Cover
Titel
Building a New Man. Eugenics, Racial Science and Genetics in Twentieth Century Italy


Autor(en)
Cassata, Francesco
Reihe
CEU Press Studies in the History of Medicine
Erschienen
Anzahl Seiten
438 S.
Preis
€ 44,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Björn Felder, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August Universität Göttingen

Die Theorien des Italieners Cesare Lombrosos gegen Ende des 19. Jahrhunderts über „Atavismus“ und die genetische Bedingtheit von Kriminalität begründetet nicht nur die Kriminalanthropologie, unterstützte die Diskurshoheit des Neodarwinismus, sondern förderte auch durch den Rückschluss von biologischer Bedingtheit auf Verhalten und “Wert“ eines Menschen rassistische Denkmuster in Wissenschaft und Politik. Es ist erstaunlich, dass sein Werk, das weltweit die wissenschaftlichen Debatten beeinflusste, in Italien negativ aufgenommen wurde. So fanden seine Theorien in der eugenischen und rassenbiologischen Debatte Italiens seit der Jahrhundertwende nur sehr geringen Widerhall. Im Allgemeinen lehnte man dort die Vorstellung der deterministischen Genetik ab und favorisierte die neo-larmackistische Sichtwiese der Vererbung erworbener Eigenschaften. Im Grunde blieb diese Haltung bis weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten, folgt man der Darstellung von Francesco Cassata, der sich ausführlich mit den Themen, Faschismus, Rassismus, Genetik und Eugenik in Italien befasst hat. Der vorliegende Band wurde bereits 2006 in Italien veröffentlicht und liegt nun in deutscher Fassung vor.

In seiner Arbeit beschreibt Cassata die eugenische und rassenanthropologische Debatte, sowie die Diskussion um die praktische Eugenik und deren tatsächliche Umsetzung vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis in späten 1960er-Jahre in Italien. Cassata beschreibt die Debatte anhand von Denkschulen und Wissenschaftlern, wobei die Kontinuität der Akteure wie etwa der Statistiker und Eugeniker Corrado Gini über die verschiedenen Regime und Jahrzehnte hinweg frappierend ist, allenfalls mit kurzzeitigen Veränderung in den 1940er-Jahren, als eine Annäherung an den Nationalsozialismus erfolgte, oder nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich die eugenische Bewegung neu ausrichten musste. Die eugenische Debatte begann ihre Entfaltung vor dem Ersten Weltkrieg und verstärkte sich nach dem Krieg durch die Gründung mehrerer eugenischer Gesellschaften und Forschungsinstitute. Durch die Kritik an der „nordischen“ Eugenik in Deutschland, Skandinavien und dem angelsächsischen Bereich die in Italien mit „negativer“ Eugenik, sprich Sterilisationen, kontextualisiert wurden, kam es in Italien in der Zwischenkriegszeit zu keiner praktischen Umsetzung eugenischer Vorstellungen. Allein im Eherecht kam es zu einer „Empfehlung“ erbgesundheitlicher Untersuchungen, die aber praktisch keine Auswirkungen auf die „Ehetauglichkeit“ hatten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, in den 1950er-Jahren, wurden eugenische Beratungsstellen eingerichtet. Auch auf dem Gebiet der Rassenanthropologie kam es zur Ablehnung der „nordischen“ Richtung und deren Vorliebe für die „nordische Rasse“. In diesem Zusammenhang folgte die italienische Eugenik auch weniger dem deutschen Konzept der Rassenhygiene, sondern entwickelte das Konzept einer Volkseugenik, in der Aufstieg von Mitgliedern der Unterschicht bzw. der Arbeiterklasse eben nicht als „Verpöbelung“, sondern als biologische Auffrischung der „Rasse“ verstanden wurde. Cassata betont freilich, dass die neo-lamarckistische Ausrichtung keinesfalls frei von Rassismus war. So wurden die weißen Europäer als Spitze der Evolution gesehen. Auch herrschten Vorstellungen über biologische „Minderwertigkeit“ vor, dies galt etwa für angenommene psychisch und anderweitig erbbiologisch Kranke. So nahmen italienische Eugeniker auch an den globalen Netzwerken teil, die wie im Falle der International Federation of Eugenics Organisations (IFERO) in den 1930er-Jahren stark von deutschen Rassenhygienikern beherrscht wurden. Auch gab es immer wieder einzelne Vertreter neo-darwinistischer Vorstellungen, die radikale eugenische Maßnahmen forderten. Mussolinis faschistischer Staat ließ sich aber davon nicht überzeugen und verfolgte schließlich eine streng pro-nationalistische Politik, gleichwohl er zu den biopolitischen Staaten, dem Rassestaat, gezählt wird. Pro-Natalismus wurde durchaus als eugenisches Instrument betrachtet, sollten die gesteigerten Geburten die „natürliche Selektion“ und damit die genetische Auslese fördern – ganz im Sinn der italienischen Eugeniker. Erst in den späten 1930er-Jahren kam es zu einer Dominanz radikaler, rassenhygienischer, rassenbiologischer und antisemitischer Vorstellungen, beeinflusst durch das nationalsozialistische Deutschland; doch auch hier kam es laut Cassata zu keiner praktischen Umsetzung. Bemerkenswert sind die Debatten der radikalen Rechten, wie des Esoterikers und Radikalkonservativen Julius Evola, der seinerseits dem biologischen Rassendenken ein „geistiges“ entgegensetzte, das freilich nicht weniger antisemitisch war.

Die Übergänge zur Nachkriegszeit waren erstaunlich fließend. Hier wie bereits in der Zwischenkriegszeit hatte die Katholische Kirche direkten Einfluss auf den Diskurs und etablierte sogar eigene genetische Forschungsinstitute. Wie auch im übrigen Europa wurde die Genetik zum Hauptfeld der Debatte, doch zeigt Cassata deutlich die Kontinuität der eugenischen Agenda bis in die späten 1960er-Jahre.

Cassata bietet ein umfassendes Bild der eugenischen Debatte in Italien mit den angeschlossenen Disziplinen der Genetik, Anthropologie und Psychiatrie und deren Unterdisziplinen wie der Kriminalanthropologie. Freilich folgt Cassata dem klassischen Narrativ der Ideengeschichte, wohl auch, da es sich um eine Diskursgeschichte handelt und keine praktische Umsetzung erfolgte. Augenfällig wird wie sehr der Pro-Natalismus Teil der eugenischen Debatte war und nicht ohne diese gedacht werden kann, wie es oft im sowjetischen Kontext der Fall ist. Trotz Cassatas ausführlicher Darstellung vermisst man Hinweise zur italienischen Abtreibungsdebatte und Praxis. In vielen Ländern bot die Abtreibung eine Möglichkeit für eine versteckte eugenische Maßnahme oder schuf eine rechtliche Grauzone, die eugenische Abtreibungen mittels „medizinischer Indikation“ ermöglichten, wie es im katholischen Litauen der Fall war, aber auch in der Sowjetunion nach dem offiziellen Abtreibungsverbot von 1936.

Cassata zeigt deutlich, wie stark die katholische Ethik und die katholische Kirche selbst den eugenischen Diskurs und die Haltung der Bio-Mediziner beeinflussten. Im Vergleich mit anderen katholischen Staaten hätte man sich hier sozial- oder kulturgeschichtliche Erklärungen gewünscht. So standen etwa in Polen und Litauen die medizinischen Eliten bezüglich der eugenischen Debatte im Gegensatz zur katholischen Kirche.

Gleichwohl bietet Cassatas Arbeit nicht nur eine ausführliche Darstellung der eugenischen Debatte, sie ist auch eine umfassende Darstellung, die das Modell der „katholischen Eugenik“ beleuchtet. Darüber hinaus ist Cassatas Buch ein wichtiger Baustein zum Verständnis der Eugenik und der biopolitischen Moderne in Europa.

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