M. Borovička: Große Geschichte der Länder der böhmischen Krone – Reisen

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Titel
Velké dějiny zemí Koruny české [Große Geschichte der Länder der böhmischen Krone]. Cestovatelství [Reisen]


Autor(en)
Borovička, Michael
Reihe
Velké dějiny zemí Koruny české. Tematická řada 2
Anzahl Seiten
760 S.
Preis
790 CZK
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sarah Lemmen, Ludwig Boltzmann Institut für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit, Wien

Im Rahmen einer bald über zwanzigbändigen „Großen Geschichte der Länder der böhmischen Krone“ vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert ist der vorliegende Band der zweite Teil einer stetig wachsenden „thematischen Reihe“, die im weiteren Sinne als kulturgeschichtlich zu definieren ist. Dass dafür gerade das Thema Reisen gewählt wurde, ist ungewöhnlich und macht neugierig.

Über ein Jahrtausend erstrecken sich die von den böhmischen Ländern ausgehenden Reisen, die hier behandelt werden. Der Bogen wird gespannt von der „ersten bekannten Seereise eines Böhmen“ Ende des 10. Jahrhunderts (S. 19) über Pilger im Heiligen Land, Adelsreisen nach Italien, Entdeckungsreisen in Afrika oder am Südpol im 19. Jahrhundert bis zu modernen Abenteurern und Individualreisenden in der sozialistischen Epoche sowie in der anschließenden Phase „des Vergnügens und des Konsums“ (S. 662) in den 1990er-Jahren.

Reisen, „cestovatelství“, definiert Michael Borovička im Sinne von Entdeckungsreisen. Im Gegensatz zu „cestování“, dem er eine allgemeinere Bedeutung von Reisen zuschreibt, die auch touristisches Reisen oder Handelsreisen mit einschließt, werden hier vor allem diejenigen Reisen in den Blick genommen, deren Zweck es war, den Mitmenschen „Zeugnis abzulegen von den auf den Reisen erworbenen Erkenntnissen“ (S. 9). Im Fokus stehen dabei aber nicht, wie im Titel angedeutet, die Reisen, sondern die Reisenden selbst. Mehrheitlich chronologisch sortiert, bietet das Buch Einblick in das Leben, Wandern und Wirken von so unterschiedlichen Personen wie dem Heiligen Vojtěch/Adalbert im 10. Jahrhundert, dem Pädagogen Jan Amos Komenský/Comenius im 17. Jahrhundert oder dem „rasenden Reporter“ Egon Erwin Kisch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Reisenden werden alle in ähnlicher Manier präsentiert: Nach einer kurzen biographischen Einordnung findet sich eine Beschreibung der (zentralen) Reise(n) sowie eventuell ein Auszug aus dem jeweiligen Reisebericht.

Dieses biographische Ordnungsprinzip lässt auch gleich die Stärken und Schwächen der Publikation aufscheinen: Während die nacheinander gereihten Lebensläufe und Reisebeschreibungen das Buch als umfangreiches Nachschlagewerk nutzbar machen lassen, indem sie die Möglichkeit geben, gezielt (und durch ein ausführliches Namens- und Ortsregister einladend) bestimmte Reisende nachzuschlagen, verliert sich der Leser, der ganze Kapitel am Stück liest, leicht in den Detailbeschreibungen und vermisst synthetisierende Absätze. Die über tausend Namen im Personenregister können hier andeuten, wie kleinteilig der Text sich bisweilen gestaltet.

In größeren Abständen sind bereits mehrere Publikationen über böhmische bzw. tschechische Reisende und Entdecker (cestovatelé) erschienen, in der Regel als Aneinanderreihung von Kurzbiographien inklusive Kurzbeschreibungen der Reiseverläufe.1 In Ansatz und Schwerpunkten ist der Band von Borovička diesen thematischen Vorläufern sehr ähnlich. Dennoch liefert er – schon allein aufgrund des Umfanges von über siebenhundert Seiten – einen Mehrwert, den es zu beachten lohnt: Gerade die gewählte longue durée-Perspektive vermag es, nicht nur einen Überblick über Typen von (Entdeckungs-) Reisen zu verschaffen, sondern auch einen Blick auf die facettenreiche böhmische Geschichte außerhalb des böhmischen Kessels zu werfen.

Begriffliche Ungenauigkeiten, die durch semantische Verschiebungen (und durch Veränderungen von Staats- und Landesgrenzen) in diesem langen Untersuchungszeitraum entstehen, sind wohl unvermeidlich. So wird die Bezeichnung der Reisenden mit dem Adjektiv „český“ zwar in der Einleitung als „böhmisch“ beschrieben, also sowohl die deutsch- als auch die tschechischsprachige Bevölkerung Böhmens einschließend. Doch entpuppt sich dieses Eigenschaftswort oft als Synonym für die jeweils existierende und immer mit unterschiedlichen Grenzen versehene politische Einheit: die böhmischen Länder (Böhmen, Mähren, Schlesien), die Tschechoslowakei, die Tschechische Republik.

Das Buch gliedert sich in vier chronologische und thematische Kapitel. Jedes Kapitel beginnt mit einer Einführung in allgemeine Trends des Reisens und einer Einbettung in die geographischen Entdeckungen der jeweiligen Zeit. Es folgen Beschreibungen einzelner Reisen und Reisender. Neben Zitaten aus Reiseberichten vervollständigen Abbildungen in Form von Karten, Fotos, Zeichnungen oder Drucken den Text.

Die ersten zweihundert Seiten sind „Diplomaten, Pilgern, Kavalieren“ im Mittelalter und der frühen Neuzeit gewidmet. Schon für diese Zeit finden sich Personen, die ganz Europa bereisten. Die Reisen des heiligen Vojtěch im 10. Jahrhundert, die ihn bis ins heutige Italien, Frankreich oder Polen führten, hatten einen religiösen, vor allem missionarischen Hintergrund. Um 1300 reiste Odorik aus Pordenone als Missionar und päpstlicher Gesandter über das Schwarze Meer Richtung Bagdad, nach Indien, China und Tibet. Belege für Pilgerfahrten nach Palästina finden sich seit dem 11. Jahrhundert. Die Reisen des Kryštof Harant z Polžic a Bezdružic (Christoph Harant von Polschitz und Weseritz) ins Heilige Land, die als Vorbild für böhmische Pilger bis ins 20. Jahrhundert dienten, werden ebenso nachvollzogen wie Kavaliersreisen böhmischer Adliger, so die Reisen von Zdeněk Brtnický z Valdštejna nach London, Cambridge und Oxford oder von Bedřich z Donína nach Italien um 1600. Diese Zeit, bis zur Schlacht am Weißen Berg im Jahr 1620, bildet den ersten Höhepunkt in der Entwicklung der auf Tschechisch geschriebenen Reiseberichte (S. 161).

Weitere hundert Seiten beschäftigen sich mit neuzeitlichen Missionaren in weltweitem Einsatz. Jesuiten oder Franziskaner aus den böhmischen Ländern fuhren schon seit dem 16. Jahrhundert in die „neue Welt“. Andere reisten nach China, Japan oder auf die Philippinen. Auch evangelische Missionen wurden gegründet, unter anderem die der Böhmischen Brüder auf den Jungferninseln, im südamerikanischen Surinam, in Indien oder im südlichen Afrika.

Das längste Kapitel beschäftigt sich mit den Entwicklungen des neuzeitlichen Reise- und Entdeckungszeitalters bis zum Ende der Habsburger Monarchie. Hier stehen vor allem naturwissenschaftliche Forschungsreisen seit dem späten 18. Jahrhundert im Fokus. So führte Tadeáš Xaver Haenke nicht nur botanische Untersuchungen in Südamerika durch, sondern gilt auch als „erster Böhme“, der Australien betrat (S. 330). Das Motiv des „ersten Böhmen“ taucht regelmäßig auf: So wird davon ausgegangen, dass dem Prager deutschen Naturwissenschaftler Franz Wilhelm Sieber die erste böhmische Fahrt um die Welt gelang (S. 342), Čeněk Paclt besuchte als erster Tscheche alle Kontinente bis auf die Antarktis (S. 345) und Josef Kořenský wird als „erster böhmischer Tourist“ bezeichnet (S. 408). Es war auch ein Böhme, der, als Teil einer österreichischen diplomatischen Mission nach Persien, nicht nur die erste Telefonverbindung in Persien einrichtete, sondern ebenso den ersten Stadtplan von Teheran zeichnete (S. 373-374). Zudem finden sich hier Nachrichten über Reisen von Persönlichkeiten, die dem Leser aus anderen Kontexten bekannt sein mögen. So wird die linguistische und naturwissenschaftliche Forschungsreise von Josef Dobrovský und Jáchym ze Šternberk nach Schweden und Russland (S. 356-363) beschrieben.

Nach diesen Anfängen böhmischer Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen, linguistischen oder technischen Entwicklungen auf allen Kontinenten bis zur Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnen um 1860 die „goldenen Jahre“ (S. 377) des böhmischen Reisens, die bis zum ersten Weltkrieg andauern und in denen sich das Reisen zu professionalisieren beginnt. Hier gelangen einige Dutzend böhmische professionelle (Forschungs-)Reisende zur Darstellung. In diesen Kontext gehört unter anderem Vojta Náprstek, der zum einen selbst Reisen vor allem in die USA unternahm, zum anderen in Prag eine Anlaufstelle für alle böhmischen Reisenden einrichtete und damit ein kulturelles Zentrum gründete. Ebenfalls dazu zu zählen ist der „bekannteste böhmische Reisende“ Emil Holub (S. 421), der unter anderem 1883 die „österreichisch-ungarische Afrika-Expedition“ leitete (S. 419). Weiter kategorisiert werden die Reisenden nach „Abenteurern und Jägern“, wie etwa der „tschechische Buffalo Bill“ Richard Štorch oder sein Reisepartner Bedřich Machulka, sowie nach „Wissenschaftlern und Fachleuten“, unter die so renommierte Wissenschaftler fallen wie die Geologen Ferdinand Stolička und Otakar Feistmantel, die beide am Indischen Geologischen Institut in Kalkutta angestellt waren, oder Alois Musil, der „tschechische Lawrence von Arabien“ (S. 515).

Das vierte Kapitel widmet sich dem Reisen in den verschiedenen Phasen staatlicher Unabhängigkeit seit der Zwischenkriegszeit über die Phase des Kommunismus bis in die 1990er-Jahre. Die Zwischenkriegszeit bot eine große technische Modernisierung und Erleichterung des Reisens, aber eben auch immer weniger Regionen, die „entdeckt“ werden konnten (S. 561). In den meisten Regionen ging das „cestovatelství“ zugunsten des (touristischen) „cestování“ zurück. Nur die beiden Pole waren von Tschechen noch fast gänzlich unerforscht. So wurde von tschechischer Seite der Südpol erst in den 1960er-Jahren durch den Polarforscher Josef Sekyra erreicht (S. 640). Für die Epoche der ersten Tschechoslowakischen Republik werden besonders Naturwissenschaftler wie Jiří Baum oder der spätere Rektor der Karls-Universität Karel Domin hervorgehoben, die auf langen Forschungsreisen durch Afrika oder Asien wissenschaftliche Studien unternahmen. Zugleich stieg die Anzahl der Weltenbummler und Abenteurer, die ihre Erlebnisse schriftlich festhielten und publizierten.

Im Sozialismus waren die Reisemöglichkeiten stark eingeschränkt. Umso bemerkenswerter sind die Reisen der weit über die tschechoslowakischen Grenzen hinaus bekannten Jiří Hanzelka und Miroslav Zikmund, die gemeinsam im Jahr 1947 zu einer dreieinhalb jährigen Reise durch Afrika und Amerika aufbrachen. Weitere Reisen dieser Zeit sind in der Regel Forschungsexpeditionen zuzuordnen, die sich oft Ziele innerhalb des sowjetischen Blocks suchten. Während auch für diese Epoche einige Individuen aufgelistet werden, die als „Reisende“ qualifizieren, sieht Borovička diese Gattung für die Epoche der 1990er-Jahre vom Aussterben bedroht (S. 663). Stattdessen werden hier Abenteurer und vor allem Extremsportler genannt, wie Vítězslav Dostál, der auf dem Fahrrad die Welt umrundete, oder Petr Jahoda, der mit dem Fahrrad gar den Kilimandscharo bezwang. Reisen und Reiseberichte, so das Fazit von Michael Borovička, werde es immer geben, aber die Form werde sich ändern.

Das sehr allgemein gehaltene Fazit Borovičkas macht deutlich, wie schwierig es ist, einen zeitlichen Spagat vom Mittelalter bis in die heutige Zeit zu bewältigen, mit all den Bedeutungsschwankungen, die geographische Beschreibungen oder eben Konzepte des Reisens über die Zeit mit sich brachten. Positiv hervorzuheben ist sicherlich die Einordnung der böhmischen Reisenden in die größere Geschichte der Entdeckungsfahrten. Auch wenn manchmal irritierend wirkt, wie lang die Passagen über die „allgemeine Geschichte des Reisens“ gehalten sind – so zu den Wikingern (S. 24-25); zur Entdeckung der „neuen Welt“ (S. 201-210) oder zum Beginn der kontinentalen Expeditionen ab dem Ende des 18. Jahrhunderts (S. 309-316) – ist es dennoch immer wieder erhellend zu sehen, wie stark die Präsenz böhmischer Reisender auf verschiedenen Expeditionen gerade des 19. und 20. Jahrhunderts war: So war der Prager Radiologe František Běhounek an Bord des Luftschiffes „Italia“, mit dem Umberto Nobile versuchte, den Nordpol zu überfliegen. An der Österreichisch-Ungarischen Nordpol-Expedition auf der „Admiral Tegetthoff“ in den Jahren 1872-1874 nahmen mehrere Personen aus den böhmischen Ländern teil, unter anderem Julius Payer und Ota Kříž.

Allerdings verwundert das Ausblenden von Ansätzen der Reiseberichtsforschung. Obwohl der Reisebericht als Quelle im Zentrum steht, fehlen Überlegungen zum Umgang mit Reiseberichten. Auch die teilweise recht langen Originalzitate aus Reiseberichten (zum Beispiel von Odorik aus Pordenone [S. 39-47], von Julius Payer [S. 446-448] oder Pavel Durdík [S. 505-506]) werden unreflektiert wiedergegeben oder beurteilt: der Reisebericht von Václav Vratislav z Mitrovic aus dem 16. Jahrhundert sei eine „Zierde der böhmischen Literatur“ (S. 80); der Reisebericht von Heřman Černín z Hudenic aus dem 17. Jahrhundert schildere dagegen „hauptsächlich nur banale Dinge“ (S. 82).

Alles in allem liest sich dieses Buch wie ein Who is Who böhmischer Reisender und Entdecker in chronologischer Reihenfolge von den „Anfängen“ bis heute. Zu den meisten der hier erwähnten Reisenden erhält der Leser eine knappe Skizzierung der Reisen, biographische Details sowie eine kurze Einbettung in die politischen Geschehnisse der Zeit. Durch die chronologische Gliederung liefert der Band, was ein Lexikon nicht bieten kann: Die Kontextualisierung der Reisen(den) vor einer Folie allgemeiner europäischer und internationaler Ereignisse. Der unkomplizierte Schreibstil lässt einen fast vergessen, dass man mehrere Hundert Seiten vor sich hat. Interessierten Lesern, die einen Überblick über böhmische Reisende im Kontext globaler Reisetätigkeit suchen, sei dieses Buch empfohlen.

Anmerkung:
1 Als Nachschlagewerk zu nennen ist Jiří Martínek/ Miloslav Martínek, Kdo byl Kdo. Naši cestovatelé a geografové [Who is who. Unsere Reisenden und Geografen], Praha 1998. Eine Sammlung von Kurzbiographien findet sich bei Josef Kunský, Čeští cestovatelé I. a II. [Tschechische Reisende], Praha 1961. Auf Reisende in außereuropäische Regionen im „langen 19. Jahrhundert“ konzentriert sich Vladimír Rozhoň, Čeští cestovatelé a obraz zámoří v české společnosti [Tschechische Reisende und das Bild von Übersee in der tschechischen Gesellschaft], Praha 2007; Wenn er auch stärker als die vorab genannten Nachschlagewerke versucht, den Rückbezug auf die tschechische Gesellschaft deutlich zu machen, ist auch dieses Buch deskriptiv angelegt und entlang der einzelnen Reisen bzw. Reisenden organisiert, vgl. Sarah Lemmen: Rezension zu: Rozhon, Vladimir: Ceští cestovatelé a obraz zámorí v ceské spolecnosti [Tschechische Reisende und das Bild von Übersee in der tschechischen Gesellschaft]. Prag 2005, in: H-Soz-u-Kult, 21.11.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-137> (12.03.2012).

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