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Titel
Berlin-Bonner Balance. 20 Jahre deutsch-deutsche Beziehungen. Erinnerungen und Erkenntnisse eines Beteiligten


Autor(en)
Seidel, Karl
Erschienen
Berlin 2002: edition ost
Anzahl Seiten
439 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hermann Wentker, Institut für Zeitgeschichte, Außenstelle Berlin

Karl Seidel war seit seinem Eintritt in das DDR-Außenministerium (MfAA) 1956 mit einer Unterbrechung in der für Westdeutschland zuständigen Abteilung tätig. 1969 wurde er zum stellvertretenden, im Juli 1970 zum Leiter der Abteilung Westdeutschland befördert, die seit 1971 als Abteilung BRD firmierte. In dieser wichtigen Position wirkte er an der Deutschlandpolitik der DDR bis zu deren Untergang im Jahre 1990 mit. Der Wert seiner Erinnerungen als zeithistorische Quelle ist freilich durch drei Faktoren beeinträchtigt. Wie alle Autobiographien ist auch diese aus der "ex-post-Perspektive" geschrieben und beleuchtet die Geschehnisse allein aus der Sicht des Autors. Als zweites kommt hinzu, dass Seidel eifrig die Memoiren anderer, Dokumenteneditionen und zum Teil auch die einschlägige Fachliteratur eifrig rezipiert hat. Bisweilen kann er damit Behauptungen anderer richtig stellen: So sei beispielsweise Egon Bahr, anders als dieser selbst behauptet, nicht zur Vorbereitung des Besuchs von Helmut Schmidt im September 1981 nach Ost-Berlin gekommen, sondern um Kontakte zwischen SPD und SED in Abrüstungsfragen herzustellen (S.258f.).

Die Benutzung gedruckten Materials führt jedoch auch dazu, dass sich Seidel über weite Passagen hinweg selbst als Historiker versucht. Damit verschwimmen die Grenzen zwischen Memoiren und historischer Darstellung so weit, dass manchmal unklar ist, ob der Autor aus der eigenen Erinnerung oder aus anderen Quellen schöpft. Das beeinträchtigt, drittens, den Neuigkeitswert großer Teile des Buches. Vieles ist auch durch Seidel selbst bekannt geworden, der sich bereits an anderer Stelle schriftlich oder mündlich zu dem einen oder anderen Sachverhalt geäußert hat 1. Trotz dieser Nachteile bietet der Band eine ganze Reihe von Informationen, die das Bild der DDR-Deutschlandpolitik in den siebziger und achtziger Jahren ergänzen.

Bei der eingehenden Behandlung der deutsch-deutschen Verhandlungen von 1969/70 bis 1972 wird deutlich, dass Seidel von der Untersuchung Monika Kaisers stark beeinflusst ist. Diese sieht in Ulbricht nicht den Bremser, sondern den Befürworter einer Entspannung mit der Bundesrepublik. Contre coeur habe er sich jedoch die Maximalforderungen Moskaus nach völkerrechtlicher Anerkennung der DDR bei den ersten Gesprächen zu eigen gemacht, was eine Annäherung verhindert, der Kreml-Führung aber ermöglicht habe, Zeitpunkt und Tempo der deutsch-deutschen Verhandlungen zu bestimmen 2. Deutlicher als bisher wird durch die Darstellung der Verhandlungen über das Transitabkommen, den Verkehrsvertrag und den Grundlagenvertrag - an denen Seidel direkt beteiligt war -, dass das vom Autor als zu weitgehend betrachtete Entgegenkommen Honeckers wesentlich zu den Vertragsabschlüssen beitrug. Weitgehend unbekannt war bisher, wie sehr die DDR noch vor Unterzeichnung des Grundlagenvertrags darauf drängte, mit westdeutscher Hilfe in die UNO, und, als Vorstufe dazu, in die UNESCO zu gelangen.

Für wie sensibel der führende DDR-Unterhändler Michael Kohl die ganze Arbeit hielt, geht daraus hervor, dass er auf Wortprotokollen der offiziellen Verhandlungen bestand. Seidel selbst hielt dies "für unklug, da damit der Spielraum des DDR-Verhandlungsführers eingeengt wurde. Michael Kohl wollte aber nachweisen, dass er sich streng an die vorgegebene Linie hielt" (S.138). Dass sich dabei die Bedenken des Chef-Unterhändlers mit den Vorgaben der Führung deckten, geht auch aus der Information Seidels hervor, dass er nach Errichtung der Ständigen Vertretungen zunächst für jedes offizielle oder inoffizielle Gespräch mit Günter Gaus "die Zustimmung Honeckers einholen und eine Art Direktive vorlegen" musste. Erst mit der Zeit legte sich die Unsicherheit der DDR-Führung und der Bundesrepublik-Experten im MfAA, und Seidel verzichtete auf diese Absicherung, "ohne dass jemand daran Anstoß nahm" (S.208).

Interessante Einblicke ermöglichen die Erinnerungen auch in die Verhandlungskanäle und -strukturen auf Seiten der DDR in den siebziger und achtziger Jahren. So wurde nach dem Regierungswechsel von Brandt zu Schmidt Alexander Schalck-Golodkowski zum persönlichen Beauftragten Honeckers in den Verhandlungen mit Karl-Otto Pöhl ernannt. 1975 wurde Schalck Staatssekretär im Außenhandelsministerium und gleichzeitig Hauptunterhändler der DDR. Das MfAA war zwar offiziell nicht in die Verhandlungen einbezogen, die Abteilungsleiter BRD (Seidel) und Westberlin (Joachim Mitdank, später Walter Müller) arbeiteten Schalck jedoch zu und fertigten die Berichte über die Gespräche sowie die Direktiven für die nächsten Verhandlungsrunden an. Beides ging direkt an Honecker, Mittag und Mielke. Honecker traf die notwendigen Entscheidungen umgehend, ohne das Politbüro einzuschalten.

Daneben bestand noch der Kanal über Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, den Honecker bisweilen - sehr zum Leidwesen Seidels - ebenfalls aktivierte. Von diesen Unterredungen, an denen anfangs auf westlicher Seite noch Wehner beteiligt war, wusste der MfAA-Abteilungsleiter nichts. Erst wenn die Gespräche weit fortgeschritten waren, wurde auch er eingeschaltet. Je nach Verhandlungsschiene werden auch die Ergebnisse unterschiedlich bewertet. So sei das Treffen Honecker-Schmidt am Werbellinsee im Dezember 1981, in dessen Vorlauf Vogel eingeschaltet worden war, "inhaltlich schlecht vorbereitet" gewesen, so dass keine konkreten Vereinbarungen an deren Ende standen (S.263).

Ganz anders wird das Ergebnis des Honecker-Besuchs in Bonn vom September 1987 bewertet, dessen Einzelheiten über Schalck vorbereitet wurden. Seidel hebt dabei vor allem seine eigene Rolle bei der Ausarbeitung des gemeinsamen Kommuniqués hervor. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn er - entgegen der einhelligen Auffassung in der Forschung - dem Besuch durchaus greifbare konkrete Ergebnisse attestiert und als Beleg die damals unterzeichneten Abkommen und gegenseitigen Zusicherungen aufzählt (S.354f.).

Die Erinnerungen werfen ebenfalls zusätzliches Licht auf die Skepsis der Sowjetunion angesichts der intensiven deutsch-deutschen Verhandlungen nach Abschluss des Grundlagenvertrags. So wurden die von Seidel geführten Verhandlungen über die Einrichtung der Ständigen Vertretungen im Sommer 1973 auf sowjetische Anweisung brüsk unterbrochen; Ende 1974 beschwerte sich der Leiter der Dritten Europäischen Abteilung im sowjetischen Außenministerium, Bondarenko, gegenüber den damit befassten MfAA-Mitarbeitern über das damals kurz vor der Unterzeichnung stehende "Abmachungspaket" mit der Bundesrepublik. Diese und die anderen (bereits bekannten) sowjetischen Interventionen konnten den Abschluss der Verhandlungen jedoch allenfalls verzögern.

Die DDR ging nun dazu über, die sowjetische Seite nicht mehr in alle Einzelheiten des deutsch-deutschen Geschäfts einzubeziehen. So seien die Vereinbarungen von 1975 und 1978 "ohne laufende Konsultation, ja meist sogar ohne genaue Information der sowjetischen Seite ausgehandelt" worden (S.225). Als die DDR Ende 1978 schließlich die sowjetische Zustimmung zu dem ausgehandelten Paket wollte, sei Gromyko aus der Haut gefahren: "Das ist eine Schweinerei. Das ist immer so bei Euch. Immer setzt Ihr uns unter Druck. Wir lassen uns nicht erpressen. So kann man mit uns nicht verfahren." (S.226) Dennoch gab Moskau schließlich sein Plazet. Nichts Neues hingegen erfährt man über den Moskauer Kraftakt, mit dem 1984 die Honecker-Reise nach Bonn verhindert wurde.

Enttäuscht zeigt sich Seidel schließlich von Gorbatschow. Diesem wird einerseits Konzeptionslosigkeit vorgeworfen: Dessen außenpolitische Perestroika sei "illusorisch, geradezu naiv und blauäugig" gewesen (S.383). Andererseits sei Gorbatschow doppelzüngig gewesen: Gegenüber DDR-Vertretern habe er stets den Eindruck erweckt, an der DDR festhalten zu wollen, während er im Inneren den Untergang des ostdeutschen Teilstaates offenbar ohne Bedauern bereits seit Oktober 1989 entgegensah. Seidel kam seinen Erinnerungen zufolge im Januar 1990 zu dem Schluss, dass die DDR ausgespielt hatte, sei aber mit entsprechenden Äußerungen weitgehend auf Unverständnis gestoßen.

Dass ein langjähriger Angehöriger des MfAA im nachhinein weder die DDR noch seine Tätigkeit grundlegend kritisiert, sondern sich bei aller Teilkritik grundsätzlich zu beidem bekennt, ist nicht weiter verwunderlich. Dass er zu DDR-Positionen, um die er jahrzehntelang gerungen hat, wie etwa in der Staatsbürgerschaftsfrage, auch heute noch steht, ist ebenfalls verständlich. Freilich scheint er die DDR-Positionen so verinnerlicht zu haben, dass er sich auch im Nachhinein nicht in die Gegenseite hineinversetzen kann. Wie anders ist zu erklären, dass er die westdeutsche Aufregung um die Geraer Forderungen vom Oktober 1980 - deren Formulierung übrigens auf ihn selbst zurückgeht - nicht verstehen kann. Es habe sich dabei lediglich um "die moderate Feststellung von Sachverhalten" gehandelt (S.252). Hier zeigt sich, dass selbst ein so hochrangiger MfAA-Bediensteter wie Seidel nicht das notwendige politische Gespür und das Einfühlungsvermögen besaß, die gemeinhin auf dem internationalen Parkett vorausgesetzt werden.

Anmerkungen:
1 Karl Seidel, Erste Schritte auf dem Weg zu normalen Beziehungen zwischen der DDR und der BRD. Persönliche Erinnerungen an die deutsch-deutschen Verhandlungen Anfang der siebziger Jahre, und: Ders., Der Weg zum Grundlagenvertrag und zur Errichtung Ständiger Vertretungen. Erinnerungen eines Beteiligten, in: Detlef Nakath (Hrsg.), Deutschlandpolitiker der DDR erinnern sich, Berlin 1995, S.95-134 und S.185-222; auf Interviews mit Seidel bezieht sich vielfach Benno-Eide Siebs, Die Außenpolitik der DDR 1976-1989. Strategien und Grenzen, Paderborn 1999.
2 Monika Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972, Berlin 1997.

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