B. Gehrke; R. Hürtgen (Hgg.): Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989

Titel
Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989. Die unbekannte Seite der DDR-Revolution. Diskussion - Analysen - Dokumente


Herausgeber
Gehrke, Bernd; Hürtgen, Renate
Anzahl Seiten
549 S.
Preis
€ 9,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Klein, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Auf den Straßen der DDR artikulierte sich im Herbst 1989 eine über Jahre angestaute Unzufriedenheit, die sicher nicht allein im privaten Lebensbereich oder infolge der allgemeinen politischen Gängelei und Fremdbestimmung entstanden war. Denn schließlich waren die Betriebe und Einrichtungen der Ort, an dem die Menschen den wesentlichen Teil ihrer Lebenszeit zubringen mussten, an dem sich alle Widrigkeiten der „realsozialistischen“ Diktatur spiegelten und nicht wenige dieser vielfach verhassten Verhältnisse sogar wurzelten.

Weil die massenhafte Flucht des verwalteten Individuums ins vermeintlich selbstbestimmtere Private nur Ausdruck einer fortschreitenden Entpolitisierung der letztlich nur noch verbal hochpolitisierten nominalsozialistischen Gesellschaftlichkeit war, drängt sich sofort die Frage auf, wie sich diese Verfallserscheinung in den Betrieben abbildete. Welche Dynamik entfaltete sich an diesem Ort bei der Aufkündigung des bis dato noch funktionierenden Gesellschaftsvertrags durch die nun demonstrierenden Massen im Herbst 1989?

Obwohl die sich überschlagenden Ereignisse auf den Straßen den Veränderungen in den Betrieben immer vorauseilten, müsste die Analyse der nacheilenden emanzipatorischen „Repolitisierung“ in den Betrieben in der „Wende“ den zuverlässigsten Indikator für die Potentiale und die Tendenz des gesellschaftlichen Umbruchs in der DDR liefern. Schließlich definiert sich die Natur eines Gemeinwesens stets über die Organisation seiner Ökonomie, drückt sich die alltägliche An- bzw. Abwesenheit von Herrschaft oder Demokratie in einer Gesellschaft am unverstelltesten in den betrieblichen Konfliktlagen aus. Um so erstaunlicher ist es, dass solche Untersuchungen in der ansonsten inflatorischen „Wendeliteratur“ kaum eine Rolle spielen und der Umbruch in den Betrieben aus den Jubelfeiern zum Mauerfall sowie aus dem periodischen Gedenken an die Straßendemonstrationen der „Freizeitrevolution“ 1989/90 weitgehend ausgeblendet blieb. Auf diese Fehlstelle macht der nun vorliegende Band von Renate Hürtgen und Bernd Gehrke nicht nur aufmerksam, sondern er ist gleichzeitig ein gewichtiger Beitrag zu ihrer Auffüllung.

Der Entstehungshintergrund: 10 Jahre nach dem Scheitern des Versuchs eines selbstbestimmten Aufbruchs zu neuen Strukturen und Inhalten demokratischer betrieblicher Interessenvertretung in der DDR trafen sich ehemalige AktivistInnen dieses Kampfes erstmals zu einer Bilanz damaliger Anstrengungen. Der Band liefert das Wortprotokoll dieser Tagung, ein Dokument, das zweifellos den von den Herausgebern angemahnten erhellenden zeithistorischen Perspektivwechsel als Sicht auf die Ereignisse in den Betrieben während des Umbruchs 1989/90 rechtfertigen kann. Dieses späte Gespräch „zwischen selbstbewusster Erinnerung und kritischer Distanz“ sollte die beteiligten ProtagonistInnen des Kampfes der Beschäftigten um emanzipatorische betriebliche Strukturen zu einer realistischen Sicht auf ihr damaliges Tun führen – ein Gedankenaustausch ohne Idealisierung dieser Versuche, aber auch ohne falsche Bescheidenheit, wie Renate Hürtgen einleitend auf dieser Tagung vorschlug.

Die differenzierte und detaillierte Darstellung der damaligen Rolle der Belegschaften, der Betriebsleitungen und der Gewerkschaft in diesem Protokoll scheint unter anderem eine These der Herausgeber zu bestätigen: Es gehörte im Spätherbst 1989 mehr Courage dazu, in den Betrieben die Absetzung der Leitung zu fordern, als auf der Straße die von Egon Krenz. Der Leser erfährt in Fallbeispielen, wie sich einige Betriebsleitungen hinter verschlossenen Türen mittels Kontakten zu Westfirmen schon um marktkonforme Rekonstruktion ihrer Einrichtungen bemühten, während noch der Kampf von Belegschaften und Funktionären des zerfallenden FDGB um die Entscheidung tobte, ob und wie neue betriebliche Interessenvertretungen ins Leben gerufen werden müssen oder ob die „alte Gewerkschaft“ erneuert werden soll.

Obwohl dieser Kampf wegen der raschen Übernahme der DGB-Strukturen im Osten während des „Vereinigungsprozesses“ abriss und die sich überstürzenden politischen Ereignisse ursprüngliche Fragestellungen etwa die der „Initiative für unabhängige Gewerkschaften“ (IUG) scheinbar bedeutungslos werden ließen, ist anhand der Tagungsbeiträge eindrucksvoll nachzuvollziehen, dass diese Auseinandersetzungen in den DDR-Betrieben nicht bloß „Schnee von gestern“ sind. Vom strikt basisdemokratischen Politikverständnis der Mehrheit der Betriebsaktivisten im Kampf gegen die vielen betrieblichen Alleinherrscher ist ebenso die Rede wie von der relativen Isolierung dieser Aktivisten in ihren Belegschaften. Die Beschäftigten orientierten sich alsbald auf den DGB und die von ihm erwartete bessere Stellvertreterpolitik in den bald wieder fest in der Hand der neuen Betriebsleitungen (und manchmal auch der alten) befindlichen Unternehmen, welche der ungewissen Übernahme durch westliche Konzerne harrten.

Die Schrittmacher des Kampfes um eine zum Teil weit über die bundesrepublikanischen Standards hinausgehende Mitbestimmung der Beschäftigten waren sich mit diesen Beschäftigten oft allein in der Forderung einig, das Machtmonopol von Partei und Funktionärsapparat auch im Betrieb zu brechen. Die Entwicklung der Diskussionen darüber, wie die Interessenvertretung im Betrieb aussehen und wie weitreichend sie sein sollte, lässt sich anhand der Tagungsbeiträge fragmentarisch nachvollziehen. Es wird aus diesen Beiträgen aber auch deutlich, wie zersplittert und wie regional unterschiedlich diese Auseinandersetzung stattfand. Der Leser findet zudem Informationen über die Entstehung der IUG und ihre Anstrengungen, verschiedene Initiativen betrieblicher und überbetrieblicher Selbstorganisation zu bündeln und Alternativen zur ost- wie zur westdeutschen Spielart bürokratischer Fremdverwaltung der Beschäftigteninteressen entwickeln zu helfen.

Der Tagungsband dokumentiert in einer Sektion auch einige Stellungnahmen der DDR-Bürgerbewegungen zur betrieblichen Interessenvertretung. Sie sind einer umfangreichen Sammlung von zum Teil erstmals abgedruckten Aufrufen und Erklärungen zu Aktivitäten von Betriebsbelegschaften zwischen September 1989 und März 1990 beigefügt. Im Herbst und Winter 1989/90 haben nicht nur Betriebsaktivisten der Bürgerbewegungen, sondern auch viele betriebliche Initiativen den anstehenden gewerkschaftlichen Neuaufbau unmittelbar mit grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Fragestellungen verknüpft.

Die im vorgelegten Band dokumentierte abschließende Diskussion der Tagungsteilnehmer legt nahe, dass angesichts der 1990 schnell deutlich werdenden Folgenlosigkeit dieser Anstrengungen schonungslos nach den realistischen Verwirklichungschancen damaliger emanzipatorischer Zukunftsentwürfe gefragt werden muss. Deutlich wurde aber auch, dass trotz damals gescheiterter Entwürfe ganz neuer Formen betrieblicher Interessenvertretung der Beschäftigten sich die „realpolitisch“ begründete Schönfärberei des dann einkehrenden „DGB-Alltags“ auch wegen des heutigen Abbaus herkömmlicher Interessenvertretung beim zeitgenössischen Strukturwandel im Rahmen von Globalisierungsschüben verbietet.

Der vorgelegte Band will aber auch die Sicht über die „Betriebswende“ 1989/90 hinaus auf die Geschichte betrieblicher Kämpfe in der DDR ausweiten. Sieben Dokumente verdeutlichen die Positionen des FDGB-Apparates anlässlich von Streiks in der DDR in den 70er und 80er Jahren, zwei weitere des MfS belegen, wie aufmerksam der DDR-Geheimdienst befürchtete und eintretende Unruhen in den Betrieben sowie den Stand der DDR-Einheitsgewerkschaft bei den Beschäftigten reflektierte.

Schließlich bieten vier von den Herausgebern verfasste Aufsätze einen aufschlussreichen Einblick in die Vorgeschichte der „Betriebswende“ und den Sozialisierungshintergrund der Akteure. Renate Hürtgen untersucht die Funktion des FDGB als „Transmissionsriemen im SED-Staat“ und als soziale Dienstleistungsschaltstelle. Dies geschieht in differenzierter Weise im Rahmen eines geschichtlichen Überblicks von vier Jahrzehnten FDGB-Geschichte. Die „Beziehungsgeschichte“ der Beschäftigten zu einem Apparat, der immer weniger als ihr engagierter Interessenvertreter im harten Konfliktfall mit der staatlichen Betriebsleitung anerkannt wurde, gibt auch Aufschluss über die „Ersatzlösungen“, welche dann gesucht wurden: Die individuelle Eingabe (eher direkt an die Partei oder die staatliche Leitung) korrespondierte mit dem weitgehenden Verzicht auf Streiks als traditionelle Form des kollektiven betrieblichen Widerstands.

Die immer mehr ausgebaute Kontrollfunktion des Gewerkschaftsapparates, im Dienste der Disziplinierung und Isolation der Beschäftigten stehend, verhilft mittels Analyse des dabei entstandenen Schriftguts jedoch heute auch zu genaueren Einblicken in die trotzdem in allen Dekaden vorhandenen Streikaktionen. Renate Hürtgen gibt diesen Überblick und verknüpft ihn mit der Feststellung, dass der Niedergang des Streiks als Kampfform und die Individualisierung des Protests mit dem Untergehen der kollektiven Erfahrung widerständigen betrieblichen Handelns einherging. Als der werktätige Bittsteller in den 80er Jahren angesichts der immer unhaltbarer werdenden Verhältnisse sich wieder zunehmend protestierend und schließlich auch kollektiv zu Wort meldete, fehlten solche Erfahrungen. Die Betriebe konnten nicht mehr Ausgangspunkt für den Aufstand sein.

Bernd Gehrke reflektiert in seinen Beiträgen den Zusammenhang zwischen den oppositionellen Schrittmachern der Demokratiebewegung und den Betrieben als Quelle der Massendemonstrationen. Die Vehemenz, mit der sich der Unmut im Herbst 1989 in den Straßendemonstrationen Luft machte, ist ohne die einsetzende Politisierung auch in den Betrieben nicht erklärbar. Sie wurden laut Gehrke zum „Blutspender“ des sich auf den Straßen entfaltenden revolutionären Aufbruchs. In den Betrieben standen die Belegschaften allerdings vor einem vollständigen Neubeginn bei der Entwicklung einer kollektiven Widerstandspraxis, die der Autor in seinem zweiten Beitrag anhand der Geschichte der „Wende-Streiks“ beschreibt. Plötzlich waren Belegschaften von Betrieben, die zuvor nicht einmal aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen gestreikt hatten, sogar zu politischen Streiks bereit. Doch da die betriebliche Aktivisten, die Belegschaften und die inzwischen hohe politische Autorität besitzenden Bürgerbewegungen nicht zusammenfanden, letztere zudem auf die Macht verzichteten, kam es auch nicht zur inzwischen möglich gewordenen überbetrieblichen Koordination betrieblicher Aktionsbereitschaft. Hier wurden nach Auffassung Bernd Gehrkes die Weichen für den Ausgang der „Wende“ gestellt. Sein Aufsatz untersucht insbesondere die Hintergründe des ausgebliebenen Generalstreiks vom Dezember 1989.

Der hier vorgestellte Band ist nicht allein wegen der vielen neuen Mitteilungen zur Geschichte des betrieblichen Aufbruchs im Herbst 1989 sehr zu empfehlen. Vor allem können die Autoren darauf verweisen, zwischen vielfach schon bekannten Sachverhalten aus diesem Themenbereich einen erhellenden Zusammenhang hergestellt zu haben, der weit über die Betriebssphäre hinaus einen neuen Blick auf die „Herbstrevolution“ erlaubt. So wird nachhaltig die Legende dementiert, der Betrieb habe in dieser Revolution als Handlungsfeld keine Rolle gespielt.

Zu erwähnen wäre noch der sensationell niedrige Preis des über 500 Seiten umfassenden Buches. Er kann für 9 € über info@bildungswerk-boell.de bestellt werden.

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