C. Vollnhals; J. Weber (Hgg.): Der Schein der Normalität

Cover
Titel
Der Schein der Normalität. Alltag und Herrschaft in der SED-Diktatur


Herausgeber
Vollnhals, Clemens; Weber, Jürgen
Erschienen
München 2002: OLZOG Verlag
Anzahl Seiten
455 S.
Preis
€ 19,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arnd Bauerkämper, Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas, Freie Universtität zu Berlin

Das Verhältnis von Herrschaft und Alltag in der SED-Diktatur ist seit dem Umbruch von 1989/90 intensiv und kontrovers diskutiert worden, nicht nur in der Geschichtswissenschaft, sondern auch in der politischen Öffentlichkeit. Die Deutung dieses Verhältnisses betrifft schließlich nicht nur die wissenschaftliche Forschung, sondern ist eng mit biographischen Erfahrungen und Prozessen der Identitätsbildung verbunden. In der Historiographie erstreckt sich das Spektrum der Urteile von totalitarismustheoretisch inspirierten Interpretationen bis zu Deutungen, die auf das Alltagsleben in der DDR fixiert sind und die politische Herrschaft weitestgehend ausblenden. Studien, die letztlich einem totalitarismustheoretischen Ansatz verpflichtet sind, gehen davon aus, daß die Gesellschaft in der DDR sozialstrukturell weitgehend homogenisiert und auch hinsichtlich der Herausbildung einer parteiunabhängigen Handlungsdynamik im wesentlichen "gleichsam stillgestellt" war. 1 In dieser Sicht wurden sogar Nischen und Freiräume "von der SED geschaffen, um zumindest eine passive Zufriedenheit zu erzeugen". 2 Demgegenüber ist (z.T. in apologetischer Absicht) hervorgehoben worden, daß sich in der DDR eine wachsende "Kluft zwischen der alltäglichen Realität und der Propaganda"3 herausbildete, die letztlich zum Zerfall der staatssozialistischen Diktatur geführt habe. Gesellschaft als Konstruktion der SED-Machthaber oder als autonomer Raum der Selbstorganisation – zwischen diesen polaren Deutungen sind zahlreiche Interpretationen des Verhältnisses von Herrschaft und Alltagsleben angesiedelt. Jedoch ist die "Vermittlung zwischen dem Politischen und dem Sozialen" 4 konzeptionell bislang nicht überzeugend gefaßt worden.

Mit dem von ihnen herausgegebenen Band beanspruchen Clemens Vollnhals und Jürgen Weber nicht, diese Aufgabe zu bewältigen. In den Beiträgen werden aber Befunde empirischer Forschung präsentiert, die das Verhältnis von Herrschaft und Gesellschaft beleuchten. Die Herausgeber gehen von einer modifizierten Totalitarismustheorie aus, welche den Nexus von Integration und Repression in Weltanschauungsdiktaturen akzentuiert und eine totale Kontrolle durch ein Führungszentrum unterstellt, das über das Herrschaftsmonopol verfügt. Obgleich sie erwähnen, daß die SED-Machthaber ihren Herrschaftsanspruch nie zurücknahmen und die staatssozialistische Diktatur durchweg unter dem Gewaltvorbehalt der Führung stand, wird letztlich nicht deutlich, ob Vollnhals und Weber die "Verfügungsgewalt über die Gesamtheit der Lebenschancen des Einzelnen" (S. 14) als Anspruch der Spitzenfunktionäre fassen oder als zutreffende Kennzeichnung des Verhältnisses von Herrschaft und Gesellschaft betrachten. Die Verfasser wechseln zwischen diesen beiden Interpretationen , so daß der Stellenwert der Aufsätze zu einzelnen Forschungsfeldern in dem Band nicht reflektiert wird. Sollen die Beiträge zeigen, inwieweit und wie die Machthaber in der DDR ihren Herrschaftsanspruch durchsetzten, oder sollen sie lediglich belegen, daß die SED-Diktatur "sowohl ihrem ideologischen Herrschaftsanspruch nach als auch in der machttechnisch perfektionierten Gleichschaltung von Staat und Gesellschaft totalitär verfasst" (S. 16) war? Ist der Alltag ein ernstzunehmender Gegenstand der Forschung zur Geschichte des zweiten deutschen Diktatur oder lediglich Reflex der Herrschaft?

In den einzelnen Studien, deren Befunde hier nicht ausnahmslos und detailliert dargelegt werden können, wird die Wirkungsmacht der Politik gesellschaftlicher Konstruktion deutlich. Aber auch die Grenzen und nicht beabsichtigten und unerwarteten Folgen, welche die Ziele der Machthaber z.T. konterkarierten, treten hervor. Von der Sozial-, Konsum- und Jugendpolitik bis zur exzessiven Förderung des Spitzensports – die Eingriffe der Machthaber in die gesellschaftlichen Strukturen und sozialen Beziehungen prägten das Alltagsleben so weitgehend, daß ein Arrangement unausweichlich war. Zugleich mußten die Staats- und Parteifunktionäre Erwartungen und Interessen aufnehmen, die das Regime letztlich nicht befriedigen konnte. Auch wegen der Diskrepanz zwischen der Egalitätsdoktrin und der realen Ungleichheit des Zugangs zu Leistungen geriet das SED-Regime in eine selbstgeschaffene Legitimitätsfalle, wie Peter Skyba anhand der Sozialpolitik und Annette Kaminsky in ihrem Überblick über die Konsumpolitik und die Entwicklung des Versandhandels in der DDR von 1954/56 bis 1976 5 zeigen. Im Anschluß an seine früheren Untersuchungen 6 resümiert auch Stefan Wolle, daß den Machthabern die Herausbildung der "sozialistischen Persönlichkeit" der DDR mißlang. Der pädagogische Anspruch der Erziehungsdiktatur blieb letztlich unerfüllt, wenngleich nicht wirkungslos, wie die Hochschätzung des Postulates der Gleichheit im Rückblick nach dem Ende der DDR zeigt. Wolle weist jedoch nostalgische Erinnerung an die vorgeblich egalitäre Gesellschaft zurück, indem er argumentiert, daß die Egalität ein Unterschichtenbewußtsein widerspiegelte, das ebenso wie die Herausbildung von Netzwerken ausschließlich als eine "Abwehrreaktion" (S. 37) auf die Herrschaftsansprüche der SED-Spitzenfunktionäre interpretiert werden müsse.

Die Demaskierung der Fortschritts-, Egalitäts- und Emanzipationsdoktrin des SED-Regimes und der materielle Mangel entzogen ihrer Herrschaft zusehends die – ohnehin schwache – soziale Grundlage. Gesellschaftliche Normen wurden unterhöhlt, und Zynismus breitete sich aus. Die Reaktionen der Subjekte reichten von der Hausbildung kleiner Netzwerke, deren ambivalente Wirkung im Hinblick auf die politische Herrschaft Wolle hervorhebt (S. 27f.), bis zum subversiven Witz in der Literatur, den Joachim Walther in seinem Aufsatz über die Zensur am Beispiel des Romans "Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene" (1978) illustriert (S. 302-304). Die Literatur war jedoch ebenso der Zensur durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) unterworfen wie die von Ines Geipel untersuchte Sportmedizin, die mit dem Zugriff auf die Körper vor allem von Frauen "planmäßig" Modellathletinnen produzieren sollte, und die Laienkunst, die Baldur Haase behandelt. Die betroffenen Schauspieler, Kabarettisten, Chöre, Bühnentanz- und Folkloregruppen versuchten, sich der engmaschigen Überwachung durch das MfS zu entziehen. Nur gelegentlich protestierte die Bevölkerung gegen die Unterdrückung der Kultur. So verfaßten Jugendliche im Oktober 1979 spontan eine Resolution gegen das Auftrittsverbot, das Kulturfunktionäre gegen einen beliebten Schallplattenunterhalter bei Gera verhängt hatten. Clemens Vollnhals zeichnet auch den Einsatz von "Inoffiziellen Mitarbeitern" und Offizieren zur Überwachung, Denunziation und Strafverfolgung nach. 7 Mit der Jugend lenkt Thomas Auerbach den Blick auf eine Gruppe, der die Machthaber in der DDR eine besonders ausgeprägte Neigung zu abweichendem Verhalten unterstellten. Jedoch werden nur in dem von Annegret und Hans-Hermann Dirksen verfaßten Beitrag über die Zeugen Jehovas ausführlich auch Institutionen und Verfahren behandelt, die jenseits von der Überwachung durch das MfS Konformität erzwingen sollten: die SED-Leitungen, die Massenorganisationen, das Gerichtswesen, die Schule, das Ausbildungssystem und die in diesen Einrichtungen wirksamen Rituale des Bekenntnisses zum "Kollektiv". In diesem Beitrag wird auch die Verfolgung in der nationalsozialistischen Diktatur als Erfahrungshintergrund deutlich, der abweichendes Verhalten von Zeugen Jehovas in der DDR beeinflußte. Repressionen lösten jedoch bis zum Mauerbau wiederholt Fluchtwellen aus und verstärkten anschließend (als "Republikflucht", die sich auf Einzelfälle beschränkte) jeweils die Ausreisebewegung. Wie Bernd Eisenfeld hervorhebt, beseitigten Flucht und Ausreise aber nicht die Ursachen abweichenden Verhaltens, sondern verschafften den Machthabern allenfalls vorübergehend Luft. Obgleich sich in den späten 1980er Jahren auch Oppositionelle und Dissidenten von Flüchtlingen und Ausreisewilligen abgrenzten, verschärfte der Exodus der Unzufriedenen den Protest derjenigen, die in der DDR bleiben wollten. In dieser Zangenbewegung brach die staatssozialistische Diktatur schließlich 1989 zusammen, als ihr der sowjetische Bündnispartner den Schutz durch seine Bajonette verweigerte. Es bleibt jedoch fraglich, ob die Flucht- und Ausreisebewegung damit als "wirkungsvollster Totengräber des SED-Regimes" (S. 372) einzustufen ist.

In vielen Beiträgen werden historische Analysen mit persönlichen Erfahrungen der Autorinnen und Verfasser verknüpft. So verdeutlichen besonders der Rückblick von Ernst Käbisch auf seine Tätigkeit als evangelischer Pfarrer in Zwickau in den 1980er Jahren und die Erinnerung von Achim Beyer an die Verhandlung gegen 19 angeklage Schülerinnen und Schüler in Werdau (Sachsen) 1951 und seine anschließende Haft, daß die Konfrontation von biographischer und historiographischer Perspektive erhellende Einblicke in den "Schein der Normalität" eröffnen kann. Allerdings wird die Spannung zwischen den Positionen des Zeitgenossen und des Geschichtsschreibers in vielen Beiträgen zu wenig reflektiert. Zudem weisen einzelne Aufsätze (so die Beiträge von Wolle, Skyba und Kaminsky) nur geringfügig über vorangegangene Veröffentlichungen der betreffenden Autorinnen und Verfasser hinaus. Auch wenn überdies der Durchbruch zu einer richtungweisenden Neubestimmung des Verhältnisses von Alltag und Herrschaft in der SED-Diktatur nicht gelingt, enthält der von Vollnhals und Weber herausgegebene Band wichtige Bausteine einer noch zu schreibenden, integralen Sozial- und Politikgeschichte der DDR.

Anmerkungen:
1 Sigrid Meuschel, Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 5-14, hier: S. 6. Kritik in: Ralph Jessen, Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 96-110, hier: S. 98-100, 109f.
2 Klaus Schröder, Der SED-Staat 1949-1990. Partei, Staat und Gesellschaft, München 1998, S. 249.
3 Erich Hahn, Zur Rolle der Ideologie, in: Dietmar Keller/Hans Modrow/Herbert Wolf (Hg.), Ansichten zur Geschichte der DDR, Bd. 1, Bonn 1993, S. 211-235, hier: S. 229. Dazu Arnd Bauerkämper, Verengte Ansichten zur DDR-Geschichte, in: Deutschland Archiv 27 (1994), S. 864-868; ders., "Gute Absichten", "verblichene Errungenschaften", "verlorene Siege", in: Deutschland Archiv 29 (1996), S. 128-132.
4 Sigrid Meuschel, Machtmonopol und homogenisierte Gesellschaft. Anmerkungen zu Detlef Pollack, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 171-183, hier: S. 183. Bezug auf: Detlef Pollack, Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR. Oder: War die DDR-Gesellschaft homogen?, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 110-131. Als Replik auf Meuschels Kritik: Detlef Pollack, Die offene Gesellschaft und ihre Freunde, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 184-196. Überblick über die Debatte jetzt in: Beate Ihme-Tuchel, Die DDR, Darmstadt 2002, S. 89-91.
5 Dazu ausführlich: Annette Kaminsky, Kaufrausch. Die Geschichte der ostdeutschen Versandhäuser, Berlin 1998.
6 Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, Berlin 1998.
7 Vgl. auch Clemens Vollnhals, Nomenklatur und Kaderpolitik. Staatssicherheit und die "Sicherung" der DDR-Justiz, in: Deutschland Archiv 31 (1998), S. 221-238.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension