N. Berg (Hrsg.): Kapitalismusdebatten um 1900

Titel
Kapitalismusdebatten um 1900. Über antisemitisierende Semantiken des Jüdischen


Herausgeber
Berg, Nicolas
Reihe
Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 6
Erschienen
Anzahl Seiten
461 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hannah Ahlheim, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Universität Göttingen

Der jüdische Philosoph Julius Guttmann formuliert in seiner ausführlichen, kritischen Besprechung von Werner Sombarts 1911 erschienener Schrift „Die Juden und das Wirtschaftsleben“ den oft zitierten Satz, Sombart habe in seinem Werk „eine ungemein glückliche Fragestellung in ihrer Bedeutung erschlossen“.1 Tatsächlich ist Sombarts Studie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch bei einem breiten, nichtwissenschaftlichen Publikum Erfolge feierte, noch immer viel diskutiert. Schließlich formuliere Sombart, so Nicolas Berg, „die trianguläre Verknüpfung von ‚Judentum‘, ‚Kapitalismus‘ und ‚Moderne‘ nachgerade klassisch“ (S. 16). Es ist also kein Zufall, dass Sombarts Thesen in beinahe allen Beiträgen des von Berg herausgegebenen Sammelbandes „Kapitalismusdebatten um 1900 – Über antisemitisierende Semantiken des Jüdischen“ diskutiert werden.

Den Autor/innen des Sammelbandes geht es um die „dramatische Verschränkung von ökonomischer Weltdeutung und judenfeindlicher Projektion“ (Diner, S. 8). Sie betten die Auseinandersetzung mit Sombart ein in den größeren Kontext der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten um das Wesen, die Ursachen und die Auswirkungen des Kapitalismus um 1900. Der Band versucht, diese Debatten „über den Zugriff der Sprache und der Begriffsbildung zu verstehen“ (Berg, S. 13), und bindet Artikel über den „Wissenschaftsstil“ und Schlüsseltexte der Nationalökonomie und über jüdische Historiographie zusammen mit Beiträgen etwa zu Gustav Freytags Roman „Soll und Haben“ oder zum „Judenland“ Amerika in der Literatur. Die unterschiedlichen zeitgenössischen Beiträge zu den Kapitalismusdebatten verstehen die Autor/Innen als „Verarbeitungsform gesellschaftlich bedingter Veränderungen im Verhältnis von Subjekt und Welt“ (Achinger, S. 362).
Auf im Gesamtbild überzeugende und umsichtige Art und Weise untersuchen die Beiträger des Sammelbandes detailliert Sombarts Argumentation, die, grob gefaßt, die Juden auf der Basis ihrer „ganz bestimmten jüdischen Eigenart“ (Lenger, S. 243) als „Begründer“ des Kapitalismus darstellte. Sombart, darin sind sich die Autoren einig, „hauchte“ nicht nur dem „Klischee“ vom Import des Kapitalismus in die christliche Gesellschaft durch die Juden „neues Leben ein“ (Karp, S. 63), er zeigte „bewussten Realitätsverzicht“ (Kamphausen, S. 114), und vor allem im letzten Kapitel seines Werkes formulierte er, so der Sombart-Biograph Friedrich Lenger, sein „rassenanthropologische[s] Glaubensbekenntnis“ (S. 245).

Die Analyse der Reaktionen auf Sombarts Buch und die Einordnung in das größere Feld der Kapitalismusdebatten zeigen dann, inwiefern Sombart mit seiner „Fragestellung“ auch bei seinen Kritikern den „Nerv der Zeit“ (Metzler, S. 291) traf. So spielten die Fragen, wie das Wirtschaftsleben der Juden und die „allgemeine soziale Transformation“ (Karp, S. 54) zusammenhingen und welche Folgen diese Transformation für die Situation von Juden in der Gesellschaft hatte, auch für jüdische Wissenschaftler eine große Rolle (Meyer). Zur selben Zeit setzten sich zahlreiche Ökonomen und Soziologen, nicht zuletzt Max Weber und Georg Simmel, mit der Genese und den Wirkungen des Kapitalismus und der spezifischen Rolle von Juden auseinander (Muller; Liess; Kamphausen; Tyrell; Köhnke; Rieß). Waren die Juden, so die grundlegende Frage, tatsächlich die „Begründer“ des Kapitalismus, oder wurden sie „mit unerbittlicher Folgerichtigkeit immer wieder in den Handel“ hineingepresst (Franz Oppenheimer nach Berg, S. 14)?

Die Wirkung von Sombarts Buch war, das zeigt Tobias Metzler, nicht auf Deutschland beschränkt. Es rief, wenn auch zeitversetzt, etwa in Amerika, auf den Britischen Inseln und in Frankreich intensive Diskussionen und ambivalente Reaktionen hervor, gehörte doch der „Topos der Affinität von Juden und Kapitalismus“ auch dort zum „soziokulturellen Repertoire“ (S. 291). Unter anderem am Beispiel der Bewegung der Bimetallisten in Großbritannien, die den Goldstandard als Werkzeug der „jüdischen Finanzwelt“ bekämpften, belegt auch Mark Loeffler, dass die antisemitischen Bilder vom „jüdischen Finanzkapital“ und der guten, „schaffenden“ Produktionssphäre sich zwar in den einzelnen europäischen Ländern unterschieden, aber gerade angesichts der sehr unterschiedlichen ökonomischen und politischen Landschaften erstaunliche Ähnlichkeiten aufwiesen (S. 117) und offensichtlich grundlegende gesellschaftliche Konflikte der modernen Wirtschaftsordnung ansprachen (S. 124 ff.).

Der noch immer zu selten gewagte Blick über die deutschen Grenzen hinaus ist eine der großen Stärken dieses Sammelbandes – ebenso wie die gelungene Fragestellung, die den Zusammenhang ökonomischer, scheinbar „rationaler“ Kontexte und antisemitischer Stereotypen und Weltbilder in Blick nimmt, und der reflektierte Umgang mit aktuellen und zeitgenössischen wissenschaftlichen Methoden. Das zeigt unter anderem Thomas Haurys Artikel über Karl Marx' viel diskutierten und mit antisemitischen Stereotypen gespickten Beitrag „Zur Judenfrage“. Nach Haury muss der Text, der im Kern eine Erwiderung auf Bruno Bauers „Die Judenfrage“ ist, vor allem gelesen werden als der Versuch, die Ansätze einer materialistischen Geschichtsschreibung zu verteidigen. Es sei Marx im Kern nicht um die für ihn in seinen übrigen Schriften kaum interessante „Judenfrage“ gegangen, sondern darum, an diesem Beispiel Bauers Argumentation – der politischen und gesellschaftlichen Emanzipation der Juden stehe ihre religiöse Eigenart im Wege – vom Kopf auf die Füße zu stellen und zu belegen, dass im Gegenteil die kapitalistische Wirtschaftsweise das Phänomen „Judentum“ erst hervorgebracht habe. Allerdings habe Marx bei der „Umkehrung von Subjekt und Prädikat“ in diesem Fall „methodisch wie theoretisch Schiffbruch erleiden“ müssen (S. 163) – denn sowohl die materielle Situation der jüdischen Minderheit als auch die Vorstellungen vom „Juden“ seien von einem „ideologischen Dritten, der antisemitischen Denkform“ bestimmt gewesen (S. 164).

Wie dieses „ideologische Dritte“ seinen Weg auch in die Wissenschaft findet, danach fragen die Beiträge zur Tradition und Arbeitsweise der deutschen Nationalökonomie (Liess; Kamphausen) und ihrer engen Verbindung mit dem Nationalsozialismus (Petersen). So sucht Hans-Christoph Liess in den methodischen Grundsätzen und Traditionen der Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie die Ursache für die „Ideologieanfälligkeit“ von Sombarts Wissenschaft. Der Versuch, „durch Nacherleben individuelle historische Kulturerscheinungen zu deuten“ (Liess, S. 94), da schließlich „alle Kultur Geist von unserem Geiste“ sei (Sombart nach Liess, S. 81), habe ein Tor geöffnet für das Eindringen „historisch wirksamer normativer Begriffe“ (S. 82). Im Gegensatz zum „historisierenden Sonderweg in der deutschen Nationalökonomie“ (Kamphausen, S. 96) habe die Reflexion des eigenen Erkenntnisinteresses etwa bei Weber oder der auf allgemeingültige theoretische Muster ausgerichtete „Wissenschaftsstil“ der Österreichischen Schule der Nationalökonomie davor geschützt, antisemitische Stereotype zu reproduzieren.

Die einzige Autorin des Bandes, Christine Achinger, und Heinrich Schwendemann nehmen am Beispiel von Gustav Freytags Roman „Soll und Haben“ dann „jene Formen antisemitischen Denkens“ in den Blick, „die sich gewissermaßen hinter dem Rücken ihrer Proponenten durchsetzen“ (Achinger, S. 363). Sie arbeiten heraus, wie in der „Bibel des deutschen Bürgertums“ (Schwendemann, S. 333) vor allem anhand der Figuren von Anton Wohlfart und Veitel Itzik die Kollektive einer „produktiven“ Gemeinschaft der Deutschen und der destruktiven, allenfalls scheinbar „assimilierten“ Juden gegeneinander konstruiert werden. Während der jüdische „Händler“ Veitel allein den Tauschwert der Waren sehe, spüre der „Kaufmann“ Anton die Materialität und „Poesie“ der Dinge, erfahre auf sinnliche Art die in ihnen enthaltene, konkrete menschliche Arbeit (Achinger, S. 372f.). Die Idee von der produktiven „deutschen Arbeit“ „kuriere“ so selbst in der Figur des Kaufmanns noch die „Entfremdungsphänomene der Moderne“ (S. 377), hochgradig abstrakte und dem einzelnen nicht direkt zugängliche ökonomische Strukturen würden erfahrbar durch Antons Einsicht in die Bedingungen der arbeitsteiligen Produktion.

Achinger versucht, ein komplexes Thema begrifflich zu fassen, das, wie schon angedeutet, alle Beiträge des Sammelbandes durchzieht: Es geht bei der Auseinandersetzung mit „antisemitisierenden Semantiken“ um das Zusammenspiel globaler ökonomischer Prozesse, „die die Menschen den Zwängen abstrakter historischer Kräfte“ unterwerfen, „die sie nicht durchschauen können“ (Postone, S. 438), und (scheinbar) konkreter, individuell erfahrbarer und fassbarer Situationen, es geht um handfeste, materielle Prozesse und ihre kulturelle Vermittlung. Gleichzeitig erfordert das Thema ein Nachdenken über die Grundlagen und Möglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis und Kritik, über ihre Gebundenheit an aktuelle ökonomische Strukturen und Vorstellungen – und, so lautet zumindest Moishe Postones Fazit auf der letzten Seite des Bandes, über die Notwendigkeit, die „Herrschaft des Kapitals als solches“ (S. 453) zu begreifen, um nicht dem Reiz verkürzter Formen gesellschaftlicher Kritik zu erliegen.

Die Beiträge des Sammelbandes legen nahe, dass die Untersuchung der „diskursiven Vermittlungen des Kapitalismus“, die konsequent die Zeitgebundenheit von Begriffen, Denkstilen und Erklärungsmustern betont, eine Möglichkeit darstellen könnte, „von der ‚kulturellen Wende‘ in der Geschichtswissenschaft und den Sozialwissenschaften zu lernen und zugleich einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden, in die sie geführt hat“ (Loeffler, S. 118).

Anmerkung:
1 Julius Guttmann, Die Juden und das Wirtschaftsleben, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 36 (1913), S. 149-12, hier S. 149.

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