E. Berner: Im Zeichen von Vernunft und Christentum

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Titel
Im Zeichen von Vernunft und Christentum. Die Zürcher Landschulreform im ausgehenden 18. Jahrhundert


Autor(en)
Berner, Esther
Reihe
Beiträge zur Historischen Bildungsforschung 40
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 496 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Marina Müller, SFB 600 „Fremdheit und Armut“, Universität Trier

Anders als die frühneuzeitliche Schulgeschichtsforschung, die zu einem großen Teil in der bloßen Darstellung von Institutionen verharrt, präsentiert Esther Berner mit ihrer Dissertationsschrift eine Forschungsarbeit, die die Zürcher Landschulreform am Ende des 18. Jahrhunderts nicht nur als ein Ereignis referiert, sondern auch deren Verortung im überregionalen, zeitgenössischen Diskurs aufzeigt. Sie legt die lokalen Bedingungen und Motive der Reform offen und darüber hinaus auch deren Ursprung in der Zürcher reformierten Theologie, die sich wiederum unter anderem aus der deutschen Aufklärungstheologie speiste. Auf diese Weise kann sie für Zürich im ausgehenden 18. Jahrhundert die Gleichzeitigkeit von Profanierung und Rechristianisierung nachweisen, wodurch das Postulat der Säkularisierung im Prozess der Sozialdisziplinierung in diesem Kontext infrage gestellt wird.1 Ebenso trägt Berner zur Beantwortung der Frage bei, wie im 18. Jahrhundert der Wandel im pädagogischen Denken die Organisation der Schulen beeinflusste und daraus Reformen resultierten.

Im Einleitungsteil (S. 1-37) skizziert Berner das Forschungsinteresse der Arbeit und beschreibt die diskursanalytische Vorgehensweise inklusive der Quellenauswahl. Dabei geht es ihr darum, die Wahrnehmung der Ereignisse durch die Akteure zu schildern und wie sich diese Wahrnehmung auf das Denken und Handeln der Menschen auswirkte. Gleichzeitig wird der Leser in die Zürcher Schulgeschichte bis 1770 eingeführt. In der historischen Hinführung erhält die Stadtschulreform der 1760er- und 1770er-Jahre besondere Aufmerksamkeit und wird als ein Bestandteil des zeitgenössischen Reformdiskurses charakterisiert. Sie dient später als Vergleichsschablone für die Landschulreform.

Es folgt der erste Teil der Quellenauswertung (S. 41-289), in dem die Autorin detailliert aus dem umfangreichen Quellencorpus, insbesondere aus den Dokumenten der 1771 durchgeführten Landschul-Enquête, über die Situation der Zürcher Landschulen aus der Perspektive ihrer Geistlichen berichtet. Dabei werden ihre Bewertungen, Reformvorschläge und die 1778 daraus resultierenden Maßnahmen dargelegt. Die Kritik der Pfarrer reichte von der unzureichenden Ausbildung der Lehrer, ebenso wie deren schlechte Besoldung, über mangelhafte Schulhäuser und Lehrmittel, die einem Lehrplan entsprechen sollten, der über sittlich-religiöse Inhalte hinausreichen sollte, bis hin zur Forderung nach einer neuen Schulordnung, die das Verhältnis zwischen Pfarrer, Lehrer und Eltern klar definieren sollte. Die immer wieder vorgebrachte Forderung nach einem auf die Landwirtschaft ausgerichteten Unterricht war anscheinend die Folge einer zunehmend wahrnehmbaren Bedrohung durch eine Wirtschaftskrise mit einem einhergehenden Bevölkerungsschwund seit Beginn der 1770er-Jahre. Der beschlossene Maßnahmenkatalog begegnete nicht allen Defiziten. So erfuhren beispielsweise die Unterrichtsinhalte kaum Veränderungen, die Lehrerausbildung blieb den Pfarrern überlassen und die Instrumente für die Durchsetzung der Schulbesuchspflicht waren nur schwach. Deutlich wird in der Lehrordnung jedoch, dass Zürich sich nicht vor den zeitgenössischen, wissenschaftlich-pädagogischen Erkenntnissen verschloss. Dies spiegelten auch die neu erschienenen Schulbücher in ihrer Methodik und Didaktik wider, die jedoch durch ihre Inhalte versuchten, die Religion und den Glauben im Alltagsleben tiefer zu verankern. Ähnliche Effekte wurden über die Erziehungs-Hirtenbriefe an die Eltern erzeugt, die sie über ihre Rechte, aber vor allem ihre Pflichten gegenüber ihren Kindern unterrichteten. In der Wirkung der Reformmaßnahmen fällt Esther Berner ein eher negatives Urteil, weil die neuen Schulbücher nicht sehr verbreitet waren und vor allem jene Werke größeren Absatz fanden, die stärker an die überkommene Tradition anschlossen. So vermutet sie, „dass der neologisch-aufklärungstheologisch inspirierte Reformeifer wohl eher von kurzer Dauer war und keinen kontinuierlichen Impetus erzeugte“ (S. 289).

Im zweiten Teil der Quellenauswertung (S. 293-417) wird die Landschulreform zum einen in den sozialen, politischen und kirchlichen Kontext der Zürcher Landschaft eingeordnet und zum anderen in den durchaus auch überregionalen zeitgenössischen Kontext religiös-theologischer Diskussionen um Schule und Erziehung, wie sie in den aufklärerischen Gesellschaften (Moralische und Asketische Gesellschaft) und in Kirchenkreisen (Synoden und Theologische Zeitschriften) Zürichs geführt wurden. In der Analyse der Initiierung der Landschul-Enquête durch die Moralische Gesellschaft stellt Berner fest, dass ihr zwar eine private Gesellschaft zugrunde lag, diese jedoch hervorragend durch ihre Mitglieder mit den obrigkeitlichen Institutionen vernetzt war. Weil sich ihre Legitimität aus der Verantwortung für die Wohlfahrt des Landes und seiner Bürger speiste, sah sie sich in der Pflicht, angesichts der wirtschaftlichen Krise Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Zwar war die Wirtschaftskrise von 1770/71 der Auslöser der Landschulreformbestrebungen, jedoch wollte man nicht wie in den Stadtschulen durch eine verbesserte Ausbildung die Volkswirtschaft stärken, sondern dem moralischen Verfall entgegenwirken, wobei insbesondere die Landjugend als bedroht erschien. Deutlich wird somit in der Untersuchung, dass die Geistlichen den Verlust ihres religiösen Einflusses auf die Gesellschaft befürchteten und sich durch die Schulen ihren status quo zu erhalten suchten. Die Schulen sahen die Kirchenmänner „als das wirksamste Mittel, um Religion und Sittlichkeit unter dem Volk zu sichern“ (S. 330). Man diskutierte also über den richtigen Weg der Volkserziehung: Gefühl oder Verstand? Die neue Lehrordnung ging einen teils fortschrittlichen, teils aber auch konservativen Mittelweg, der den sittlich-moralischen Zielen der Reform sehr entgegen kam, gleichzeitig aber die Einführung praktischer Lehrinhalte verhinderte, weil man eine unnötige Verlängerung der Schulzeit gegenüber den Gemeinden und Eltern als nicht vertretbar beurteilte. Denn der Nachwuchs sollte immer noch so schnell wie möglich ins Arbeitsleben entlassen werden. Somit zeigt sich, dass sich die Neologie durchaus gegenüber dem Pietismus oder dem Bibelchristentum durchsetzte. Somit wurde der Glaube wieder fester im Alltag verankert und zugleich stärkte man damit die sich als Wissenschaft etablierende Pädagogik mit einem theologisch fundierten, optimistischen Menschenbild.

Die vorliegende Forschungsarbeit überzeugt im Ganzen. Besonders hervorzuheben ist die gut nachvollziehbare methodische Vorgehensweise. Durch die Offenlegung der historischen Argumentationslogik vermag Berners Arbeit über die traditionelle Schulgeschichtsschreibung hinauszugehen, die meines Erachtens bislang in einer reinen Beschreibung der Institutionsgeschichte verharrte. So erfahren wir mehr über die gesellschaftliche Bedeutung, die Schule im Zürich des 18. Jahrhundert nach Meinung der Zeitgenossen haben sollte, aber auch welche Wirkung sie dann tatsächlich erzielte, sodass hier sehr viel tiefere Einblicke in das Denken einer historischen Gesellschaft gewonnen werden. Damit trägt Berner unter anderem überzeugend zur Widerlegung der These bei, dass Modernisierungsprozesse stets von Entsakralisierung begleitet gewesen seien.2 Diese Ergebnisse ordnet Berner wiederum in den deutschen, theologischen Aufklärungsdiskurs ein, wodurch die Zürcher Schulreform und ihre gesellschaftliche Wirkung nicht nur als singuläres Phänomen verstanden wird. Die Verifizierung dieses Eindruckes müssten zukünftige Studien ähnlicher Art im mittel- und westeuropäischen Raum besorgen. In diesem Zusammenhang hätte ich mir von Esther Berner in ihrer Ergebnisdarstellung eine Einordnung oder auch einen Vergleich zu anderen Territorien gewünscht, um die Begebenheiten im europäischen Kontext besser verorten zu können. Dieser Wunsch soll die eindrucksvolle Forschungsleistung der quellengesättigten Dissertation jedoch in keinem Fall mindern, sondern lediglich andere (Bildungs-)HistorikerInnen anregen, ebenfalls neue methodische Wege zu gehen und sich dadurch von neuen Perspektiven und Deutungsoptionen in der Geschichtsschreibung überraschen zu lassen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Esteban Piñeiro, Helfen und Disziplinieren. Armenhilfe in der frühen Neuzeit und im Absolutismus (Reihe Soziales, Bd. 1), Basel 2006, S. 115f.
2 So auch Thomas Ertl, Religion und Disziplin. Selbstdeutung und Weltordnung im frühen deutschen Franziskanertum (Arbeiten zur Kirchengeschichte, Bd. 96), Berlin 2006, S. 22-24.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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