W.J. Patzelt; R. Schirmer (Hgg.): Die Volkskammer der DDR

Titel
Die Volkskammer der DDR. Sozialistischer Parlamentarismus in Theorie und Praxis


Herausgeber
Patzelt, Werner J.; Schirmer, Roland
Anzahl Seiten
469 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gero Neugebauer, Freie Universität Berlin, Otto-Suhr-Institut

Der Sammelband präsentiert überarbeitete Tagungsbeiträge zum Thema "Wie war die sozialistische Volkskammer der DDR wirklich?" sowie Rechtsquellen, quantitative und qualitative Angaben zur Volkskammer (hinfort: VK) und eine Auswahlbiografie; zusammen mit den Angaben der "Systematischen Bibliographie" 1 erhält man einen Überblick über die relevante Literatur zur VK.

I. "Die Volkskammer als Forschungsgegenstand" (S.13-74)

In den Beiträgen soll, so das leitende Interesse der Herausgeber, beschrieben und analysiert werden, ob die VK ein Parlament war, was sie leistete und wie sie funktionierte. Zusätzlich formulieren sie als Lernziel für die politische Bildung: Welche Lehre aus den Untersuchungsergebnissen zu ziehen sei.

Werner Patzelts Ansatz für vergleichende Parlamentsforschung lautet: Parlamente erbringen Steuerungsleistungen für moderne politische Systeme, die staatliche Machtausübung intelligenter und politische Systeme steuerungsfähiger machen können, jedoch nur unter den Bedingungen einer relativen Autonomie und entsprechender Voraussetzungen. Wenn sie nichts oder wenig leisten, dann sollte nach Konstruktionsmängeln oder nach politisch gewollten Restriktionen gefragt werden, selbst im Fall des in den sozialistischen Staaten "machtlose(n) Minimalparlamentarismus"(17).

Die Herausgeber wollen sich die vergleichende Bewertung der Funktionen vorbehalten; das normative Urteil ist Sache der einzelnen Autoren, in der Regel Zeitzeugen, die in der VK oder ihrem Umfeld engagiert waren. Sie werden einleitend - nicht immer mit Erfolg - daran erinnert, dass in vergleichender Perspektive die Binnensicht nicht die einzig legitime sei; sie hätten nicht sich, sondern den Fakten zu dienen.

Der Mitherausgeber Roland Schirmer unterbreitet in seiner präzisen Skizze verschiedene Aspekte der VK sowie der Wahlen. Die Entwicklung zum Parlamentarismus sei durch die Wahl am 18. März 1990 sowie dadurch befördert worden, dass sich durch den Anstoß von außen die "Strukturrudimente" schnell mit institutionellem Leben gefüllt hätten.

Werner Patzelt beschreibt mit Hilfe des an Melvilles (43,Fn.2) orientierten Ansatzes von Geltungsgeschichte - Geltungsgeschichten seien weder Realgeschichte oder deren "subjektiv-ideologische Verzerrung"(72), zugleich seien sie "Inspiration, Motivation und Rechtfertigung politischen Handelns" wie die VK ihre Geltung historisch-politisch und zugleich als "ontologisch notwendig"(43) im Kontext von Geschichten darstellte. Hier wird der Zusammenhang zum Lernziel der Publikation verdeutlicht: Patzelt will erreichen, dass die politischen Ordnungsprinzipien des real gewesenen Sozialismus nicht als attraktive Alternative zur freiheitlich demokratischen Grundordnung propagiert werden(72).

II. "Die Volkskammer im Blick von außen" (S.75-181)

Heinrich Oberreuter widmet sich kompetent "Idee, Norm und Realität sozialistischer Vertretungskörperschaften". Er reflektiert über die begriffliche Verknüpfung von Parlamentarismus, d. h. freien Wahlen, autonomer parlamentarischer Macht und freiem Mandat mit dem Marxismus-Leninimus. Er stellt sich die Aufgabe "die 'sozialistische' Vertretungskörperschaft" unter dem Aspekt ihrer wichtigsten verfassungstheoretischen Normen zu skizzieren, sie auf die VK anzuwenden und deren Wandlungen und Auflösung herauszuarbeiten. Da weder die Abgeordneten Parlamentarier waren noch die VK ein Parlament war, verwirft er den Begriff des "sozialistischen Parlamentarismus". Die Leistungen und Funktionen der VK bilanziert er wenig überraschend: Zwar hätten die Abgeordneten das SED-Regime oberflächlich legitimiert, jedoch erst in der Wende habe der Kampf um Öffentlichkeit und die Einmischung in die Politik gegen die alten Strukturen einen Wandel zum Parlamentarismus und zur Entwicklung parlamentarischer Verhaltensweisen eingeleitet. Durch die Trennung von "Vertretungskörperschaft" und "Parlament" gelingt ihm eine Problematisierung des Untersuchungsansatzes.

Lothar de Mazière - nur 1990 Mitglied der VK - meint, diese habe anfänglich keine Konstruktionsfehler gehabt, sondern sei bis zum Oktober 1989 auf Repräsentations- und Legitimationsfunktionen reduziert worden. Roland Schirmer folgt ebenfalls dem "Konstruktionsansatz". Nachdem die SED die nach 1946 in den Landtagen der SBZ vorhandenen Ansätze zum Parlamentarismus beseitigt hatte, sei die VK eine "minimalparlamentarische Institution" geworden (105). Er vertieft einige Aspekte (u.a. die Rolle des Antifaschismus) der Gestaltungsgeschichte der VK und greift bei der Darstellung ihrer Funktionen (Kommunikations-, Kontroll-, Wahl- und Gesetzgebungsfunktion) auf eine qualitative Analyse (Auswertung von Aussagen von 56 früheren Abgeordneten) zurück. Fazit: Trotz beschränkter Funktionen habe die VK im Bereich der politischen Kommunikation, der Gesetzgebung und der Kontrolle positives geleistet. Dennoch sei sie ein "stummes Parlament"(177)geblieben. Stumm oder nicht: System- und institutionenlegitimierende kommunikative Leistungen der VK Abgeordneten, die weder frei nominiert und gewählt noch Vertreter konkurrierender Parteien waren, sind kein Indikator für die Existenz von Parlamentarismus in der DDR vor der Wahl am 18. März 1990.

III. "Die Volkskammer im Blick von innen"(S.182-246)

Die oft informativen und seltener verklärten Binnenansichten ehemaliger Abgeordneter und Mitarbeiter lassen bei der Beschreibung der Leistungen der VK, ihrer Fraktionen und Ausschüsse sowie bei der Rolle der Abgeordneten weniger Differenzen erkennen als bei den unterschiedlichen Beurteilungen der Bedeutung der VK für den Bestand des politischen Systems, der Einflussmöglichkeiten auf Entscheidungen und der Wahlkreisarbeit zum Ausdruck kommen. Der Vergleich eines ehemaligen VK- und späteren Bundestagsabgeordneten zwischen diesen beiden Rollen misslingt ihm spätestens dort, wo es um Vergleichsebenen und Systemfragen geht; während seine Hinweise auf Diskriminierungen von PDS-Abgeordneten in der einschlägigen Literatur 2 bestätigt werden.

IV. "Die Volkskammer im Perspektivenvergleich" (S.247-300)

Im Schlussteil bilanziert Werner Patzelt die Ergebnisse, fasst Einsichten zusammen, betont den vorhandenen Konsens und erkennt bei der Rolle der Abgeordneten ansatzweise Parallelen zwischen VK und Bundestag. Insgesamt habe sich die SED jedoch um die "Stabilitäts-, Steuerungs- und Legitimierungschancen gebracht, welche demokratische Repräsentationsinstitutionen einem politischen System erschließen können" (256). Wird da nicht eine missverständliche funktionalistische Sichtweise auf das politische System der DDR projektiert?

Weil Patzelt meint, dass die Urteile der Akteure von einem idealistischen Blick auf einen fiktiven sozialistischen Staat beeinflusst seien, wechselt er die Perspektive der Bewertung. Die VK müsse nach den Normen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung beurteilt werden. Damit revitalisiert er eine Kontroverse aus den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts 3. So gesehen war die VK "eine strangulierte Institution in einem üblen politischen System", und da das DDR-System zugleich funktionslogisch unzulänglich konstruiert gewesen sei und keinen wirksamen Parlamentarismus nachgefragt habe, sei ihr Potential nicht ausgeschöpft worden. Kein Wunder, dass er die VK als "hilfloses Parlament" nicht zu den "nachahmenswerten parlamentarischen Institutionen" (297) zählt.

Resümee

Wer theoretisch und methodisch anregende Ansätze zur Analyse der VK sowie Daten über ihr Innenleben sucht, zieht aus den meisten Beiträgen Nutzen. Auf der immanenten Ebene sind die Darstellungen und Analysen der Funktionen und Leistungen einer Vertretungskörperschaft, die kein Parlament sein konnte und sein durfte, gelungen. Die Wahl der Vergleichsebene "freiheitlich-demokratische Grundordnung" dient der Verdeutlichung des Lernziels. Allerdings gehört die Erkenntnis, dass es im sowjetischen Sozialismusmodell keine echte Demokratie gegeben hat und die Bedingungen in der DDR diese nicht hätten möglich werden lassen, inzwischen zum Allgemeinwissen. [4] Daher wird sich die Hoffnung von Werner Patzelt, dass die kritische Befassung mit der VK verhindere, dass jemand aus ideologischer Verblendung heraus diese als Alternative zu einem Parlament in einem demokratischen System betrachteten könne, sicher erfüllen. Die kritischen öffentlichen Diskurse über den Parlamentarismus in der Bundesrepublik und seine Umsetzung in der parlamentarisch-politische Praxis ignorieren diese bedeutungslose Alternative völlig.

Die Richtung von Kritik und Veränderungsvorstellungen wird durch die Mahnungen von Wolfgang Thierse über die Folgen der Verlagerung politischer Debatten in Fernsehshows oder das Bemühen der rot-grünen Regierung um plebiszitäre Elemente in der deutschen Demokratie vorgegeben. Sie zeigen, wo Defizite und Hoffnungen bezüglich der Entwicklung der parlamentarischen Demokratie gesehen werden.

Anmerkungen:
1 Systematische Bibliographie von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern zur politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR seit 1945, 3 Bde., Bd. 1: Geschichte und politisches System der SBZ/DDR, nichtkommunistische Länder aus der Sicht der DDR, deutsche Frage, bearbeitet von Walter Völkel unter Mitwirkung von Christina Stuff, Opladen: Westdeutscher Verlag 1986, S. 425-433.
2 Vgl. Spöhrer, Jochen, Zwischen Demokratie und Oligarchie: Grüne und PDS im Deutschen Bundestag, Baden-Baden: Nomos 1999 [=Nomos Universitätsschriften Politik Band 98].
3 Vgl. Neugebauer, Gero, Die DDR-Forschung vor und nach der Wende 1989/90, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit" (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. IV, Baden-Baden: Nomos 1999, S. 1471 ff.
3 Vgl. Wolff, Friedrich, Warum scheiterte die DDR, in: Mitteilungen der KPF der PDS, 13. Jg. , H.8/2002, S. 11.

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