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Titel
Weltliteratur auf dem Index. Die geheimen Gutachten des Vatikans


Autor(en)
Godman, Peter
Erschienen
Anzahl Seiten
543 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Lokatis, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Man wird dem Autor einiges zugute halten müssen. Die schiere Unübersichtlichkeit und Menge an Material, die Verführung des Sensationskitzels, den Wunsch, das Vertrauen des Vatikans nicht zu mißbrauchen, schließlich die Enttäuschung, daß es mit diesem Vertrauen nicht ganz so weit her war: Die Publikation der Akten zum Fall des englischen Romanciers Graham Greene wurde dem von seinem Thema eingeholten Verfasser verweigert. Wie reizvoll wäre es gewesen, die kirchlichen mit den kommunistischen Gutachten über Graham Greene zu vergleichen, um womöglich noch entsprechendes Geheimdienst-Material heranzuziehen! Jetzt muß man sich fragen, was eigentlich an den „geheimen Gutachten“ so neu sein soll, wenn auch weiterhin die das XX. Jahrhundert betreffenden Zensurakten gesperrt bleiben.
Die Frage nach dem Neuigkeitswert stellt sich übrigens auch, wenn man Register und Inhaltsverzeichnis des vorliegenden Dokumentenbandes mit dem jetzt als Taschenbuch erschienenen ersten Wurf des Autors vergleicht („Die geheime Inquisition. Aus den verbotenen Archiven des Vatikans“, München 2002). Nur sechs der 23 gebotenen Fälle sind neu hinzugekommen, wobei das Gutachten zur „Kritik der reinen Vernunft“ ein ausgesprochenes Highlight darstellt. Es ist doch immer wieder ein Vergnügen, dem Zensor über die Schultern zu schauen und sich an dessen Beschränktheit zu weiden. Doch dürften die meisten der dokumentierten Vorgänge bei dem gebildeten Leser eher Ratlosigkeit hervorrufen. Was will uns beispielsweise das Urteil eines Zensors über Giambattista Vico auf S. 223 sagen? „Im ganzen Werk streift er als zielloser Landstreicher mal hier, mal dort herum, zwischen sinnlosen Untersuchungen und Beweisführungen, die niemals aufgehen, Folgerungen, die auf nichts beruhen und nie zu etwas führen, und versteckten und verdrehten Bildungstümeleien [...] Die Undeutlichkeit des Werks ist ein unentwirrbares Labyrinth, und hat man es einmal betreten, so ist es nicht einfach den Ausgang zu finden; zudem posaunt der Autor auf jeder Seite seine unerträglichen Prahlereien aus.“ Schlecht stünde es um die Heilige Schrift, „wenn sie ihr Licht aus solcher Dunkelheit schöpfen müßte.“ Solche Bücher gibt es nun einmal.
Es ist vermutlich legitim, die Rosinen herauszupicken und sich auf die berühmtesten Autoren von Erasmus über Montaigne und Voltaire bis hin zu Flaubert zu verlegen. Heine war allerdings schon längst vergeben – so ganz sensationell sind die Geheimakten nicht (Vgl. Hubert Wolf u.a., Die Macht der Zensur. Heinrich Heine auf dem Index. Düsseldorf, Patmos1998). Leider, hier hat angeblich der Index versagt, gab es weder einen Vorgang über Karl Marx noch über Newton. Statt Charles Darwin bekommt der Leser dessen Großvater Erasmus Darwin aufgetischt, was, da auf dem Umschlag mit „Darwin“ geworben wird, doch wohl als eine Irreführung des Käufers zu geißeln ist.
Die über einen Zeitraum von 400 Jahren verstreuten Fallbeispiele ließen - bis auf die nachdrückliche Konstatierung eines allgemeinen Chaos - , tragfähige Verallgemeinerungen kaum zu. Der Verfasser hat ein Schwergewicht auf die Gründungsphase des „Heiligen Offiziums“ in der Gegenreformation gelegt. Da es sich bei Zensurinstanzen dieses Typs um eine bürokratische Einrichtung par excellence handelt, ist es bemerkenswert, daß von vornherein auf einen systemtheoretisch reflektierten verwaltungsgeschichtlichen Zugriff verzichtet wurde. Der Autor konzentriert sich statt dessen auf die Psychologie des Zensors, er möchte ihn „verstehen“. Das ist ohnehin leichter gesagt als getan. Jeder Zensor ist anders. Doch geht es dem Verfasser auch eher darum, irgendwelche mildernden Umstände für das verwerfliche Tun der Zensoren zu konstruieren. Er ist ja einerseits über all die Denunzianten, Karrieristen und Schreibtischtäter gebührend empört. Andererseits nerven diverse Verharmlosungen, wenn er die Zahl der protestantischen und katholischen Hexenverbrennungen miteinander verrechnet oder die Neutralität des Vatikans im Dreißigjährigen Krieg unterstreicht.
Wie müht er sich ab, eine kühn postulierte negative öffentliche Meinung über Inquisition und Index zu korrigieren, die er dem derzeitigen, angeblich erst durch seine sensationellen Archivfunde überholten, Forschungsstand gleichsetzt. So widerlegt er unentwegt Thesen, die nicht einmal Dr. Settembrini vom „Zauberberg“ noch ernsthaft verfechten würde. Was sagen eigentlich so ausgewiesene Spezialisten wie H.H. Schwedt zu dieser Methode?
Es ist eine alte Erfahrung der aktengestützten Zensurforschung, daß Zensur ineffektiv, chaotisch, vielsträhnig und in sich zerstritten zu funktionieren bzw. nicht zu funktionieren scheint. Chaotisch und polykratisch strukturiert funktionierte, wie Jan-Pieter Barbian vor einem Jahrzehnt in seinem Standardwerk „Literaturpolitik im „Dritten Reich“ (Frankfurt/Main 1993) nachgewiesen hat, selbst die nationalsozialistische Zensur. In der DDR (Simone Barck u.a., „Jedes Buch ein Abenteuer“, Berlin 1997) und in der Sowjetunion sah es in dieser Hinsicht nicht anders aus. Der Papst muß das wissen. Tatsächlich gibt es praktisch zu jedem einzelnen der vom Autor als besonders bizarr, chaotisch usw. vermerkten Phänomene auffällige Parallelen und Entsprechungen aus der Welt der realsozialistischen Zensur. Es ist offensichtlich, daß sich der Renaissancespezialist Godman nicht einmal in groben Zügen mit der zeitgeschichtlichen Zensurforschung bekannt gemacht hat. Statt dessen orientierte er sich an abstrakten Totalitarismus- Modellen und sieht in der Sowjetunion wie im „Dritten Reich“ effiziente und „monolithische“ Zensurmechanismen am Werk. Auf diese Weise läßt sich der „klischeehafte Vergleich zwischen den Mächten im damaligen Rom und totalitären Regimen jüngeren Datums“ (S.31) jedenfalls nicht zurückweisen. So hat der Autor zu dem verwirrenden Vergleich, den er hoffte mit wenigen Worten vermeiden zu können, selbst ungewollt eingeladen und einen bedenklichen Erklärungsnotstand konstruiert.

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