J. Hecker-Stampehl: Vereinigte Staaten des Nordens

Titel
Vereinigte Staaten des Nordens. Integrationsideen in Nordeuropa im Zweiten Weltkrieg


Autor(en)
Hecker-Stampehl, Jan
Reihe
Studien zur Internationalen Geschichte 26
Erschienen
München 2011: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
471 S.
Preis
€ 64,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jana Windwehr, Berlin

Die Dissertation von Jan Hecker-Stampehl nimmt sich mit den Integrationsideen und Zukunftsplänen für die Nachkriegszeit in Nordeuropa während des Zweiten Weltkriegs einer Forschungslücke an. Betrachteten bisherige Publikationen die Nordische Kooperation während des Krieges als weitgehend „auf Eis gelegt“, kann der Autor nachweisen, dass in dieser Zeit durchaus eine lebhafte und ambitionierte Debatte geführt wurde.

Gegliedert ist das Werk in sieben Kapitel: Im Anschluss an eine Einführung wird zunächst der breitere Kontext dargestellt, nämlich Vorläufer bzw. historische Bezugspunkte nordischer Zusammenarbeit, der Verlauf des Zweiten Weltkriegs in Nordeuropa sowie im Umlauf befindliche Integrationsideen. Im dritten Kapitel wendet sich Hecker-Stampehl den für seine Untersuchung zentralen Akteuren, nämlich den nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten „Norden-Vereinen“ zu, deren Geschichte und Handlungsbedingungen dargestellt werden. Die Kapitel vier bis sechs bilden den Hauptteil der Untersuchung. Zunächst werden kulturell konstruierte Abgrenzungen des „Nordens“ auf der Basis geografischer, „rassischer“, sprachlicher und religiöser Besonderheiten, gemeinsamer Geschichte und politischer Kultur vorgestellt und dabei insbesondere die Rolle Finnlands als Sonderfall betrachtet. Im folgenden Kapitel untersucht Hecker-Stampehl die in der Debatte präsenten Ordnungsmodelle im Hinblick auf einen gemeinsamen Markt, eine Verteidigungsunion und eine übergeordnete Perspektive der „Vereinigten Staaten des Nordens“. Abschließend werden die Strategien der Norden-Vereine zur Verbreitung dieser Ideen untersucht und die Ergebnisse der einzelnen Analyseschritte zusammengefasst.

Für die Untersuchung der Herausbildung und Propagierung einer gemeinsamen nordischen Identität wird auf konstruktivistische Theorieansätze zur Identitätskonstruktion zurückgegriffen. Hecker-Stampehl stellt fest, dass in der Debatte auf substantielle Gemeinsamkeiten im Hinblick auf geografische Gegebenheiten, historische Erfahrungen und politische Kultur zurückgegriffen werden konnte, sprachliche und „rassische“ Aspekte dagegen eine Einbeziehung Finnlands erschwerten und tendenziell in den Hintergrund traten. Auf der Basis eines gemeinsamen „Erfahrungsraumes“ und „Erfahrungshorizontes“ habe sich ein weiteres Verständnis des Nordens durchgesetzt, das auch das als „anders“ wahrgenommene Finnland integrieren konnte – und mit der Unabhängigkeit Islands nunmehr fünf Staaten umfasste –; im Sinne von „Mental Maps“ stehe dieser Norden für eine Reihe von Gemeinsamkeiten in der Selbstwahrnehmung und Abgrenzung nach außen.

Hinsichtlich der Norden-Vereine als zentrale Akteure liegt der Schwerpunkt aufgrund der massiven Einschränkungen wegen der deutschen Besatzung Norwegens auf Schweden, Finnland und Dänemark. Detailreich und auf Basis einer Fülle von Quellenmaterial, vor allem der unterschiedlichen Publikationen der Norden-Vereine selbst, analysiert Hecker-Stampehl die Rolle der Vereine bei der Konstruktion und Verbreitung von Integrationsideen. Nicht zuletzt aufgrund der personellen Besetzung habe dabei die wirtschaftliche Kooperation eine wichtigere Rolle eingenommene als militärische Aspekte; vor allem aber habe sich ein pragmatischer Charakter der nordischen Kooperation entwickelt, der sich markant vom früheren Skandinavismus unterschied. Die Idee der „Vereinigten Staaten des Nordens“ als Schlagwort und Kristallisationspunkt wirtschaftlicher und militärischer Pläne sowie einer zukünftigen überstaatlichen Ordnung sei dem Leitbild eines Bundesstaates als freiheitlich-demokratische Zusammenarbeit gleichberechtigter, souveräner Partner, dem Föderalismus und der Subsidiarität verpflichtet gewesen. Als Mittel zur Verbreitung dieser Ideen werden publizistische Tätigkeiten, Kultur- und Bildungsveranstaltungen, nicht zuletzt an Schulen, die Nutzung von Multiplikatoren und ein letztlich nicht realisiertes „Nordisches Institut“ betrachtet.

Insgesamt, so Hecker-Stampehl, sei einerseits bemerkenswert, dass eine solch ambitionierte Vision erst unter dem Eindruck massiver äußerer Bedrohung und der Sehnsucht nach einer alternativen Zukunftsvorstellung nach einer – latent mitgedachten – deutschen Niederlage entstehen konnte. Andererseits habe sich später gezeigt, dass die Pläne in letzter Konsequenz nicht realistisch durchdacht waren, insofern sie Handlungsrestriktionen durch die Großmächte nicht berücksichtigten.

Trotz ihres in der Retrospektive utopischen Charakters blieben jedoch die Pläne einer engeren nordischen Zusammenarbeit nicht ohne Folgen für die Positionierung der fünf nordischen Staaten im Kalten Krieg, für die pragmatisch-kleinschrittig weitergeführte nordische Kooperation, aber auch für die auf längere Sicht skeptisch-distanzierte Haltung zur sich herausbildenden EWG/EG/EU. Insofern schließt Jan Hecker-Stampehl nicht nur eine Forschungslücke hinsichtlich der Norden-Vereine, bei der er zwar nationale Spezifika berücksichtigt, vor allem aber die bisher vernachlässigte transnationale Perspektive in den Blick nimmt, sondern leistet auch einen Beitrag zum Verständnis der Einordnung der nordischen Staaten in das europäische Gesamtgefüge im 20. Jahrhundert. Zugleich ordnet sich die Arbeit in den wachsenden Bestand von historischen und politikwissenschaftlichen Analysen nationaler Selbstbilder und Identitätsbildungsprozesse ein. Die Mehrebenen-Perspektive aus nationalen Spezifika, regional-nordischen Elementen, der europäischen sowie der globalen Ebene, die mit Blick auf die Völkerbund-Nachfolgeorganisation ebenfalls angerissen wird, und die Frage des Verhältnisses zwischen nationaler und regionaler Identität weisen weit über den Untersuchungszeitraum hinaus.

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