Titel
Rethinking Vienna 1900.


Herausgeber
Beller, Steven
Reihe
Austrian History, Culture and Society 3
Erschienen
New York 2001: Berghahn Books
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
$25.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Antonio Ribeiro, Coimbra

Dieses Buch ist aus dem 1995 am Center for Austrian Studies der Universität von Minnesota in Minneapolis abgehaltenen Symposium “Beyond Vienna 1900: Rethinking Culture in Central Europe 1867-1939” hervorgegangen. Man kann nur bedauern, dass das Erscheinen der Ergebnisse dieses Symposiums in Buchform so lange auf sich hat warten lassen. 1 In der Tat handelt es sich um eine Sammlung, die insgesamt wichtige neue Perspektiven für ein Forschungsfeld öffnet, um das es etwas still geworden war und das in mancher Hinsicht in festgefahrenen Vorstellungen gefangen schien. Die zehn gesammelten Beiträge weisen generell in die Richtung einer Korrektur der Thesen Carl Schorskes, die seit Anfang der achtziger Jahre die Forschung über das Thema beherrscht haben. 2 Damit wird die Bedeutung der Arbeit Schorskes — der, wie der Herausgeber Steven Beller zu Recht respektvoll anmerkt, das Forschungsfeld “Wien 1900” nicht nur wesentlich mitgestaltet, sondern auch in vielen Hinsichten geschaffen hat — in keiner Weise geschmälert. Es werden jedoch sehr entschieden Gegenthesen aufgestellt, die auf vielversprechende Neuansätze in der Forschung hinweisen.

Schorskes Studien haben ein durchaus erfolgreiches psycho-soziologisches synthetisches Erklärungsmuster für die vielfältige Konstellation der Wiener Moderne geliefert. Die bekannte Hauptthese geht davon aus, dass in der Folge der politischen Niederlage der liberalen Bourgeoisie in Österreich die nachfolgende Generation einen allgemeinen Rückzug aus der Politik angetreten hat: eine individualistische ästhetische Kultur besetzte als Surrogat den für die liberale bürgerliche Schicht leergewordenen Ort der Politik. Die Selbstbefragung und Selbstinszenierung eines verunsicherten bürgerlichen Subjekts, das in jener Kultur die ambivalente Antwort auf eine vielseitige Identitätskrise suchte, lag nach Schorske an der Wurzel der außerordentlichen Produktivität einer Epoche, von der entscheidende Impulse als einer der wichtigsten “Wiegen der Moderne” ausgingen.

Diese hier in den allgemeinsten Grundrissen zusammengefasste These will der vorliegende Band von verschiedenen Seiten kritisch beleuchten. Das Vorhaben wird in der inhaltsreichen Einleitung des Herausgebers gleich in aller wünschenswerten Klarheit dargelegt. Steven Beller, als Experte längst ausgewiesen und selbst einer der ersten, die Schorkes allzu einfaches Modell überzeugend in Frage stellten, 3 gibt einen Überblick über die Konstituierung und die Wandlungen von “Wien 1900” als Forschungsfeld und zugleich als ein Faszinosum der Kultur (und der Kulturindustrie) seit den siebziger Jahren. Alle wichtigen Arbeiten zum Thema werden in einer sehr glücklichen Synthese in der Art eines knappen Forschungsberichts kurz dargestellt und gewertet. Im zweiten Teil seiner Einleitung, unter dem Titel “The Schorskean Paradigm and Its Discontents”, geht Beller dann auf die kritischen Ansätze ein, die in den einzelnen Beiträgen des Buches verfolgt werden. Als gemeinsamen Nenner aller Beiträge hebt er die Überzeugung hervor, dass “the Schorskean paradigm no longer offers a convincing picture of Vienna 1900” (S. 11); als Ergebnis der Untersuchungen stehe am Ende “a far more complex picture of the relationship between politics, class and culture in Vienna 1900 than the Schorskean paradigm offered” (S. 14) — eine Behauptung, die von der Lektüre des Buches zweifellos bestätigt wird.

Wie dieses komplexere Bild aussehen kann, davon gibt das erste Kapitel des Bandes — “Vienna 1900 Revisited. Paradigms and Problems” von Allan Janik — beredtes Zeugnis. Janik erfasst die Problemlage nach dem Schema eines Kuhnschen “”clash of paradigms”. Nicht umsonst wurde dieser grundlegende Beitrag gleich an den Anfang gestellt, stellt er doch ein energisches Plädoyer für die Revidierung des Schorskeschen Paradigmas und zugleich das Aufzeigen von den Umrissen eines alternativen Paradigmas dar. Wesentlich dabei ist der von Janik geprägte Begriff eines “critical modernism”, der es ihm erlaubt, in “Wien 1900” nicht nur eine irrationalistische, von Nietzsche tief beeinflusste ästhetische Kultur, sondern auch die kritische Distanz zu dieser Kultur zu finden. “Critical modernism” nimmt demnach die Form einer Selbstkritik der Moderne an und bietet dementsprechend wesentliche Anhaltspunkte für eine andere, komplexere Sicht der Konstellation “Wien 1900”. Die Ausführungen Janiks, selbst Mitverfasser eines der Standardwerke zur Wiener Moderne, 4 lehnen sich sehr stark an die Arbeiten des Historikers John Boyer an. Diese stellen die These vom “Versagen des Liberalismus” in Frage, indem sie auf den von vornherein elitären Charakter des österreichischen Liberalismus hinweisen und andererseits zeigen, dass dessen Verschwinden von der politischen Bühne keineswegs vollständig war. Anders ausgedrückt: die Hypothesen der Kulturtheorie befinden sich mit den harten Fakten der Sozialgeschichte und der politischen Geschichte nicht im Einklang. Es ist nur konsequent, dass in dem Schlussteil des Beitrags, unter dem Titel “Problems for Future Research”, der Forschung im Wesentlichen Aufgaben zugewiesen werden, die im Bereich der Sozialgeschichte liegen — einige Jahre nach Janiks Vortrag bleiben diese Aufgaben allerdings zum großen Teil noch Desiderata. 5

Die Ausführungen von Alan Janik werden von dem Historiker Pieter Judson im nächsten Kapitel (“Rethinking the Liberal Legacy”) bestätigt und ergänzt. Judson, dessen Untersuchungen das Bild des österreichischen Liberalismus wesentlich differenzieren halfen, 6 kann beweisen, dass das Verschwinden des Liberalismus als politische Kraft in Österreich nicht mit dem Verschwinden des liberalen Gedankengutes aus der österreichischen politischen Kultur gleichzusetzen ist: “If the liberals lost several battles to preserve their political predominance, they may have won the war in their efforts to maintain a political culture based on much of their world view.” (S. 75) Auch hat der Machtverlust der Liberalen in der Metropole Wien nicht im selben Maße in der Provinz stattgefunden, was einer hauptsächlich Wien-zentrierten Forschung entgehen musste.

Der Beitrag von James Shedel — “Fin de Siècle or Jahrhundertwende. The Question of an Austrian Sonderweg” — wirkt in gewisser Weise als Ergänzung der vorhergehenden. Die eigentümliche Verschränkung von Tradition und Modernität, die für das Habsburger Reich charakteristisch war, wird in diesem Beitrag, der die Auffassung von einem österreichischen “Sonderweg” strikt ablehnt, vor dem Hintergrund der Dominanz des Staates interpretiert. In Shedels Augen kann von einer Krise des bürgerlichen Bewusstseins oder einer Marginalisierung von Kultur eigentlich keine Rede sein — ohne den Bezug zum Staat können auch die Besonderheiten der Wiener sezessionistischen Avantgarde nicht verstanden werden. Die zwei Beiträge, die sich mit der modernen Malerei im Habsburger Reich befassen — Robert Jensen, “A Matter of Professionalism. Marketing Identity in Fin-de-Siècle Vienna” und Ilona Sármány-Parsons, “The Image of Women in Painting. Clichés and Reality in Austria-Hungary 1895-1905” — bestätigen diesen Befund. Besonders Jensen kann zeigen, dass Identitätskrisen in wichtigen Punkten der neuen Herrschaft des Marktes und der schwierigen Repositionierung im neuen Zusammenhang entsprechen und nicht bloß das unglückliche Bewusstsein eines krisenhaften Subjekts reflektieren.

Es ist im knapp bemessenen Raum dieser Rezension natürlich unmöglich, den einzelnen Beiträgen gerecht zu werden, die alle um die Kritik an Schorske konkurrieren. Insgesamt fragt sich zum Schluss, ob der Pendel gelegentlich nicht zu weit zurückschlägt, indem die Zurücksetzung des Begriffs der Krise, der für Schorske und andere Interpreten 7 so wichtig war, dazu verleitet, eher die Kontinuitäten als die Brüche zu thematisieren. Auch hier nimmt der Herausgeber eine gemäßigte Position ein, indem er daran erinnert, dass nicht die Ungültigkeit der Thesen Schorskes bewiesen wurde, es wurden nur die Grenzen ihrer Gültigkeit viel enger abgesteckt — was eine bestimmte gebildete Schicht der jüdischen Wiener Bourgeoisie betrifft, so Beller (S. 19), bleiben jene Thesen unbestritten. In der gewiss nicht spärlichen Forschungsliteratur zum Wiener Fin de Siècle bedeutet dieser Band einen wichtigen Meilenstein. Für die weitere Diskussion, die er selbst kräftig vorantreiben hilft, wird er lange unentbehrlich sein.

Anmerkungen:
1 Einzelne Kapitel, wie der wichtige einleitende Beitrag von Allan Janik, dessen ursprüngliche Fassung im Austrian History Yearbook erschien, lagen allerdings schon seit 1997 in Zeitschriften gedruckt vor.
2 Vgl. Carl E. Schorske, Fin-de-Siècle Vienna. Politics and Culture, New York, Kopf, 1980. Es sei daran erinnert, dass einzelne Kapitel des Buches schon seit Anfang der sechziger Jahre an verschiedenen Orten als Zeitschriftenaufsätze erschienen waren.
3 Vgl. Vienna and the Jews 1867-1938. A Cultural History, Cambridge1989.
4 Vgl. Alan Janik; Stephen Toulmin, Wittgenstein's Vienna, New York 1973.
5 Zu erwähnen wäre u.a. das Buch von Wolfgang Maderthaner; Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt a.M. 1999.
6 Vgl. Pieter M. Judson, Exclusive Revolutionaries: Liberal Politics, Social Experience, and National Identity in the Austrian Empire, 1848-1914, Ann Arbor 1996.
7 Stellvertretend sei auf die grundlegende Untersuchung Jacques Le Riders, Das Ende der Illusion. Zur Kritik der Moderne, Wien 1990 hingewiesen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension