C. Promitzer u.a. (Hrsg.): Health, Hygiene and Eugenics

Cover
Titel
Health, Hygiene and Eugenics in Southeastern Europe to 1945.


Herausgeber
Promitzer, Christian; Trubeta, Sevasti; Turda, Marius
Reihe
Studies in the History of Medicine
Erschienen
Anzahl Seiten
440 S.
Preis
€ 43,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heike Karge, Universität Regensburg

Der zweite Band der an der Central European University erscheinenden Reihe Studies in the History of Medicine1 umfasst 15 Beiträge, die sich mit Gesundheits- und Hygienepolitiken und eugenischen Diskursen in den südosteuropäischen Ländern vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1945 beschäftigen. Inhaltlich und auch in der Auswahl der Autoren schließt der Band an den bereits 2007 von Marius Turda und Paul Weindling herausgegebenen Band Blood and Homeland an.2 Der Hauptteil des Bandes besteht aus zwölf nationalen Fallstudien, die den Schwerpunkten „Hygiene und Gesundheitspolitik“ sowie „Eugenik und Reproduktion“ zugeordnet sind. Vorangestellt finden sich eine systematisierende Einführung der Herausgeber/innen sowie ein einleitender Beitrag des britischen Historikers Paul Weindling. Letzterer diskutiert rassenpolitische Vorstellungen und eugenische Strategien, welche ab der Jahrhundertwende in und für Südosteuropa entwickelt wurden. Abgerundet wird der Sammelband durch einen Beitrag von Maria Bucur, der einerseits die Relevanz der den Band strukturierenden Fragen nach dem Zusammenhang von Modernisierung, Staatsbildung und Biopolitik unterstreicht, zugleich aber auch die Beiträge selbst unter die Lupe nimmt und nach der Einlösung dieser Perspektive fragt. Die Herausgeber des Bandes formulieren in einer umfassend systematisierenden Einleitung eine zweifache Agenda. Einerseits sei es das Anliegen des Bandes, die Sozialgeschichte der Medizin als historiographisches Forschungsfeld in interdisziplinäre Südosteuropastudien einzuweben.

Diesem Anliegen kann nur zugestimmt werden, ist doch in Bezug auf diesen Raum die Geschichte von Gesundheit und Fürsorge, Biopolitik und Eugenik bis auf wenige Ausnahmen noch ein nahezu weißes Forschungsfeld. Des Weiteren zielen die Herausgeber darauf, den Raum Südosteuropa vergleichend zu öffnen für entsprechende Fragestellungen in anderen europäischen Räumen bzw. auch für diachrone Vergleichsstudien, die die Frage nach dem Nexus von imperialem Erbe und nationalen Politiken in Bezug auf Gesundheit, Hygiene und Eugenik beleuchten (S. 2). Für Südosteuropa insgesamt konstatieren die Herausgeber die Besonderheit, dass einerseits der Staat eine herausragende Rolle im Prozess der Institutionalisierung von Gesundheits- und Biopolitik einnahm. Dieser Prozess, der sich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in das 20. Jahrhundert hinein erstreckt, wurde zudem stets durch einen weiteren Akteur begleitet – „Western medical intervention“ (S. 7) ist das Stichwort hier.

Ein Drittel der Beiträge diskutiert den griechischen Fall, gefolgt von drei bulgarischen und zwei rumänischen Fallstudien sowie drei Beiträgen, die im weiteren Sinne dem jugoslawischen Raum zuzuordnen sind. Die Analyse von Hygiene- und Gesundheitspolitiken im Angesicht muslimischer Bevölkerungsanteile bildet leider eine relative Fehlstelle im Band, befassen sich doch damit nur die Beiträge von Christian Promitzer und Brigitte Fuchs. Zudem hätte eine Fallstudie zum Osmanischen Reich den Komplex Eugenik und imperiales Reich (vergleichend zum österreichisch-ungarischen Ansatz im 1878 okkupierten Bosnien und Herzegowina) ins Visier nehmen können. Doch sind dies keine Leerstellen, die das hohe wissenschaftliche Niveau des Bandes senken. Im Gegenteil verweisen sie nur auf die eingangs beschriebene noch recht weiße Forschungslandkarte für die Sozialgeschichte der Medizin, die mit dem vorliegenden Band fraglos an Farbe gewinnen wird.

Zeitlich fokussiert die Mehrzahl der Beiträge auf die Epoche nach dem Ersten Weltkrieg, d.h. die wohl relevantesten Jahre in Bezug auf die beginnende Institutionalisierung eines staatlichen Gesundheitswesens, von nationaler Sozialpolitik und, wie Katerina Gardikas in ihrem Beitrag zur Malariabekämpfung in Griechenland vor dem Ersten Weltkrieg betont, in Bezug auf die Entwicklung eines „international space of public health policies“ (S. 128). Aber wie in ganz Europa und in Nordamerika ist dies auch die Hoch-Zeit eugenischer Bewegungen und Diskurse, eine Zeit, wie Turda am Beispiel Rumäniens beschreibt, in der „der eugenische Ethos zur Massenkultur“ werden sollte (S. 329). Indes reicht die eigentliche Sattelzeit für den Aufbau eines staatlichen Gesundheitssystems noch einige Jahrzehnte zurück, nämlich bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts. Diese Zeit wird leider nur in den Beiträgen von Fuchs zu Bosnien und Herzegowina und Gardikas zu Griechenland ausgeleuchtet. Dabei wäre doch insbesondere zum jugoslawischen Raum diese Zeit hoch interessant gewesen, anhand von Fallstudien, die entsprechende Diskurse und Politiken in den späteren Landesteilen vergleichend nebeneinander stellen würde – mit Kroatien-Slawonien etwa, das als Teil Transleithaniens an der imperialen Institutionalisierung von Gesundheits- und Sozialpolitik teilhatte und Serbien, das sich in bereits nationalstaatlicher Verfasstheit seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf den Weg der Institutionalisierung eines Gesundheitswesens machte.

Alle Fallstudien indessen belegen eindrucksvoll die enge Verwebung von Modernisierung und Staatsbildung mit gesundheits- und biopolitischen Ordnungsvorstellungen. Christian Promitzer belegt dies überzeugend anhand systematischer Entlausungskampagnen, die im Zwischenkriegsbulgarien an Roma und Türken mit dem Ziel der Typhusbekämpfung durchgeführt wurden. Begleitet wurden diese Kampagnen von Anti-Roma- und antimuslimischen nationalen Diskursen, in denen Medizin und Hygiene als Instrumente des bulgarischen Nationalstaates gegen seine muslimischen Minderheiten sichtbar wurden (S. 92). Sowohl der Beitrag von Promitzer als auch der von Fuchs binden ihre Beiträge zudem an aktuelle Orientalismusdebatten an. Während es im bulgarischen Fall die ethnischen Bulgaren sind, die bulgarische Roma und Türken diskursiv orientalisieren, sind es im Beitrag von Fuchs die österreichisch-ungarischen „Zivilisationsmissionare“ (und insbesondere Missionarinnen), die in Bosnien und Herzegowina nach 1878 eine angeblich zu Syphilis neigende muslimische Bevölkerung diskursiv aus der modernen, aus der westlichen Zivilisationsvorstellung aussondern. Verglichen mit der Modernisierung der ökonomischen und landwirtschaftlichen Infrastruktur im okkupierten Bosnien und Herzegowina beschreibt Fuchs den 1878 hier einsetzenden Aufbau eines systematischen Gesundheitswesens als erstaunlich effektiv (S. 69). Zudem identifiziert sie am Beispiel der in Bosnien und Herzegowina eingesetzten „lady doctors“ – ein einzigartiges Phänomen dieser Zeit in den Provinzen der Doppelmonarchie – einen engen Nexus zwischen Emanzipationsbestrebungen von Frauen aus der Doppelmonarchie und einem, wie sie es formuliert, „female orientalism“ (S. 83).

Emanzipation spielt eine zentrale Rolle auch in Rory Yeomans Beitrag, der diese allerdings im Kontext eugenischer Diskurse im Zwischenkriegsjugoslawien und im Unabhängigen Staat Kroatien (NDH) diskutiert. Während er zunächst ein differenziertes Bild der sich, wenn auch langsam, insbesondere im urbanen Raum emanzipierenden Frauen in Jugoslawien entwirft, diskutiert er anschließend die Komplexität und Widersprüchlichkeit eugenischer Diskurse und Maßnahmen im NDH. Das Ustaša-Regime entwarf sein ganz eigenes eugenisches Programm (S. 413). Hier herrschte einerseits über pronatalistische Gesetze ein offener Verzicht auf Maßnahmen der negativen Eugenik (Abtreibung) – allerdings nur in Bezug auf den Nachwuchs kroatischer Mütter. Auf der anderen Seite wurde die negative Eugenik, um nicht zu sagen Ausrottungspolitik, aggressiv gegenüber Serben, Juden und Roma angewendet. Vergleicht man dies mit dem von Turda diskutierten rumänischen Fall wird klar, dass trotz aller Unterschiede viele Gemeinsamkeiten in Bezug auf eugenische Diskurse und Ideen in Südosteuropa (und darüber hinaus) vorherrschten. So wie der Pionier der Hygienemodernisierung im Zwischenkriegsjugoslawien, Andrija Štampar, für Alkoholiker oder Psychopathen die Zwangssterilisation empfahl, wurden im Zwischenkriegsrumänien ganz ähnliche Pläne zur Sterilisation sozial benachteiligter Gruppen – Obdachlose, Gefängnisinsassen etc. – diskutiert. In den 1940er-Jahren wuchsen sich diese Pläne schließlich in Richtung eines ethnisch motivierten eugenischen Diskurses aus, in welchem allerdings nie gesetzlich fixierte rassenhygienische Maßnahmen gegenüber Roma und Juden die zentrale Rolle spielen sollten.

Die Beiträge bewegen sich nicht durchgehend auf einem hohen analytischen Niveau. Das Anliegen des Bandes, „regional patterns“ zu identifizieren, scheitert zu Teilen an zwar sehr informativen und aufwändig recherchierten Analysen, die aber manchmal zu deskriptiv bleiben und sich in einer Fülle von Details verlieren. Dies trifft z.B. für den Beitrag von Tudor Georgescu zu eugenischen Bewegungen unter den Siebenbürger Sachsen in der Zwischenkriegszeit zu. Hier reißt erst die conclusion am Ende der Analyse die spannendsten und somit offen bleibenden Fragen an: welcher Art war die Interaktion zwischen der eugenischen Bewegung der Siebenbürger Sachsen und ihrem rumänischen counterpart? Lassen sich die beschriebenen Details mit eugenischen Programmen anderer deutscher Minderheiten in Europa vergleichen (S. 383)? Indes rücken in Georgescus Beitrag ähnlich wie in jenem von Željko Dugac Einzelpersonen in den Vordergrund, die neben dem Staat und den internationalen Akteuren in der Lage waren, eine herausragende Rolle einzunehmen. Bei Georgescu ist es Alfred Csallner, der die zentrale Person des eugenischen Diskurses unter den Siebenbürger Sachsen werden sollte. Bei Dugac, der die Entwicklung eines öffentlichen Gesundheitswesens im Zwischenkriegsjugoslawien ebenfalls sehr deskriptiv untersucht, ist es Andrija Štampar, fraglos eine der wichtigsten Akteure im Prozess der Popularisierung von Sozialmedizin und Hygienepolitik zu dieser Zeit. Aber während sich Dugacs Beschreibung der Initiativen von Štampar beinahe zu einer Lobpreisung der Person auswächst, gelingt es zum Beispiel Yeomans in seinem Beitrag, die hier ebenfalls diskutierte Person Štampars in ein differenzierteres Licht zu rücken. Denn während Dugac Andrija Štampar, der in den 1930er-Jahren von seinen Funktionen am Ministerium für öffentliche Gesundheit entbunden wurde, als Opfer eines zunehmenden serbischen Nationalismus beschreibt, macht Yeomans ihn als Teil eben dieses sich zunehmend ethnisierenden Konflikts sichtbar. Denn Štampar war eben nicht nur ein großer Befürworter positiver eugenischer Maßnahmen zur Verbesserung der demographischen Situation in Jugoslawien, sondern zugleich auch ein kroatischer Vertreter rassenhygienischer Maßnahmen zur Aufwertung des biologischen Potentials der modernen jugoslawischen Gesellschaft (S. 398).

Der abschließenden Kritik von Bucur, die das Fehlen einer weiter gefassten analytischen Perspektive bemängelt, ist hier zuzustimmen. Aber dies ist eine für Sammelbände häufig zutreffende Kritik. Interessanter ist die Frage Bucurs nach dem heuristischen Wert der einzelnen Fallstudien. Geht es darum, einen weiteren Fall detailreich zu analysieren, im Angesicht einer zumindest für den westeuropäischen Raum inzwischen recht gut etablierten Sozialgeschichte der Medizin? Bereichern wir diese mit weiteren Fällen aus Südosteuropa oder sind diese südosteuropäischen Studien geeignet, die theoretischen und methodischen Vorannahmen der Forschungsrichtung selbst weiterzuentwickeln (S. 441)? Die Antwort auf diese Frage ist noch offen, aber die Autoren und Herausgeber des Bandes haben mit ihren Analysen einen wichtigen Weg geebnet, um letzteren Anspruch in Zukunft einzulösen.

Anmerkungen:
1 Weitere in dieser Reihe erschienene Bände siehe: <http://www.ceupress.com/books/html/History-of-Medicine-series.htm> (25.10.2013).
2 Marius Turda / Paul J. Weindling (Hrsg.), Blood and Homeland. Eugenics and Racial Nationalism in Central and Southeast Europe, 1900–1940, Budapest 2007.

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