A. Thier: Staatssteuerreformen in Preußen

Titel
Steuergesetzgebung und Verfassung in der konstitutionellen Monarchie. Staatssteuerreformen in Preußen 1871-1893


Autor(en)
Thier, Andreas
Reihe
IUS COMMUNE. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main, Sonderhefte: Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, 119
Erschienen
Frankfurt am Main 1999: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
XXVIII, 1047 S., 19 Tab.
Preis
€ 132,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. sc. Reinhold Zilch, Berlin Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Die hier vorzustellende Münchener Dissertation aus dem Wintersemester 1997/98 bietet dem geduldigen Leser mit einer Schilderung der Entscheidungsprozesse in der Ministerialbürokratie und ihrer Beziehungen zu den Parlamenten ein episch breites Bild der preussisch-deutschen Finanzgeschichte der Bismarck- und Caprivi-Zeit, verbunden mit Diskursen zur Finanz- und Verfassungstheorie, und man kann nur Respekt vor so viel fundiertem Wissen bekunden. Das Buch Thiers stellt die erste moderne, aus den Quellen gearbeitete monographische Darstellung zur Finanzgeschichte für die Jahrzehnte von der Reichsgründung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dar, die sich in eine Reihe mit den grundlegenden Studien von Peter-Christian Witt, Rudolf Kroboth und Carl-Ludwig Holtfrerich 1 stellt. Dabei ist hervorzuheben, daß Thier von einer verfassungsrechtlichen Fragestellung ausgeht, um den "Widerstreit der Verteilungsinteressen" sowie den "Gegensatz zwischen monarchischem Herrschaftsanspruch und parlamentarischen Teilhaberrechten" (S. VII) zu beschreiben. Der primär rechtshistorische Ansatz unterscheidet die Monographie methodisch von den meisten finanzhistorischen Untersuchungen, die wirtschaftswissenschaftlich orientiert sind.

In einer Einleitung (S. 1-89) beschreibt Thier. Gegenstand, Fragestellung, Forschungsstand und Quellenlage, bietet ferner unter der Überschrift "Probleme der preußischen Abgabenverfassung" einen Abriß des Steuer- und Abgabenrechts bis zur Reichsgründung und stellt überblicksartig normative und institutionelle Grundlagen der preußischen Steuergesetzgebung dar. Der erste Hauptteil (S. 91-642) behandelt detailliert die "Entwicklungsstufen des Steuerreformprozesses in Preußen", während der zweite Hauptteil (S. 643-963) die "verfassungsrechtlichen Dimensionen des Steuerreformprozesses" zum Gegenstand hat und damit nicht nur die Darstellung des vorangegangenen Hauptteils zusammenfaßt und erweitert sondern auf eine neue analytische Stufe hebt. Die Seiten 965 bis 971 enthalten schließlich eine Zusammenfassung des Ertrages der Forschungen.

Für die Jahre von 1871 bis 1893 geht Thier von vier verschiedenen Etappen in der Reform des preussisch-deutschen Steuersystems aus. 1871 bis 1876 standen Veränderungen der Klassen- und Einkommenssteuern mit Novellierungen der Erbschaftssteuern sowie den Vorschriften zur Klassensteuerveranlagung (S. 91-128) im Mittelpunkt. Schlüssig und erstmals bis in die frühen Jahre der politischen Karriere des späteren Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten zurückreichend, begründet Thier die steuerpolitischen Auffassungen Bismarcks, die 1878/79 bis 1882/83 die Basis bildeten für seine "Konzeption einer föderalen Steuerreform" mit ihrer Verflechtung von Reichsfinanzreform und Steuerreform in Preußen (S. 129-386). Bismarck ging es dabei um eine "Umschichtung der Abgabenlast von direkten auf indirekte Steuern", um "neue indirekte Abgaben im Reich einzuführen", "damit die Matrikularverpflichtungen der Einzelstaaten" sich vermindern und bzw. diesen sogar "zusätzliche Zahlungen aus der Reichskasse zukommen". "Die Reorganisation der preußischen Steuerrechtsordnung" mußte also "im wechselseitigen Zusammenwirken mit der Reichsgesetzgebung" erfolgen als Kernstück eines "unitarischen Föderalismus unter preußischer Hegemonie" (S. 375f.). Den in diesen Jahren zu beobachtenden "ständigen wechselseitigen" Austausch "zwischen den Willensbildungsprozessen in Preußen und dem Reich" nimmt Thier zum Anlaß für seine einleuchtende These, "den Föderalismus des Kaiserreichs als einen Prozeß steter Neuordnung der Beziehungen zwischen Reich und Einzelstaaten zu sehen" und gipfelt in der Aussage, daß "föderalistisch strukturierte Verfassungsordnungen von einem dynamischen Prozeß ständiger Verfassungsneubildung gekennzeichnet sind" (S. 386).

Unter der Überschrift "Die preußische Steuerreformgesetzgebung in der Stagnation 1883-1889/90" erfaßt Thier eine Periode, die wie die vorangegangene mit einem Fehlschlag in den Reformbestrebungen endete, da es weder Regierung noch Parlament gelungen war, die eigenen Vorstellungen durchzusetzen (S. 387-431). "Das Staatsministerium" als "das Kraftzentrum im Verfassungsgefüge der konstitutionellen Monarchie [...] wurde [...] steuerpolitisch handlungsunfähig. Dies und die in der Verfassungsstruktur [...] begründete Spannung zwischen Parlament und Regierung bewirkten ein legislatorisches Vakuum, dessen Beseitigung erst nach dem Rückzug Bismarcks aus dem Staatsministerium möglich werden sollte." (S. 431)

Mit der Ernennung von Caprivi kam wieder Bewegung in die festgefahrene Situation, und zusammen mit seinem ebenfalls neu ins Amt tretenden Finanzminister Miquel konnte "der Abschluß des Steuerreformprozesses" durch "die Reformgesetzgebung von 1890/91 bis 1892/93" erfolgen (S. 432-642). Dies geschah in einer Periode, die "durch den starken Einfluß des Abgeordnetenhauses auf die gesetzgeberische Willensbildung und die enorme persönliche Leistung Miquels bei der Umsetzung der seit langem vorgetragenen Reformforderungen in ein legislatorisches Gesamtkonzept" (S. 631) geprägt war.

Diese Gesamtentwicklung betrachtet Thier im zweiten Hauptteil nun unter dem Zusammenhang zwischen dem parlamentarischen Budget und der Steuergesetzgebung (S. 643-857), ausgehend von dem "Budgetkonflikt als Paradigma der preußischen Budgetrechts- und Verfassungsgeschichte" sowie unter den Interdependenzen zwischen "Steuergesetzgebung und Wahlrechtsverfassung" (S. 858-963). Thier kommt zu dem Schluß, daß "die Akzessorietät von Wahlrecht und Steuerleistung wieder restauriert" wurde. Dies zeige, "daß die verfassungspolitische Dynamik des Steuerreformprozesses dort nicht zum Tragen kommen kann, wo anderenfalls die Grundlagen der überkommenen Herrschafts- und Sozialordnung in Frage gestellt" werden (S. 963).

Thiers Darstellung ist dicht und schlüssig. Es fällt aber auf, daß die seinen Argumentationen zugrundeliegende Quellenbasis von unterschiedlicher Tiefe ist, wenn man den Steuerreformprozeß in seinem Wechselspiel von der Regierung auf der einen und den Parlamenten auf der anderen Seite betrachtet. Thier verfolgt einerseits minutiös anhand der Regierungsakten den Entscheidungsprozeß in der Ministerialbürokratie, bleibt aber andererseits hinsichtlich des Willensbildungsprozesses der Parlamentarier bzw. der pressure groups bei den gedruckten Stenographischen Berichten von Reichstag, Abgeordnetenhaus und Herrenhaus, den Protokollen der Kommissionsverhandlungen im Abgeordnetenhaus sowie gedruckten zeitgenössischen parteipolitischen Veröffentlichungen stehen und führt weitergehendes Material nur an, wenn es in die staatlichen Akten Eingang fand. Hier wünschte man sich aber eine stärkere Einbeziehung sowohl der Tagespresse als auch von ungedruckten Nachlässen von Parlamentariern und anderen Protagonisten. Daß dies zu beachtenswerten Ergebnissen führen kann, hat z. B. Wolfram Pyta gezeigt. [2] Ebenso verwirrt es etwas, wenn eine homogene Quelle wie die Protokolle des preußischen Staatsministeriums aus unterschiedlichen Überlieferungen wie einerseits der Hauptreihe der vollzogenen Reinschriften in Rep. 90a des Geheimen Staatsarchivs Stiftung Preußischer Kulturbesitz und andererseits den in verschiedenen Ministerialakten Preußens und der Reichsleitung liegenden Abschriften einzelner Tagesordnungspunkte zitiert wird. Verwunderung löst darüber hinaus die Tatsache aus, daß das lange Literaturverzeichnis die Bismarck-Biographie von Ernst Engelberg übergeht; bedenkt man jedoch, daß selbst Quellenveröffentlichungen von DDR-Autoren übergangen werden, während ansonsten sogar kurze zeitgenössische Zeitschriftenartikel aufgelistet werden, muss man darin wohl Absicht vermuten.

Abschließend bleibt dem Rezensenten nur die Frage, ob die ausufernde Darstellungsweise dem Anliegen des Autors dienlich ist, da der Leser leicht den "roten Faden" verliert. Ein nicht nur mit Quellenangaben und Zitaten, sondern teilweise auch längeren Exkursen vor allem zur Forschungslage gespickter Anmerkungsapparat und eine Einleitung, die bis in das 12. (!!) Jahrhundert zurückgreift, hätten kraftvolle Striche eines Lektors verdient.

Anmerkungen
1 Peter-Christian Witt: Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches von 1903 bis 1913. Eine Studie zur Innenpolitik des Wilhelminischen Deutschland, Lübeck/ Hamburg ; Rudolf Kroboth: Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches während der Reichskanzlerschaft Bethmann Hollwegs und die Geld- und Kapitalmarktverhältnisse (1909-1913/14), Frankfurt/M. 1986; Carl-Ludwig Holtfrerich: Die deutsche Inflation 1914-1923. Ursachen und Folgen internationaler Perspektive, Berlin/ New York 1980.

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