H. G. Hockerts: Der deutsche Sozialstaat

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Titel
Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945


Autor(en)
Hockerts, Hans Günter
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 199
Erschienen
Göttingen 2011: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Kramper, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Hans Günter Hockerts zählt seit über dreißig Jahren zu den profiliertesten Analytikern des deutschen Sozialstaates. Den Dreh- und Angelpunkt seiner Forschungen bildet die Überlegung, dass dem Prinzip der Sozialstaatlichkeit eine herausgehobene Rolle für die Durchsetzung der liberalen Demokratie gegenüber dem Faschismus und dem Kommunismus zuzubilligen ist. Nur durch seine Entfaltung habe sich, so Hockerts, die Grundspannung zwischen der auf Gleichheit basierenden demokratischen Ordnung und der permanent Ungleichheit produzierenden Marktwirtschaft austarieren und somit ein grundlegendes Defizit des liberalen Modells kompensieren lassen.

Dank dieser breiten, genuin historischen Perspektive haben Hockerts’ Schriften auch der allgemeinen Geschichtsschreibung – insbesondere der Erforschung des Nationalsozialismus, der BRD und der DDR – wichtige Impulse gegeben. Der vorliegende Sammelband bietet dafür eine Fülle an eindrucksvollen Belegen. Er führt 14 zwischen 1980 und 2010 erschienene Aufsätze des Autors zusammen und präsentiert sie in vier thematisch gegliederten Abschnitten, so dass sich aus ihnen eine umfassende Darstellung der „Entfaltung und Gefährdung“ des deutschen Sozialstaates seit 1945 ergibt.

Den Anfang machen vier Beiträge zur „sozialstaatliche[n] Gründung“ (S. 21) der westdeutschen Demokratie, die sich mit der sozialen Krise der frühen Bundesrepublik, mit der Rolle des Beveridge-Planes als Vorbild für die Sozialpolitik, mit der Rentenreform von 1957 sowie – thematisch etwas außer der Reihe – mit der Wiedergutmachungsdebatte befassen. In diesen zumeist älteren Aufsätzen, die zum Teil durch ein Nachwort auf den aktuellen Stand gebracht werden, zeigt sich exemplarisch, wie stark Hockerts’ Analysen die zeithistorische Debatte der letzten drei Jahrzehnte beeinflusst haben. Das gilt zum Beispiel für den von ihm mitgeprägten und heute in fast jeder Überblicksdarstellung anzutreffenden Begriff der „Gründungskrise“ (S. 23), aber auch für seine Denkanstöße zur Erforschung der Wiedergutmachung, die eine Fülle an einschlägigen Detailstudien nach sich gezogen haben.

Der zweite Abschnitt besteht aus drei Kapiteln, die die „Entfaltung des westdeutschen Sozialstaates“ (S. 137) in der Reformära der Jahre 1966 bis 1974 in den Blick nehmen. Die in diesem Zeitraum angesiedelte Expansions- und Blütephase des Sozialstaats positioniert Hockerts zunächst im größeren Rahmen, indem er zentrale Zäsuren der sozialstaatlichen Entwicklung zwischen 1950 und 1990 untersucht. Sodann analysiert er in einer detaillierten Fallstudie zur Rentenreform von 1972 ihr konkretes Zustandekommen. Schließlich fasst er in einem souveränen Überblick ihre wesentlichen Merkmale sowie die Anfänge ihrer 1973/74 einsetzenden Krise zusammen. Noch deutlicher als in den anderen Abschnitten wird dabei die überragende allgemeinhistorische Relevanz der Sozialpolitik ersichtlich. Besonders aus dem exzellenten Aufsatz über die Rentenreform hat der Rezensent schon beim ersten Lesen vor etwa zehn Jahren mehr über die generelle Stimmungslage der frühen 1970er-Jahre gelernt als aus den meisten anderen Publikationen, und dieser Eindruck hat sich auch nach der erneuten Lektüre nicht verändert.

Im dritten Abschnitt präsentiert Hockerts vier Beiträge, die sich mit der DDR als „gescheiterte[r] Alternative“ (S. 203) der Sozialstaatsbildung befassen. Den Einstieg bildet ein Text, der ursprünglich als Einleitung zum vielbeachteten Band über „Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit“1 – einem Vergleich zwischen NS-Regime, BRD und DDR – gedient hat. Für sich genommen sehr anregend, hängt er allerdings ohne die konkrete Fundierung aus den Einzelbeiträgen des Ursprungswerks ein wenig in der Luft. Besser in das Gesamtkonzept passt der anschließende Überblick über die Grundlinien der Sozialpolitik in der DDR, der vor allem deren Instrumente – die Sozialversicherung, das Gesundheitswesen, die Altersversorgung sowie die Frauen- und Familienpolitik – in den Blick nimmt. Der folgende Beitrag ergänzt diese Ausführungen um eine Analyse der Funktion dieser Instrumente. Er setzt in überzeugender Weise zunächst am Begriff der Sozialpolitik selbst und dann an ihrer Bedeutung als Legitimationsquelle des SED-Regimes an. Der vierte Aufsatz vertieft diese Untersuchung noch, indem er die Entwicklung in der DDR explizit mit dem westdeutschen Fall kontrastiert.

Der letzte Teil des Buches schließlich ist der „Gefährdung des Sozialstaates nach dem Boom“ (S. 283) gewidmet. Hier steht zunächst eine allgemeine Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Sozialstaatlichkeit und dem in den letzten Jahren verstärkt diskutierten Problem der sozialen Ungleichheit im Vordergrund. Sodann widmet sich Hockerts der Debatte über den Umbau der Alterssicherung in den 2000er-Jahren, die er etwas zugespitzt, aber nicht ganz unzutreffend als Produkt unternehmerischer Strategien der Finanzmarktindustrie interpretiert. Der abschließende Beitrag, ein Überblick über zentrale Entwicklungstendenzen im 20. Jahrhundert, nimmt diesbezüglich allerdings einige Nuancierungen vor, indem er die strukturellen Rahmenbedingungen, vor deren Hintergrund dieser Umbau stattfand, deutlicher herausarbeitet. Insgesamt betont der Aufsatz noch einmal – diesmal allerdings unter Berücksichtigung der internationalen Entwicklung und deshalb mit leicht modifizierter Chronologie – die schlüssige, den gesamten Band durchziehende Differenzierung zwischen der Grundlegung des Sozialstaates in den 1930er- und 1940er-Jahren, seinem rasanten Ausbau zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren sowie seinem seither zu beobachtenden Umbau.

Zusammengehalten wird die Argumentation aber nicht nur von diesem Generalüberblick, sondern auch von der Einleitung, in der Hockerts die eingangs beschriebene grundsätzliche Bedeutung des Sozialstaats hervorhebt und zudem zur Frage nach dessen zukünftiger Entwicklung Stellung bezieht. Bemerkenswert ist dabei vor allem die starke Betonung des Zäsurcharakters der späten 1990er- und frühen 2000er-Jahre. Die Neuausrichtung des Sozialstaates in diesem Zeitraum sei, so Hockerts, durch die tendenzielle Rückwendung zur Basisabsicherung, durch die Stärkung privater Vorsorge und durch den Fokus auf die Förderung der Erwerbsarbeit sehr grundsätzlich ausgefallen. Gleichzeitig habe sie in der Umsetzung aber allzu radikale Lösungen vermieden und sei trotz aller Proteste von einem breiten Konsens der politischen Mitte getragen gewesen, der durch die Finanzkrise noch an Stärke gewonnen habe (S. 17ff.). Die Zukunftsfähigkeit des Sozialstaats beurteilt Hockerts durchaus kritisch, aber keineswegs pessimistisch. Seine nüchterne Analyse hebt sich dabei in so wohltuender Weise von der öffentlichen Diskussion des Themas ab, dass man unweigerlich von den ausgewogenen und breit abgesicherten Befunden beeindruckt ist.

Das gilt im Übrigen nicht nur für die Bewertung der Zukunftsaussichten, sondern im Kern für alle Beiträge des Bandes. Wenn dieser überhaupt Schwächen aufweist, dann sind das demzufolge keine inhaltlichen, sondern nur solche, die sich in einer Anthologie dieser Art nie völlig vermeiden lassen. Dazu zählen einige Wiederholungen und Überschneidungen, besonders im Teil über die DDR. Zudem fallen die Texte naturgemäß recht heterogen aus. Neben stets sehr pointierten, handbuchartigen Überblicken stehen Aufsätze, die eher einzelne Forschungsprobleme vertiefen. Eine in einem Zug durchzulesende Gesamtdarstellung ist das Buch daher nicht, zumindest nicht in erster Linie. Aber dem wissenschaftlich interessierten Leser bietet es dennoch eine imponierende, überaus anregende und auch forschungsgeschichtlich höchst interessante Synthese zu einem Themenfeld, dessen zentrale zeithistorische Bedeutung nicht zuletzt aufgrund der hier versammelten Beiträge breite Anerkennung gefunden hat.

Anmerkung:
1 Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998.

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