T. Vilímek: Die Opposition in der ČSSR und der DDR nach 1968

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Titel
Solidarita napříč hranicemi. Opozice v ČSSR a NDR po roce 1968 [Solidarität über die Grenzen hinweg. Die Opposition in der ČSSR und der DDR nach 1968]


Autor(en)
Vilímek, Tomáš
Erschienen
Anzahl Seiten
383 S.
Preis
302 Kč
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Alexander, Historisches Seminar, Universität Köln

Auf den ersten Blick drängt sich ein Vergleich der Opposition gegen die jeweiligen Regime in der Tschechoslowakei und der DDR nicht auf, denn es gab eigentlich mehr Unterschiede in beiden Ländern als Gemeinsamkeiten, und die Verbindungen der Tschechen zu den Polen waren enger als zur DDR, wie der Autor mehrfach nur kurz andeutet. Dennoch lohnt sich der Vergleich, wie das Ergebnis zeigt. Vilímek ist Historiker und Politologe und derzeit am Institut für Zeitgeschichte in Prag angestellt, und er verbindet die Methoden beider benachbarten Disziplinen: Als Grundlage für die Untersuchung dienen veröffentlichte Texte (aus staatlicher oder privater Quelle), Archivmaterialien (Akten der Ermittlungsbehörden beider Länder, Protokolle und Denunziationsberichte; Privatbriefe) und ausführliche Befragungen von Mitgliedern der Opposition in beiden Ländern, die auf den verschiedenen Ebenen der Untersuchung immer wieder herangezogen werden. Diese Ebenen werden in sieben Kapiteln der Arbeit abgehandelt.

Vilímek bietet zunächst eine knappe Darstellung der politisch-wirtschaftlichen Entwicklung der DDR in der Nachkriegszeit, in der – nach dem Aufstand von 1953 – besonders der “Mauerbau” von 1961 eine zentrale Rolle gespielt hat; die Oppositionsbewegung erfasste in erster Linie die Jugend (Wehrdienst oder ziviler Dienst als “Bausoldaten”) und gründete auf einer engen Bindung an die evangelische Kirche, die die Themen “Ökologie” und “Friedensbewegung” unterstützte und vielfach den Ort für Versammlungen oder technische Hilfe bot. Insgesamt war die Opposition relativ klein, intellektuell orientiert und durch eine ständige freiwillige oder erzwungene Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland in hoher Fluktuation, so dass zum Beispiel schließlich mehr oppositionelle Studenten aus Jena in Westberlin lebten als in Jena selbst.

Der Versuch einer Typologie der “Opposition” in der ČSSR und der DDR ist eher mager geraten, da das Feld von oppositioneller Betätigung sehr weit war, sich je nach den Zeitumständen rasch wandelte und von der Reaktion der staatlichen Behörden beider Länder abhing. Als Hauptkriterium bleibt daher die Frage der Gewaltlosigkeit der “Dissidenten”, die der Gewalt des Staates – Strafverfolgung und Haft, Ausbürgerung, Repressionen und Diskriminierung der Familienangehörigen – nur ihre Worte und solidarischen Aktionen entgegensetzen konnten. Dieser Problemkreis wird in einem Kapitel über die Gesellschaften beider Länder bearbeitet. Nach den Versuchen von Auflehnung („17. Juni“ 1953 in der DDR) oder Reform (“Prager Frühling” 1968) herrschte in beiden Staaten ein “Gesellschaftsvertrag”, der der Mehrheit der Bürger Ruhe und eine einigermaßen gesicherte Versorgung bot, sofern sie sich der politischen Macht beugten. Nur kleine Gruppen versuchten diese Situation aufzubrechen: In der ČSSR mit der “Charta 77" und in der DDR durch eine Vielzahl von Gruppen mit unterschiedlicher Thematik, die vor allem durch die Jugend getragen wurde. Der Einfluss dieser Gruppierungen auf die Mehrheit der Bevölkerung blieb aber sehr begrenzt, und die Wahrnehmung jenseits der Staatsgrenze war gering.

Einen essayhaften Charakter hat das Kapitel zur Frage, wie die Dissidenten in beiden Ländern zur Opposition gelangten, denn niemand wird als Oppositioneller geboren, sondern entwickelt sich erst allmählich in diese Richtung (S. 301). Aus den Lebensläufen von vielen Personen in beiden Staaten destilliert Vilímek vier Faktoren: Familie, soziale Gruppe, kirchliche Bindung und Wahrnehmung von Politik (zum Beispiel des “Mauerbaus”). Gleichwohl vermag er aber angesichts der vielen Beispiele nur ein “buntes Bild” zu bieten, das sich einer Typologisierung entzieht. Dabei ist jedoch die unterschiedliche Ausgangslage in beiden Staaten zu beachten: In der ČSSR hatte die Nachwirkung des “Prager Frühlings” zu einer tiefen Desillusionierung über die Reformfähigkeit des “sozialistischen Systems” geführt, in deren Folge die Frage der Menschen- und Bürgerrechte in das Zentrum oppositionellen Denkens rückte und in der “Charta 77" zum Ausdruck kam. In der DDR herrschte dagegen bei vielen Dissidenten weiterhin die Hoffnung auf eine Reformierbarkeit des “Sozialismus” – oder war dies nur der Angst vor Repressionen und der Allgegenwart der Stasi geschuldet?

Dem Titel der Arbeit entspricht das folgende Kapitel, das die unterschiedliche Wahrnehmung der Opposition im jeweils anderen Land beschreibt. Diese war asymmetrisch, da die Ostdeutschen zwar das Jahr 1968 miterlebt hatten, die „Charta“ dagegen nur von wenigen wahrgenommen worden war, oft auf dem Umweg über die Vermittlung der bundesdeutschen Medien. Umgekehrt waren nur wenige Tschechen durch direkte Kontakte über die Entwicklung in der DDR informiert, und die Bedeutung der Mauer in Berlin wurde manchem erst durch einen Besuch dort bewusst. Nur wenige Schriften von ostdeutschen Dissidenten gelangten durch Übersetzungen in das intellektuelle Prag, das bei Vilímek sowieso im Zentrum der Darstellung steht. Die schwierigen (ost-)deutsch-tschechischen Beziehungen fanden erst infolge der Massenflucht von DDR-Bürgern zur Prager Botschaft der BRD ihren Weg ins tschechische Bewusstsein. Dem entspricht auch das Kapitel über die Zusammenarbeit der Dissidenten über die Grenzen, die eigentlich auf die sporadischen Besuche von Einzelpersonen im jeweils anderen Land beschränkt blieb. Erst die so genannte “Prager Erklärung” tschechischer Dissidenten vom 11. März 1985 über die Entwicklung in Europa und die Forderung nach einem einheitlichen Deutschland (in Faksimile tschechisch und deutsch abgedruckt, S. 227-231) schufen die Basis für engere Beziehungen und mehr Besuche. In der Darstellung wirken die Berichte über die Einblicke der Stasi in diese Kontakte besonders deprimierend; so gut wie alle Gespräche, auch im kleinen Kreis, gelangten in die Akten der Stasi.

Dies leitet zum letzten Kapitel über eben diese Beziehungen der Sicherheitsbehörden beider Staaten über. Die Bespitzelung war allumfassend: Briefe wurden abgefangen, gelesen, manchmal verspätet zugestellt, so dass gemeinsame Aktionen nahezu unmöglich waren. Auch hier zeigt sich eine Asymmetrie, weil die tschechische Seite an der disparaten DDR-Opposition wenig interessiert war und mit der Bedeutung der evangelischen Kirche dort nichts anfangen konnte. Die Lage der katholischen Kirche in der ČSSR war von weit mehr Repression geprägt. Andererseits war die Stasi an der „Charta“ durchaus interessiert, weil die Frage der Menschen- und Bürgerrechte für sie als Einfallstor westlicher Ideen eine Gefahr darstellte; zwar wurde die Lage politisch fehlerhaft eingeschätzt, jedoch aber eine jüdische Abkunft der Chartisten auf 50 % der Unterzeichner postuliert (S. 281). Eine engere Zusammenarbeit gab es nur auf der Ebene der obersten Leitung und bei der Verhinderung der Einreise von suspekten Personen im Sinne des Systems.

Schaut man auf den Ertrag der Lektüre, so ist festzustellen, dass die Erwartung einer wirklichen Zusammenarbeit von Dissidenten über die Grenzen hinweg, die der Titel suggeriert, eher eine Einzelerscheinung und das Ergebnis persönlicher Beziehungen war. Mit Ausnahme der Massenwirkung der Ereignisse des Mauerbaus 1961 und der Folgen des Prager Frühlings 1968 nahm die Öffentlichkeit kaum Notiz vom Nachbarn, und nur wenige waren darüber informiert, noch dazu oft in verschiedenen Gruppen tätig. Im Unterschied zu Polen, wo mit “KOR” und der Bewegung der Solidarność ein Bündnis zwischen Intellektuellen und Arbeitern zustande gekommen war, das in einer Aufbruchstimmung von Millionen unter aktiver Mitwirkung der katholischen Kirche die herrschende Partei herausforderte, blieb die Opposition in den beiden untersuchten sozialistischen Nachbarn ein gesellschaftliches Randphänomen. Allerdings war hier ein hohes intellektuelles Potential vorhanden, das über die Existenzzeit der “sozialistischen Länder” hinausreichte und bis heute zwei Staatspräsidenten hervorgebracht hat: Václav Havel und Joachim Gauck.

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