Titel
Grenzenlos normal?. Aushandlungen von Gender aus handlungspraktischer und biografischer Perspektive


Autor(en)
Bronner, Kerstin
Reihe
Gender Studies
Anzahl Seiten
270 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Markus Tauschek, Seminar für Europäische Ethnologie/Volkskunde, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Dass die Jungfrau im Kölner Dreigestirn in den Jahren 1938 und 1939 durch eine Frau, und nicht wie davor (und wieder ab 1949) üblich durch einen Mann, verkörpert wurde, war nationalsozialistischer Ideologie geschuldet, in die das karnevaleske Spiel mit dem Geschlecht so gar nicht passte. Diese ideologische Durchdringung populärer Kultur verweist einerseits auf die Reichweite nationalsozialistischer Brauchnutzung und -deutung, sie gibt andererseits aber auch Auskunft über die Herstellung und das Verständnis von Geschlechterrollen im Bereich populärer Kultur. Die Besetzung der Kölner Jungfrau durch eine „echte“ Frau zeigt, dass die ideologisch begründete Angst vor einem Männerbild, das dem nationalsozialistischen Ideal in dieser Perspektive diametral gegenüber stand, selbst das ansonsten so wirkmächtige Argument der Tradition aushebeln konnte.

Keine andere Tradition spielt auf den ersten Blick so sehr mit Geschlechterrollen und -attribuierungen wie die so genannte fünfte Jahreszeit, in der für einen begrenzten Zeitraum alles möglich scheint. Die Umkehrung von Rollenbildern ist dabei nur eines von vielen Merkmalen eines Brauches, der mit Victor Turner Antistruktur und damit Inversionen produziert. Welche Mechanismen und Logiken sind es dabei aber konkret, die Geschlecht und Differenz performativ erzeugen? Wie manifestieren sich diese in lebensgeschichtlichen Dimensionen und in welcher Relation stehen sie zu anderen sozialen Ungleichheitskategorien? Dies sind Fragen, die die Sozialwissenschaftlerin Kerstin Bronner in ihrer Tübinger Dissertation in synchroner Perspektive zu beantworten sucht.

Der theoretische Teil der Arbeit, den Bronner ihren empirischen Ergebnissen voranstellt, nähert sich gendertheoretischen Konzepten aus verschiedenen Perspektiven. Dabei diskutiert die Autorin durchaus kontrovers die verschiedenen Implikationen des seit einigen Jahren in der Genderforschung verhandelten Konzepts der Intersektionalität für die eigene empirische Forschung, deren Design für weitere Differenzkategorien offen sein solle. Kerstin Bronner stellt zentrale Perspektiven – überwiegend der angloamerikanischen – Genderforschung vor und leitet daraus ein Verständnis in der Herstellung von Gender und den Wirkungsweisen von Heteronormativität ab, das sie produktiv mit dem Konzept der „Biografiearbeit“ verbindet. Dass diese Konzeption den Blick auf Prozesse des „doing gender“ schärft – nicht etwa das von Bronner verworfene Konzept der Identität –, begründet die Autorin mit der Betonung der Prozesshaftigkeit der Herstellung heteronormativer Logiken in sozialen Beziehungsgeflechten, womit die komplexen Dimensionen „von beweglichen und in sich vielfältigen Subjekten verdeutlicht werden, die in ihrer biografischen Arbeit gesellschaftliche Strukturen verhandeln, (re-)produzieren und verändern, und sie sich in einem fortlaufenden Entwicklungsprozess befinden“ (S. 39).

Erst nach den theoretischen Abwägungen – dies wäre eine kleine formale Kritik – stellt Kerstin Bronner den empirischen Rahmen ihrer Arbeit vor, die bei der Fastnacht aktive Närrinnen und Narren einer baden-württembergischen Kleinstadt in den sozialwissenschaftlichen Blick nimmt. Für diejenigen Leser/innen, die wenig Kenntnisse der Fastnacht im deutschen Südwesten haben, dürfte hier der Zugang allenfalls zu voraussetzungsreich sein; ein erläuterndes Kapitel zu Brauchformen, Brauchträgern und Organisationsstrukturen wäre deshalb an früherer Stelle hilfreich gewesen. Überzeugend formuliert Bronner jedoch auch hier einen analytischen Rahmen, der die Produktion von Geschlechterrollen und heteronormativen Zuschreibungen performativer Kultur im Kontext einer ländlichen Region mit ihren spezifischen Auswirkungen auf soziale Strukturen und Prozesse durchwirkt. Dass die von Bronner untersuchten Akteur/innen in Vereinen organisiert Fastnacht feiern, bedeutet schließlich auch, die Produktion sozialer Differenzierungen vor dem Hintergrund eines spezifischen Vereinslebens zu situieren.

Die empirische Stärke der Arbeit offenbart sich in den drei paradigmatischen Fallbeispielen, in deren Analyse Bronner ihre Auswertung narrativer Interviews, teilnehmender Beobachtung und einer detaillierten Reflexion ihrer eigenen Rolle produktiv miteinander verbindet. Dass dieser sowohl in der Erhebung der Daten als auch in der Auswertung gerade bei einer Untersuchung von Gender-Differenzierungen eine besondere Rolle zukommt, diskutiert Bronner ebenso plausibel wie den methodischen Kniff der genderindifferenten Verfremdung, der den Blick auf Gender-Konzepte und -Strukturen erst freimache. Die von Bronner ausgewählten Fallbeispiele – insgesamt hat Bronner mit sechs Akteur/innen Interviews geführt, drei davon diskutiert sie in ihrer Arbeit vertieft – zeigen in paradigmatischer Weise, wie die Befragten im Rahmen ihres fastnächtlichen Tuns heteronormative Strukturen reproduzieren und diese deuten. Dabei kann die Autorin zeigen, dass neben genderspezifischen Differenzkonstruktionen auch andere Dimensionen wie Alter, die Zusammensetzung einer Gruppe, biographische Erfahrungen usw. die Deutung von Geschlechterrollen und -zugehörigkeiten beeinflussen, was Bronner als Plädoyer für intersektionale Zugänge versteht. Zwar ließen sich die beobachteten Grenzüberschreitungen als (Rollen-)Experimente deuten, die kurzfristig normative Muster hinterfragen, doch wirken diese langfristig vielmehr stabilisierend.

Kerstin Bronners Arbeit besticht durch ihr transdisziplinär offenes Konzept, das sowohl methodisch als auch theoretisch breite Bezüge zwischen einer eher sozialwissenschaftlichen und einer kulturanthropologisch-ethnographischen Genderforschung herstellt, die zudem mit pädagogischen Fragen verknüpft werden. Deshalb offeriert Bronner auch für eine kulturwissenschaftlich orientierte Ritualforschung relevante Erkenntnisse über (Anti-)Strukturen und die Macht sozialer Zuschreibungen im Rahmen populärer Kultur. Dass Bronners Dissertation im besten Sinne eine politisch-engagierte Arbeit ist, zeigt sich an einer konsequenten, Genderdifferenzen auflösenden Schreibweise, die jedoch bisweilen die Lektüre erschwert.

Kerstin Bronners Involviertheit in das von ihr untersuchte Feld bietet neben analytischen und methodischen Fallstricken, die die Autorin problematisiert, eine beeindruckende Offenheit der interviewten und beobachteten Akteur/innen. An der empathischen Auswertung, die unter Umständen Zwänge und Hierarchien in der (Re-)Produktion von Geschlechterlogiken zu wenig sichtbar zu machen vermag, ließen sich allenfalls leise Zweifel formulieren. Es mag dem komplexen Thema geschuldet sein, dass manche Ergebnisse abstrakt und – bis zu einem gewissen Grad – auch vorhersagbar sind. Die Zitatpassagen, Beobachtungen und Selbstreflexionen führen jedoch in kluger Weise vor, welche Potentiale eine mikroperspektivisch angelegte Genderforschung entfalten kann.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension