Titel
Vor der großen Flut. Die europäische Migration in die Vereinigten Staaten von Amerika 1783-1820


Autor(en)
Grabbe, Hans-Jürgen
Reihe
USA-Studien 10
Erschienen
Stuttgart 2001: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
458 S.
Preis
€ 71.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietrich Herrmann, Institut fuer Politikwissenschaft, Technische Universitaet Dresden

Dieses Buch - in großen Teilen die Habilitationsschrift von Hans-Jürgen Grabbe - ist wohl das letzte aus der Schule des 1994 verstorbenen Historikers Günter Moltmann, der lange Jahre den Hamburger Lehrstuhl für Überseegeschichte innehatte. In den siebziger Jahren hatte sich in den Vereinigten Staaten eine Bewegung zur Beschäftigung mit der eigenen ethnischen Identität entwickelt („New Ethnicity“). In diesem Zusammenhang stand das Bestreben, die Geschichte der eigenen eingewanderten Vorfahren zu ergründen. Für die Erforschung der Auswanderung aus Europa war daher die Zusammenarbeit amerikanischer Wissenschaftler mit deutschen Kollegen erforderlich, häufig (auch finanziell) gefördert durch deutsch-amerikanische Vereinigungen in den Vereinigten Staaten, in Deutschland vor allem durch die Volkswagen-Stiftung. Der Schwerpunkt der Arbeiten der deutschsprachigen Amerikahistoriker zur Migrationsforschung lag seit den siebziger Jahren vorwiegend auf der Perspektive der Auswanderung, auf dem Migrationsprozess sowie auf der Entwicklung deutschsprachiger Einwandererkolonien in den USA. Die Frage nach dem Umgang einer Gesellschaft mit den Problematiken von Einwanderung, Multi-Ethnizität und Integration, die für das sich zunehmend als Einwanderungsland verstehende Deutschland von wachsender Bedeutung wurde, blieb in diesen Arbeiten, auch der hier vorliegenden, noch unterbelichtet. Grabbe weist allerdings zu Recht darauf hin, dass die von Thistlethwaite auf dem Stockholmer Historikerkongress 1960 formulierte Forderung, Migrationsforschung müsse von den Ansätzen der Entwurzelung bis hin zur „ultimate reconciliation or defeat abroad“ allumfassend sein, vom einzelnen Historiker kaum zu erfüllen ist. (S. 16)

Grabbes 1990 eingereichte und für die Publikation überarbeitete Habilitationsschrift ist stark von den schwer zugänglichen Quellen geprägt. Hierin besteht ohne Einschränkung die große Leistung Grabbes und seiner früheren Kollegen: Sich durch die Berge von Archiv-Akten diesseits und jenseits des Atlantik gearbeitet zu haben und sich dadurch dem Phänomen der transatlantischen Migration anzunähern. Grabbes Arbeit schließt zudem eine Lücke, weil sie sich mit der frühen amerikanischen Republik, einer bisher kaum beachteten Phase der Einwanderung befasst.

Grabbes Absicht ist, „durch eine Analyse der atlantischen Migration in den Jahren 1783 bis 1820 Aufschlüsse über damals geläufige Formen der Wanderung und deren außenwirtschaftliche Implikationen, über die regionale Distribution der Migranten in Europa und den Vereinigten Staaten sowie über die Chancen der Einwanderer auf dem Arbeitsmarkt der jungen amerikanischen Republik zu gewinnen.“ (S. 15) Seine knappe Einleitung (S. 15-21) nimmt einerseits Begriffsklärungen vor und gibt einen kurzen Forschungsüberblick. Grabbe definiert Begriffe wie „Migration“ oder „Akkulturation“ analytisch; eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Verwendung solcher Begriffe oder verwandter Konzepte unterbleibt weitgehend. Der Forschungsüberblick deckt das engere Forschungsgebiet der Arbeit ab.

In den ersten beiden Kapiteln widmet sich Grabbe den empirischen Daten: Wie viele Einwanderer sind im genannten Zeitraum zwischen 1783 und 1820, der vor dem Beginn der offiziellen Zählung der Einwanderung durch amerikanische Behörden liegt, in die Vereinigten Staaten eingewandert? Die Relevanz der Frage liegt in der bislang nicht angezweifelten Behauptung von Generationen von Historikern, die Einwanderung in den ersten Jahrzehnten nach der Revolution sei im Grunde unbedeutend gewesen. Das bisher akzeptierte Zahlenmaterial beruhte auf höchst dubiosen Schätzungen - Grabbe räumt damit gründlich auf: Er zeigt minutiös auf, auf welch schwacher Quellenbasis und teils offensichtlich falscher Interpretation die Vorgängerschätzungen beruhten und dann meist unhinterfragt tradiert wurden. Grabbe selbst benutzt unterschiedliche zeitgenössische Quellen (regionale Zeitungsberichte, Berichte von Handelsagenten und Konsuln) um schließlich bei aller Zurückhaltung und Vorsicht bei der Interpretation der Zahlen, die Grabbe völlig zu Recht walten lässt, zu einer eigenen Schätzung zu kommen, die mit ungefähr 366400 Personen für 1783-1820 zwischen 7 und 46% höher liegt als frühere Schätzungen (S. 91, 94). Nach Grabbes Recherchen spielte die Einwanderung eine ähnlich starke Rolle für das Gesamt-Bevölkerungswachstum der Vereinigten Staaten wie vor der Revolution - ein weiterer Aspekt, der die Kontinuität in der Migrationsgeschichte in diesen beiden Phasen unterstreicht (S. 98).

Schließlich unternimmt es Grabbe, den Anteil der aus Deutschland und der Schweiz stammenden Einwanderer an der amerikanischen Bevölkerung für 1790 zu schätzen und kommt dabei ähnlich wie Albert Faust 1927 (11,3%) auf 11,5%, während die Kommission der American Council of Learned Societies 1929 auf lediglich 8,7% gekommen war. In der Tat ist, wie Grabbe schreibt, das Problem des Anteils der Nationalitäten an der Gesamtbevölkerung für 1790 oft diskutiert worden, doch wäre an dieser Stelle ein Hinweis erforderlich, wieso und weshalb: In der Diskussion um die Einwanderungsbeschränkung entschied sich der amerikanische Kongress in den 1920er Jahren für ein Modell, demzufolge die maximalen Quoten für Herkunftsländer entsprechend dem Anteil der jeweiligen Nationalität an der Gesamtbevölkerung zum Zeitpunkt der ersten Volkszählung 1790 festgelegt werden sollten. Offen ausgesprochenes Ziel der Kongressmehrheit war, die Quoten für die ungeliebten Einwanderer aus Süd- und Osteuropa möglichst niedrig zu halten (ganz zu schweigen von der außereuropäischen Einwanderung, die in jener Zeit völlig verboten war). Dies war der eigentliche Skandal. Albert Fausts Buch aus den 1920er Jahren „The German Element in the United States“ war ein Versuch, die positive Bedeutung der Deutschstämmigen für die amerikanische Gesellschaft hervorzuheben und damit - wie Vertreter anderer Einwanderergruppen auch - Lobby-Arbeit in der zeitgenössischen politischen Auseinandersetzung um die Festlegung der Einwanderungsquoten zu betreiben.

Grabbe übernimmt die Faustsche Terminologie vom „deutschen Element“. Er spricht bei seinen statistischen Untersuchungen vom „Immigrationsvolumen“, als ob es sich um gewöhnliche Produkte des transatlantischen Handels drehte. Er setzt sich damit nicht von der Praxis vieler Statistiker ab. Der Titel des Buches „Vor der großen Flut“ ähnlich wie der Titel eines früheren Aufsatzes „Before the Great Tidal Waves“ kann allerdings - vom Autor sicher nicht intendiert - negative Assoziationen wecken, hat „Flut“ doch im Zusammenhang mit Migration eine fast ausschließlich negative Konnotation, wie wir nicht zuletzt aus deutschen Diskussionen der neunziger Jahre wissen.

Kapitel III und IV widmen sich den volkswirtschaftlichen Zusammenhängen von Migration, Außenhandel und Binnenwirtschaft. Dabei zeigt Grabbe eine glänzende, schier unglaubliche Quellenkenntnis. Im Abschnitt über das Auswanderertransportgeschäft etwa zeigt sich seine Liebe fürs Detail, wenn er in einer Tabelle über vier Seiten die Proviant- und Ausrüstungsladungen samt aller Kosten auflistet, die ein bestimmtes Schiff hatte, das auf der Rückreise von Europa nach Amerika mit dem Transport von „Redemptioners“ eine verlustreiche Leerfahrt zu vermeiden suchte. Man erfährt, wie viel Rindfleisch, wie viel Brot, wie viel Bier zu welchem Preis diese Schiffe an Bord nahmen. Ließen sich mit dem Transport barzahlender Auswanderer leichte Erträge erzielen, so war insbesondere der Transport der Redemptioners oft verlustreich, da ihre Reise ja erst durch ihre Arbeitsleistung in der Neuen Welt finanziert werden sollte - ein für die Unternehmer kompliziertes und riskantes Geschäft.

Das Schwanken der Einwandererzahlen hing, auch dies zeigt Grabbe eindrücklich, zusammen mit Veränderungen im Außenhandel, mit Getreidepreisen, Lebenshaltungskosten und Arbeitslöhnen auf beiden Seiten des Atlantik. Er hütet sich jedoch vor monokausalen Erklärungsmustern, sondern ist ständig bemüht, die ganze Komplexität darzustellen. Durch die Einbeziehung von Auswandererbriefen und Tagebuchaufzeichnungen ist Grabbe in der Lage, die oft notwendigerweise trockenen volkswirtschaftlichen Betrachtungen durch die persönliche Sicht von Zeitzeugen anschaulich zu illustrieren.

Kap. V („Migration und Staat“) ist den Versuchen der staatlichen Organe in den Herkunftsländern wie in den USA gewidmet, Migration zu regeln und unter staatliche Kontrolle zu stellen. Besonders bei den deutschen Behörden herrschte Skepsis hinsichtlich der Auswanderung von Untertanen vor, weshalb mehrere deutsche Staaten in Verbindung mit der Auswanderung Steuern und Gebühren erhoben, in Jahren von Missernten davon allerdings absahen. Seitens der USA ging es im Berichtszeitraum nicht um die zahlenmäßige Kontrolle als um die Bedingungen der Einwanderung. Die Hafenstaaten erhoben aus ganz pragmatischen Gründen Gebühren für die Einwanderung, um damit ihre Kosten zu decken. Im zweiten Jahrzehnt des 19. Jh. wurden von den Hafenstaaten Bestimmungen zum Schutz der Einwanderer vor allzu gewinnsüchtigen Reedern beschlossen, nachdem in etlichen Fällen Einwanderer aufgrund der extremen Zustände bereits bei der Überfahrt starben oder verhungerten. Als erste bundesstaatliche Regelung harmonisierte das Einwanderungsgesetz von 1819 die Bestimmungen der Hafenstaaten über die Mindestanforderungen für Einwandererschiffe. 1820 eignet sich, wie Grabbe richtig zeigt, sehr viel eher als Epochenschnitt in der transatlantischen Migrationsgeschichte als die Revolution und Gründung der USA.

Der Migrationsprozess ist Thema des umfangreichen VI. Kapitels, Grabbe geht hier der Wanderungs-Motivation, den Vorbedingungen und den Reise-Umständen nach. Wieder schöpft er hier aus seiner unermesslichen Materialkenntnis, so dass die Schilderung besonders der Reiseumstände sehr anschaulich die Probleme wie Krankheiten, Verpflegung an Bord der Schiffe wird. Das Kapitel endet etwas unvermittelt insofern, als sich nicht einmal ein Hinweis auf die nächsten Schritte des Migrationsprozesses, die Probleme der Integration, anschließt.

In Kapitel VII bemisst Grabbe die Bedeutung von Redemptionersystem und Indentured Servitude und beschreibt die Faktoren für deren Niedergang zum Ende seines Berichtszeitraums. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die das Aufkommen des Systems begünstigt hatten - Vermeidung von Leertransporten von Europa nach Nordamerika, Bedarf im Billiglohnsektor - hatten sich verändert, und zudem tolerierte ein gewachsenes Rechtsbewusstsein nicht mehr die häufigen Missbräuche im System. Im Anhang enthalten sind einige Quelle zur Geschichte eines Auswandererschiffs sowie zur Praxis des Redemptionersystems.

Grabbes Buch ist nichts für den flüchtigen Leser, der schnell einen Überblick über das Thema bekommen möchte. Es bietet jedoch reiche Schätze vor allem in den volkswirtschaftlichen Teilen sowie in den anschaulichen Schilderungen über die praktischen Probleme der Einwanderung und deren Auswirkungen auf das Wanderungsverhalten und die Politik. So hat Grabbe einen wichtigen Beitrag für die transatlantische Migrationsgeschichte geleistet.

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