Titel
Intellektuelle ohne Macht?.


Herausgeber
Gustav-Heinemann-Initiative; Humanistische Union; Komitee für Grundrechte & Demokratie
Reihe
vorgänge 156. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, 40.Jg. Dezember 2001, Heft 4
Erschienen
Leverkusen 2001: Leske + Budrich Verlag
Anzahl Seiten
122 S.
Preis
€ 9,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
PD Dr. Gerd Dietrich, Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Geschichtswissenschaften

"Die Geburt des Intellektuellen aus dem Geist des Krieges - seit dem 11. September sind wir, wie schon mehrmals in der Geschichte, zeuge dieses Phänomens." Mit diesem Satz leitet das Editorial den Themenschwerpunkt des Dezemberheftes der "vorgänge" ein. Zwar ertönte nach den Terrorangriffen auf New York und Washington und dem Beginn der Bombardierungen Afghanistans" unüberhörbar der Chor der intellektuellen Kritik. Doch mitnichten entstand hier eine Internationale der Intellektuellen... Die zu vernehmende Kakophonie zeigte vielmehr, wie heterogen intellektuelles Engagement auch in der Gegenwart bleibt." (S.1) Zwar schlägt in Kriegs- und Krisenzeiten die Stunde der professionellen Sinnproduzenten, weil das Bedürfnis nach Identifikationsangeboten und Deutungsmustern Konjunktur hat. Doch sollte uns "die momentane Intellektuellenrenaissance nicht über den schleichenden Niedergang intellektuellen Einflusses hinwegtäuschen: Seit 1989 hörte man immer seltener von intellektuellen Interventionen." (S.2) Nach diesem ambivalenten Befund versucht der Themenschwerpunkt "Intellektuelle ohne Macht?" Chancen und Grenzen intellektuellen Engagements zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu bestimmen. Die Antworten darauf können nur vorläufig und verschieden sein, gleichwohl sind sie des Nachdenkens und -lesens wert.

Wolfram Burkhardt und Johan F. Hartle bilanzieren in "Risse im Raum des Politischen. Über den Typus des streitbaren Intellektuellen" die bundesrepublikanische Intellektuellengeschichte von den 50er bis zu den 80er Jahren. Ausgehend von einem Unbehagen an der gegenwärtigen politischen Kultur beschreiben sie den Raum des Politischen als den Ort des Intellektuellen - auch als den Ort, wo die schwierige Kategorie des Intellektuellen relativ klar zu fassen ist. Sie grenzen den Typus des streitbaren Intellektuellen von zwei aktuellen bzw. historischen Intellektuellentypen ab: zum einen von den Medienintellektuellen, die "eine strukturelle Anpassung der intellektuellen Interventionen an Standards der
kommerziellen Unterhaltungskultur um den Preis ihres eigensinnigen Gehalts" vollführen. (S.13); zum anderen von dem universalen Intellektuellen: "einem paternalistischen Intellektuellentypus, der sich als Anwalt des Allgemeinen verkennt und ein wissenschaftliches Pathos hybrid werden läßt". (S.8) Diesem universalen Intellektuellen (Jürgen Habermas), der die technokratische Zurüstung des Politischen betreibt, stellen sie den streitbaren Intellektuellen (Pierre Bourdieu) gegenüber, der die Machtfrage stellt und die Konflikte offenlegt, die sich hinter normalisierten und institutionalisierten Praxen Verbergen. Mit dem Typus des streitbaren Intellektuellen verbinden sie den Wusch nach "einer lebendigen politischen
Konfliktkultur, wie sie sich gerade in der Bundesrepublik durch
wissenschaftliche und moralische Verzerrung kaum hat entfalten können." (S.17)

Jens Hacke bewahrt in "Skepsis und Kompensation. Rückblick auf eine liberalkonservative Intellektuellengeneration in der Bundesrepublik" die Generation um Hermann Lübbe, Wilhelm Hennis, Thomas Nipperdey, Helmut Schelsky, Kurt Sontheimer oder Robert Spaemann vor einem schnellen Vergessen und analysiert ihre Bedeutung für die politische Kultur der Bundesrepublik. Er konstatiert den Einfluß der "skeptischen Generation" wie die Spaltung des intellektuellen Milieus nach 1968 und arbeitet zugleich heraus, daß die neokonservativen Ideologen die antidemokratische Grundhaltung ihrer Vorgänger (Arnold Gehlen und Carl Schmitt) überwunden haben. "Spätestens seit 1968 sehen sich Konservative in der Rolle des Verteidigers von Republik und Verfassung, sind somit gleichsam in die Mitte gerückt." (S.23) Bildungsbürgerliches Engagement und kulturkritische Essay setzten sie gegen die "linke" Emphase des emanzipatorischen Fortschritts. Aber sie marginalisierten sich selbst, indem sie sich intellektuellenfeindlich gaben. Doch "ihre 'Apologie der Bürgerlichkeit' (Marquard) scheint sich heute mit bestimmten neueren Konzepten von Zivilgesellschaft ebenso zu berühren wie ihr legalistischer Institutionalismus mit Habermas' verfassungspatriotischer Wende." (S.26)

Alexander Camman hebt mit "Innovation und Illusion. Das SPD/SED-Papier von 1987 als Form intellektueller Politik" ein bisher wenig beachtetes Engagement sozialdemokratischer Intellektueller heraus. Nachdem er methodische Probleme der historisch-soziologischen Analyse intellektuellen Wirkens und den Begriff "intellektuelle Politik" als "Terminus für die Grauzone zwischen intellektuellem und politischem Feld" (S.31) erörtert hat, stellt er die Inhalte und die Entwicklung der Gespräche und des Papiers vor und ordnet sie in den Rahmen neuer Formen der zweiten Phase sozialdemokratischer Ost- und Deutschlandpolitik ein. Er geht sowohl den Ursachen und Zielen als auch den Chancen und Risiken dieses "Streits der Ideologien" nach. Indem er für Gesprächsrunden wie Papier andere Akteure, andere Inhalte und andere Formen als in der üblichen Politik herausarbeitet, kann er diese als eine besondere Form intellektueller Politik interpretieren. Seine zusammenfassende Wertung bleibt ambivalent: "Für die Sozialdemokratie war diese Ostpolitik als intellektuelle Politik ein Experiment, das zumindest zeitweise anregend und deshalb erfolgreich war. Am Ende stieß es jedoch an seine Grenzen: Durch ein unflexibles Festhalten an nichtöffentlichen Strategien sowie handlungsleitenden normativen Werten und Deutungsmustern verlor diese intellektuelle Politik ihre Rolle als 'Störungsfaktor'." (S.39)

Francois Beilecke macht mit "'Der Intellektuelle ist tot, es lebe der Intellektuelle!' Anmerkungen zur neueren französischen
Intellektuellenforschung", die seit Mitte der 80er Jahre einen Boom erlebt und aufgrund ihrer innovativen Ansätze die Bezeichnung "Neue französische Intellektuellenforschung" verdient. Sie zeichnet sich vor allem durch eine
weit gefaßte Arbeitsdefinition des Intellektuellen aus, wonach "der Intellektuelle als ein Vertreter des kulturellen Lebens ... angesehen werden muß, der aufgrund seines öffentlichen Agierens als Produzent oder Vermittler von Ideologien ... zum politischen Akteur wird". (S.43) Und sie beschäftigt sich vor allem mit der Entstehung eigenständiger intellektueller Milieus, mit dem Problem von Intellektuellengenerationen sowie mit der Kategorie intellektueller Netzwerke. Zu den führenden Stichwortgebern dieser neuen Intellektuellenforschung gehören z.B. Christophe Charle und die in Deutschland noch weitgehend unbekannten Rémy Rieffel, Jean-Francois Sirinelli und Michel Winock. Da sich seit den 70er Jahren die Zugangsbedingungen zur politischen Öffentlichkeit fundamental geändert haben, ist ein Bedeutungswandel aber kein Bedeutungsverlust des Intellektuellen in der französischen Gesellschaft zu erkennen.

Christian Oberländer beschreibt in "Intellektuelle und Universitäten in der Globalisierung. Das Schicksal der akademischen Freiheit am Fallbeispiel Japan" zunächst die Rolle der Universität als Habitat kritischer Intellektueller, um danach das Ringen der Intellektuellen um die akademischen Freiheit darzustellen. Er entwickelt historisch, wie sich das
Verhältnis von Intellektuellen, Universität und Staat im Laufe der Jahre gewandelt hat. Während vor dem Zweiten Weltkrieg zeitweise eine große akademische Freiheit herrschte, die dann zunehmend vom Tenno-System und der Forderung nach Konformität eingeschränkt wurde, besann man sich nach 1945 auf die demokratischen Vorkriegstraditionen und verankerte die akademische Freiheit und die Unabhängigkeit der Universitäten sogar in der japanischen Verfassung. In jüngster Zeit drohen allerdings die Auswirkungen der Globalisierung der Universität wieder "die Freiräume zu entziehen, die sie benötigt, um als Intellektuellen-Habitat funktionieren zu können." (S.50)Gleichzeitig setzte der "Übergang vom Intellektuellen ... zur Kulturperson ... ein, d.h. vom authentischen Denker zum Entertainer" (S.55) und die "Bedeutung der akademischen Intellektuellen für die Gesellschaft sinkt in dem Maße, wie die Universität an Autonomie verliert". (S.60)

Zum Abschluß des Themenschwerpunktes gibt Alexander Camman unter dem Titel "Erkundungen im intellektuellen Feld" einen profunden und anregenden Literaturbericht, der an der Fülle von aktuellen soziologischen und historischen Untersuchungen die eigentümliche Faszination zu belegen versucht, die Intellektuelle noch immer als Forschungsobjekte ausüben. - Bleibt zum Schluß festzuhalten: Das Thema ist unerschöpflich. Die Klage über die Krise der Intellektuellen ist ebenso Bestandteil intellektueller Nabelschau und Selbsterforschung wie die Rühmung einer Renaissance der Intellektuellen. Der Kongreß der Weißwäscher tagt in Permanenz und Tui-Romane entstehen allezeit. Sie bleiben freilich stets Fragment, denn es sind Intellektuelle die Intellektuelle beschreiben, beschimpfen, bestimmen oder belobigen. Das Thema, wie gesagt, ist ein Dauerbrenner. Selbstverortung und Selbstironie sind bei solcherart Selbsterkenntnis immer angebracht.

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