F. Marin: Die "deutsche Minerva" in Italien

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Titel
Die "deutsche Minerva" in Italien. Die Rezeption eines Universitäts- und Wissenschaftsmodells 1861-1923


Autor(en)
Marin, Francesco
Reihe
Italien in der Moderne 17
Erschienen
Köln 2010: SH-Verlag
Anzahl Seiten
410 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friedemann Scriba, Berlin

Der 1861 entstandene und 1870 mit der Eroberung Roms vollendete moderne italienische Nationalstaat stand von Anfang an vor der Aufgabe, sein stark fragmentiertes und von mitteleuropäischen Entwicklungen des Jahrhunderts weitgehend unberührtes Hochschulwesen zu modernisieren. Wie diese Modernisierungsarbeit vor allem in den – für die italienische Identitätsbildung belangvollen – geisteswissenschaftlichen und juristischen Disziplinen bis zur faschistischen Bildungsreform Giovanni Gentiles 1923 mit Bezug auf deutsche und, in geringerem Maße, österreichische Vorbilder vonstatten ging, ist Gegenstand der Dissertation Marins.

In seiner Narration zeichnet Marin den allmählich vorangehenden Paradigmenwechsel italienischer Wissenschaftspolitik von einer gewissen „Deutschlandhörigkeit“ der piemontesischen Destra Storica seit den 1850er-Jahren zu einer explizit betonten italienischen Eigenständigkeit im Vorfeld des Ersten Weltkrieges nach. Entwicklungen in den Natur- und Technikwissenschaften bleiben weitgehend unberücksichtigt. Marin vertritt die These, dass die – durchaus mit Mythen und Fehleinschätzungen besetzte – „Modellhaftigkeit“ deutscher Wissenschaft qua Rezeption und Transfer zur Konstruktion und Identitätsfindung einer „nationalen Wissenschaft“ wesentlich beigetragen habe. Das „Modell Deutschland“ sei eine regulative Chiffre gewesen für die Diskussion verschiedener Teilaspekte wie Ausbildungszweck (Ausbildung für Brotberuf vs. Reine Wissenschaft), Sozialform (vor allem Seminar), Hochschulorganisation (Autonomie, Status von Privatdozenten, Lehr- und Lernfreiheit). Sie habe sich vor allem in der Vergabe von Auslandsstipendien an italienische Nachwuchswissenschaftler durch das Bildungsministerium widergespiegelt: 75% der Stipendiaten gingen nach Deutschland, vor allem nach Berlin und Heidelberg. Die Dynamik dieser Entwicklung periodisiert Marin grob in drei Phasen: 1. 1861 – Ende 1880er-Jahre: Bedeutungsgewinn des deutschen Modells; 2. ca. 1885 – ca. 1910: Allmähliche Distanzierung vor dem Hintergrund wachsenden Nationalismus‘; 3. ca. 1912: Existenz eines eigenen Italianitäts-Bewusstseins in den betreffenden Disziplinen und Fortexistenz eines festen Kerns von an Deutschland orientierten Wissenschaftlern.

Methodisch verknüpft Marin Institutionen- und Wissenschaftsgeschichte mit den Kategorien der Transferforschung. Die auch heute im alltäglichen Wissenschafts- und Studienbetrieb fassbare Differenz findet in Marins Arbeit eine Erklärung mit wissenschaftshistorischer, vor allem institutionsgeschichtlicher Tiefendimension.

Im Einzelnen gliedert sich die weitgehend chronologische Narration folgendermaßen: In Teil I zeichnet Marin die Universitätsfrage in Italien und die Entstehung des Deutschland-Mythos in den hochschulpolitischen und akademischen Kreisen des neuen Nationalstaats nach und akzentuiert besonders die Rolle des Literaturwissenschaftlers Francesco De Sanctis als ersten italienischen Bildungsministers. Er charakterisiert die Reformbemühungen als „unvollendete Zentralisierung“ und würdigt die Stipendiaten der 1860er-Jahre als frühe Verstärker der positiven Perzeption deutscher Wissenschaften, insbesondere in der süditalienischen Savigny- und Hegel-Rezeption. In dieser Deutschland-Orientierung habe man auch den engen Zusammenhang zwischen der Oberstufe der Sekundarschulen, dem deutschen „Gymnasium“, und der höheren Wissenschaftsorientierung deutscher Studenten erkannt – allerdings schließlich ohne strukturelle Veränderungen in Anlehnung an das deutsche Modell vorzubereiten.

In Teil II qualifiziert Marin die Diskussion um das deutsche Modell als gescheiterte Übernahme. Dazu zeichnet er anhand verschiedener Aspekte wie akademische Freiheit, Status von Privatdozenten oder Berufungsverfahren die Diskussionen nach und beobachtet einen phasenweise zurückgehenden Enthusiasmus gegenüber dem deutschen Modell in hochschulpolitischen Konzeptionen und im gesellschaftlichen Raum generell. Er interpretiert dies als Verselbstständigung italienischer Wissenschaft und typisiert die Rolle deutscher Wissenschaft als Folie – deren Attraktivität umgekehrt proportional sei zu ihrem einstigen Siegeszug. De facto habe es in der Hochschul- und Studienorganisation nur einzelne Adaptionen deutscher Elemente unterhalb der strukturpolitischen Ebene gegeben.

In Teil III beschreibt und bilanziert Marin zunächst die Effekte der für 1861-1894 auf 254 bezifferbaren Stipendien, um hinsichtlich der – stark überrepräsentierten – Altertumswissenschaft den zirkulären Effekt innerhalb des Inschriften-Großprojektes Theodor Mommsens herauszuschälen und die bis in die 1930er-Jahre hineinreichende Sonderrolle des Altphilologen Giorgio Pasquali darzustellen. Auch die in den Stipendiatenberichten wiederkehrenden lebenspraktischen Probleme – vor allem Außenseitertum wegen mangelnder Sprachkenntnisse und finanzielle Schwierigkeiten beim Zugang zu professoralem Gesellschaftsleben in Deutschland sowie formalistische Dysfunktionalität der Behörden in Italien – werden anschaulich. Angesichts solcher Defizite schätzt Marin die Erfolgsbilanz der Stipendienpolitik als respektabel ein. Mit den Termini der Transferforschung wagt Marin, gestützt auf ein hohes Maß an inhaltlicher Homogenität der Stipendiatenberichte, eine Typisierung, die ihrerseits eine selektive Deutschland-Rezeption aufgrund einer italienischen Perzeption eigener Mängel und eines fehlenden Verständnisses deutscher Strukturen zeigten. Im Ergebnis stellt Marin eine starke Asymmetrie in Realität und Perzeption des Wissenschaftstransfers fest und exemplifiziert dieses an Mommsens Inschriftenprojekt (Corpus Inscriptionum Latinarum; CIL), am Transfer des deutschen Kathedersozialismus durch Vito Cusumano und den Sonderfall des mehrfachen Transfers in der Person Pasqualis. Der Teil schließt mit den vor allem am Althistoriker und Mommsen-Schüler Ettore Pais und am Altphilologen Ettore Romagnoli fassbaren Antigermanismus vor und während des Ersten Weltkrieges und schließlich mit der Integration einzelner deutscher Elemente in der explizit faschistischen und elitistischen Bildungsreform Gentiles von 1923.

Ein Appendix mit einer Auflistung von Namen und Karrieren der Stipendiaten 1861-1915 und graphischen Aufschlüsselungen, Bibliographie und Personenindex beschließt den Band.

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