, Europa und Afrika – greifen jeweils in sehr differenzierter Weise auf Migrationsprozesse zu und entwickeln die methodischen Überlegungen in verschiedene Richtungen weiter. Aus Platzgründen seien die durchgängig qualitätsvollen und teils sehr detaillierten Beiträge nur in einigen weiterführenden Schwerpunktsetzungen erwähnt: Marianne Bechhaus-Gersts Studie zum Reich Makuria im Nordsudan als hybridem Raum und Klaus Vollmers Überlegungen zu Japan zwischen ‚isoliertem Inselland’ und ‚zum Meer geöffneten Archipel’ setzen sich besonders mit Raum als Grundlagenkategorie für transkulturelle Verflechtungen auseinander. Während Bechhaus-Gerst die komplexe Hybridität ihres Untersuchungsraums herausstellt, konturiert Vollmer in höchst interessanter Weise die in der transkulturellen Forschung stark umstrittenen Begrifflichkeiten von ‚Zentrum’ und ‚Peripherie’, indem er Binnenzentren und -peripherien der sich wandelnden japanischen Kultur ausmacht. Angela Schottenhamers Studie zu ‚westasiatisch-muslimischer’ Medizin im Yuan-zeitlichen China verfolgt aus der Perspektive der chinesischen Quellen Prozesse des Transfers westlicher medizinischer Praktiken und der Migration westasiatischer Ärzte nach China, und kann dabei insbesondere die Bedeutung sozialen und politischen Prestiges als Attraktor herausstellen.

Die drei Beiträge von Michael Borgolte zum frühmittelalterlichen Langobardenreich, von Kordula Wolf zum Konzept des Gihad in muslimischen Migrationen im hochmittelalterlichen Süditalien sowie von Benjamin Scheller zu Migrationen und kulturellen Hybridisierungen im normannischen Sizilien beschäftigen sich sämtlich mit kriegerisch geprägten Aspekten von Migrationsprozessen und heben nicht nur Verflechtungsprozesse, sondern auch Widerstände gegen diese hervor. Tatsächlich muss es der Forschung, wie Schellers Beitrag herausstellt, auch darum gehen, das längst überstrapazierte Konzept der Hybridität irgendwie zu konturieren. Gerade sein Beitrag nimmt insofern auch Stellung zu begrifflichen und konzeptuellen Streitigkeiten innerhalb der Forschungsfelder der Postcolonial Studies und Transkulturalität. Wie auch andere Beiträge des Bandes weist er in Richtung einer historischen Konkretisierung und Differenzierung von Verflechtungen, und zeigt unterschiedliche Ansatzpunkte zu weiterer Untersuchung auf, etwa die Frage nach ‚Hybridisierung und Dehybridisierung’ (S. 169) oder nach ‚Ambiguitätstoleranz’ bzw. ‚Hybriditätstoleranz’ (S. 180) politischer und religiöser Ordnungen. Ganz pointiert stellt auch Kommentatorin Gudrun Krämer die Frage nach der Intention von Hybridisierungen.

Umso interessanter gestalten sich vor diesem Hintergrund die abschließenden drei Beiträge, die sich an der von Walter Benjamin formulierten Vorstellung von ‚Passagen über Grenzen’ orientieren. Die drei Autor/innen stellen in ihren fokussierten und knappen Fallstudien dabei letztlich weitreichende Fragen nach den unterliegenden Motiven und strukturellen Anlässen transkultureller ‚Passagen’, die daher etwas genauer diskutiert seien.

Jenny Rahel Oesterle dekonstruiert unter dem offenbar etwas ironischen Obertitel ‚Grenzenlose Multireligiosität’ zunächst meisterhaft typische moderne Vorstellungen über die Entstehung von religiösem Pluralismus. Wie sie aus einer Detailanalyse verschiedener Rivalitäten und Intrigen am fatimidischen Hof in Kairo zeigt, lassen sich religiöse policies der fatimidischen Herrscher, etwa zur Ämterübernahme von Christen und Juden am Hof, nicht aus religiösen, sondern vor allem aus machtpolitischen Konfliktkonstellationen erklären, die sich der Religionszugehörigkeit als Argument bedienten. Rivalisierende Ansprüche auf Macht und Herrschergunst durch christliche, jüdische und islamische Amtsinhaber „wurden als Auseinandersetzung ins religiöse Feld verlagert“ (S. 200) und dort teils sogar in Disputationen etc. ausgetragen. Geradezu exemplarisch zeigt Oesterle damit, dass Religion zwar eigene Dynamiken entfalten kann, die Antriebsmomente religiösen Wandels aber doch meist in der Verknüpfung mit politischen Konstellationen gesehen werden müssen.

Daniel König geht in einer faszinierenden wissensgeschichtlichen Studie der Gewinnung und Speicherung von gelehrtem Wissen über das Papsttum und das römisch-deutsche Reich durch islamische Gelehrte nach. Er lenkt damit die Aufmerksamkeit auf die strukturellen Bedingungen, unter denen derartige Passagen von Wissen als ‚transkulturelle Dokumentation’ überhaupt ablaufen konnten. Mit den Hinweisen auf Informationsunsicherheit, Sprachbarrieren und Kontextualisierungs- und Interpretationsprobleme geht er in systematisierender Absicht den vielfachen Brechungen nach, denen das Wissen der muslimischen Gelehrten auch bei besten Absichten und hohen Ansprüchen auf Wissenschaftlichkeit unterworfen war. Wie sich zeigt, wäre die Materialität und wissensgeschichtliche Konstitution von Wissen über ‚Fremde’ sicherlich weitere Forschungen wert.

Frederek Musall wendet sich schließlich einer hochinteressanten möglichen weiteren Passage von Wissen im islamisch-jüdischen Austausch zu und stellt die Frage nach untergründigen Motiven. Er diskutiert, ob die als ‚Buch der Erkenntnis’ betitelte Einleitung der ‚Mishneh Torah’ des Moses Maimonides möglicherweise viel stärker von der ebenfalls ‚Buch der Erkenntnis’ genannten Einleitung Al-Ghazalis zu seiner ‚Ihya’ ‘ulum ad-din’ beeinflußt war als angenommen. Erwähnt wird Al-Ghazalis Buch, das Maimonides bekannt gewesen sein wird, zwar nicht – doch lassen sich interessante Ähnlichkeiten und Parallelen aufweisen. Zudem nahm Abraham, der Sohn des Moses Maimonides, auf den Spuren seines Vaters weiterhin zu von Al-Ghazali thematisierten Fragen Stellung. Mit der Frage, aus welchen Gründen und unter welchen Bedingungen transkulturelle Verflechtungen auch als solche ausgewiesen oder aber aus Gründen der Identitätsbildung verschleiert wurden, thematisiert Musall damit abschließend Zuordnungsschwierigkeiten und Motivationen, die ein notorisches, aber keineswegs auswegloses Problem der Kulturtransferforschung darstellen. Ein knapper Kommentar von Matthias M. Tischler beschließt den Band, der übrigens mit einem Register versehen ist.

Insgesamt ist der Band keineswegs homogen und könnte in verschiedenen Hinsichten kritisiert werden, etwa den sehr spärlichen Bezügen auf Forschungen zu Migration und Passagen in der Moderne. Er dürfte mit seinen vielfältigen und breitgestreuten Beiträgen für Mediävist/innen wie für interessierte Moderne-Historiker/innen aber immer wieder Denkanstöße zu aktuellen theoretischen und methodischen Fragen geben. Nicht zuletzt tritt in den Beiträgen wiederholt in den Vordergrund, dass die Erforschung transkultureller Verflechtung sich nicht im Studium linearer ‚Transfer’-Bewegungen erschöpfen darf, sondern auch mehrdimensionale Ver- und Entflechtungen und die Rolle von Hindernissen und bewußten Widerständen gegen Passagen von Personen, Dingen oder Ideen umfassen muss. Für den Historikertag 2012 ist auch schon die zu den ‚Passagen über Grenzen’ passende Sektion des Mitherausgebers Tischler zu ‚Verbotenen Passagen’ angekündigt, die die Debatte fortsetzen dürfte. Obwohl der Band keine Überblicksdarstellung geben kann und will (und für Studierende ohne Vorkenntnisse wohl etwas zu hoch einsteigt) dürfte er für Anhänger der Verflechtungsforschung damit hochwillkommene Lektüre darstellen.

Anmerkung:
1 Vgl. bes. Michael Borgolte, „Migrationen als transkulturelle Verflechtungen im mitelalterlichen Jahrtausend. Ein neuer Pflug für alte Forschungsfelder“, in: Historische Zeitschrift 289 (2009), 261-285; Michael Borgolte/ Julia Dücker / Marcel Müllerburg / Bernd Schneidmüller (Hrsg.), Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter, Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik 18, Berlin 2011.

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