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Titel
Der Überläufer. Rudolf Diels (1900-1957) - der erste Gestapo-Chef des Hitler-Regimes


Autor(en)
Wallbaum, Klaus
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
375 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kurt Schilde, Siegen/Potsdam

Rudolf Diels ist eine widersprüchliche und polarisierende Figur der deutschen Zeitgeschichte. In der Weimarer Republik wandte er sich nach einer Karriere als Liberaler in der Deutschen Demokratischen Partei zu Beginn der 1930er-Jahre der NSDAP zu. Als er zu Beginn der NS-Diktatur die Leitung der Geheimen Staatspolizei übernahm, wurde er ein "misstrauisch beäugter Überläufer" (S. 350) und befand sich im Visier von Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich und Rudolf Hess. Um sich abzusichern, war er sehr bemüht, dem ihn fördernden Hermann Göring und vor allem gegenüber Adolf Hitler und Joseph Goebbels – zu denen er enge Bindungen gehabt haben soll – Loyalität zu demonstrieren. Zur gleichen Zeit soll er "Sympathisant der Nazis" gewesen sein und „beste Kontakte zu den Kommunisten“ (S. 18) gehabt haben. Nicht unbedeutend waren wohl auch seine verwandtschaftlichen Verbindungen: Bei der ersten Ehefrau handelte es sich um eine Tochter des Industriellen Alfred Mannesmann, durch die er Kontakte zur Wirtschaft bekam. Die zweite Ehe mit der Witwe eines Bruders von Hermann Göring soll ihm "einen Schutz gegen die ständigen Verdächtigungen und Verfolgungen" (S. 29) durch seine mächtigen NS-Gegner verschafft haben. So hat es jedenfalls seine Frau Ilse Diels später im Spruchgerichtsverfahren ausgeführt.

Die Quellenlage zur Lebensgeschichte dieser undurchsichtigen politischen Figur ist entsprechend widersprüchlich: Viele Informationen stammen von Diels selbst, vor allem aus seinen "Erinnerungen", die er 1949 mit dem beziehungsreichen Titel "Lucifer ante portas" veröffentlicht hat: Die Züricher Ausgabe trug den Untertitel "Zwischen Severing und Heydrich". Im Jahr darauf kam eine etwas veränderte deutsche Ausgabe mit dem Untertitel: "… es spricht der erste Chef der Gestapo …" auf den Buchmarkt. Für das vorliegende Buch konnten eine fragmentarische Nachlassüberlieferung, bisher nicht eingesehene Personalunterlagen und in einigen Archiven aufgefundene Dokumente ausgewertet werden. Entsprechend dem lebenslang polarisierenden Agieren von Diels ist die Überlieferung differenziert zu beurteilen. Viele Texte verfasste er selbst als Rechtfertigungen oder sie wurden von anderen als "Persilscheine" im Rahmen seiner Entnazifizierung geschrieben. Auf der anderen Seite gibt es eine Fülle von gegnerischen Äußerungen. Angesichts dieser komplizierten Ausgangslage ist es ein mutiges Unternehmen des Sozialwissenschaftlers und Journalisten Klaus Wallbaum gewesen, seine 2009 in Hannover verteidigte Dissertation über diese "schillernde Persönlichkeit" – so die Verlagswerbung – zu schreiben. Da die Lebenssituation des 1900 geborenen Diels "große Ähnlichkeiten" (S. 15) mit der überwiegend um 1900 geborenen Elite des Reichssicherheitshauptamtes und auch mit der "grauen Eminenz der Gestapo", Werner Best, aufweist, hat sich Wallbaum eingangs an Untersuchungen von Michael Wildt und Ulrich Herbert orientiert, auch wenn "wichtige Unterschiede" (ebd.) konstatiert werden.1

Der Autor nähert sich seinem Thema sehr detailliert in 14 Kapiteln: Zunächst informiert er über die „demokratischen“ Wurzeln von Diels. Der 1900 in Berghausen bei Wiesbaden in eine Bauernfamilie hinein Geborene wuchs in einer gutbürgerlichen Familie auf. Nach dem Abitur auf einem humanistischen Gymnasium will er einige Wochen Soldat gewesen sein. Er begann 1919 ein Medizinstudium und sattelte später auf Rechtswissenschaft um. Schon damals entwickelte er die Gabe, seine Umgebung entweder negativ oder positiv zu beeindrucken. Der Deutschen Demokratischen Partei zugerechnet, zeigte er als Liberaler bei seinen unterschiedlichen Stationen in Regierungspräsidien und Landratsämtern die Eigenheit, immer wieder in Schwierigkeiten zu geraten. 1931 wechselte er zur politischen Polizei, die dem vom Sozialdemokraten Carl Severing geleiteten preußischen Innenministerium zugeordnet war. Dort war er für die Beobachtung der KPD und der NSDAP zuständig und zeigte "mehr politisches Geschick als bürokratische Kompetenz" (S. 54). 1933 gelangte er an die Spitze des Geheimen Staatspolizeiamts, von wo aus der frühe Terror gegen die Feinde der NSDAP organisiert wird. Diels zeigte als "Vollstrecker der Diktatur" (S. 105) keine Skrupel, solange die Ausschreitungen in den vom NS-Staat geschaffenen Rechtsnormen stattfanden.

Nach Zerwürfnissen mit der NS-Führung wurde er im Herbst 1933 als Gestapo-Chef abgesetzt, später wieder eingesetzt und 1934 endgültig abgeschoben. Es erfolgte eine "Beförderung zum Regierungspräsidenten" (S. 149), wie es Göring in einem im Nachlass erhaltenen Referenzschreiben formulierte. Diels blieb bis 1936 als Regierungspräsident in Köln und anschließend in gleicher Position in Hannover, wo es jedoch erneut zu Auseinandersetzungen kam. Sie führten 1942 zu einem Wechsel in die „Reichswerke Hermann Göring“, wo er bis 1944 in der Binnenschiffahrtsverwaltung eingesetzt wurde.

Über seine Zeit bis zum Ende des Krieges und des NS-Staats gibt es nur wenig verlässliche Informationen und zudem unterschiedliche Versionen: Angeblich sei er von der Gestapo verhaftet worden, in einer SS-Strafkompanie gewesen und/oder habe sich auf seinem Bauernhof in Twenge bei Hannover aufgehalten. In der Besatzungszeit war er ein gefragter Zeuge in den Nürnberger Prozessen – "gleichzeitig Be- und Entlastungszeuge" (S. 265). Während und nach seiner langwierigen Entnazifizierung nutzte er "jede Gelegenheit, mit seinen Positionen und Einschätzungen Aufsehen zu erregen" (S. 34). Dazu gehören nicht sicher belegte Aussagen, er habe sich am Widerstand beteiligt oder sich für Juden und Kriegsgefangene eingesetzt.

Angesichts seiner fortgesetzten "Streitlust" (S. 35) und seinem wiederholten provozierenden Auftreten konnte es ihm nicht gelingen, in eine Spitzenposition – etwa in die Leitung eines bundesdeutschen Geheimdienstes – zu gelangen. Mit dem Herausgeber des "Spiegel", Rudolf Augstein, arbeitete er jedoch eng zusammen. Sein Lucifer-Buch erschien in der Zeitschrift als Vorabdruck, und 1949 fügte er die reißerische Serie "Die Nacht der langen Messer … fand nicht statt" hinzu. Damit konnte er offenbar von einer Schwäche Augsteins profitieren, der sich zeitlebens für Männer interessierte, die "Geschichte gemacht" hatten. Da der schillernden Figur Diels’ eine Karriere versagt blieb, zog er sich zunehmend auf seinen Bauernhof zurück und beschränkte sich auf das Verfassen von Pamphleten, die in obskuren rechtslastigen Verlagen erschienen oder heute in seinem Nachlass im Niedersächsischen Landesarchiv aufzufinden sind. Wie sein ganzes Leben über schien eine Idee der anderen zu folgen, von denen aber nur wenige realisiert werden konnten. 1957 verstarb Rudolf Diels an den Folgen eines Jagdunfalls.

Es ist Wallbaum nicht gelungen und konnte ihm nicht gelingen, alle von Diels und seinen Zeitgenossen produzierten Geschichten über das politische Leben des "Überläufers" auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Diels scheint es geschafft zu haben, immer wieder eine schützende Hand zu finden. Vor 1945 war dies etwa die von Hermann Göring, danach etwa die seines Ex-Kollegen aus dem früheren preußischen Innenministerium, Robert M.W. Kempner. Wallbaum ist eine durchaus interessante Arbeit über eine widersprüchliche Figur der Zeitgeschichte gelungen, wenngleich sie etwas zu stark auf die Tätigkeit als Chef der Gestapo fokussiert ist. Seine Darstellung vom "Schicksal eines Überläufers" (S. 351) bleibt freilich abhängig von der spezifisch widersprüchlichen Quellensituation, daher ist die Figur schwer einzuordnen. Eine Konstante im Leben seines Protagonisten will Wallbaum immerhin gefunden haben: die "Orientierung auf einen starken, handlungsfähigen Staat" (S. 353). Darüber ließe sich wahrlich diskutieren.

Anmerkung:
1 Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002; Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft. 1903-1989, Bonn 1996.

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