Titel
Die Auswanderung aus dem Herzogtum Braunschweig im Kräftespiel staatlicher Einflußnahme und öffentlicher Resonanz 1720-1897.


Autor(en)
Pohlmann, Cornelia
Reihe
Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte 84
Erschienen
Stuttgart 2002: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
373 S.
Preis
€ 76.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mark Häberlein, Historisches Seminar der Universität Freiburg

Die deutsche Auswanderung im 18. und 19. Jahrhundert, seit den 1970er Jahren ein beliebtes Thema der Sozial- und Landesgeschichte, hat unvermindert Konjunktur. Zahlreiche Neuerscheinungen, Tagungen und Ausstellungsprojekte in den letzten Jahren zeugen vom anhaltenden wissenschaftlichen und öffentlichen Interesse an der Thematik. Die vorliegende Bamberger Dissertation Cornelia Pohlmanns wurde durch eine Ausstellung des Staatsarchivs Wolfenbüttel und der Herzog August Bibliothek im Rahmen der EXPO 2000 („Brücken in eine Neue Welt - Auswanderung aus dem ehemaligen Land Braunschweig“) angeregt. Sie behandelt die Braunschweiger Auswanderung von den ersten quellenmäßig fassbaren Wegzügen ins außerdeutsche Ausland 1720 bis zum Reichsauswanderungsgesetz von 1897 unter besonderer Berücksichtigung staatlicher und administrativer Vorgaben und Einflüsse einerseits, öffentlicher Reaktionen und Diskussionen andererseits. Dabei kann Pohlmann sich auf ein breites Quellenmaterial aus staatlichen, kommunalen und privaten Archiven stützen.

Die Arbeit gliedert sich in einen kürzeren Teil über das 18. und einen wesentlich ausführlicheren Teil über das 19. Jahrhundert. Im 18. Jahrhundert war der Umfang der Auswanderung aus dem Herzogtum noch relativ gering. Seit der Jahrhundertmitte sind mehrere Migrationsschübe nach Nordamerika und Osteuropa belegt. Die Auswanderungspolitik des Herzogtums war wie diejenige anderer deutscher Staaten von kameralistischen Interessen bestimmt: sie strebte eine „Peuplierung“ des Landes an und versuchte, den Wegzug vermögender und gut beleumundeter Untertanen möglichst zu verhindern. Zu diesem Zweck wurde die Tätigkeit von Werbern seit der Jahrhundertmitte behindert und die Auswanderungsfreiheit nach dem Siebenjährigen Krieg sukzessive eingeschränkt. Wie auch anderswo ließen sich die kameralistischen Prinzipien aber nur in beschränktem Umfang realisieren, da zahlreiche Untertanen heimlich wegzogen. Zudem begann sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts bei den braunschweigischen Behörden ein Diskurs der „Überbevölkerung“ durchzusetzen: dass ein gutes Drittel der 5700 braunschweigischen Soldaten, die als britische Hilfstruppen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg dienten, nach Kriegsende in Nordamerika blieb, war von der Regierung durchaus erwünscht, da ihre Wiedereingliederung in das Herzogtum eine große Belastung für die Staatskasse bedeutet hätte.

Seit den 1830er Jahren wurde das Herzogtum dann zunehmend von der überseeischen Massenauswanderung erfasst. Über 90 Prozent der braunschweigischen Auswanderer des 19. Jahrhunderts gingen nach Nordamerika, kleinere Gruppen nach Südamerika (vor allem Brasilien), Südafrika, Australien und Niederländisch-Indien. Mit der „Neuen Landschaftsordnung“ von 1832 vollzog das Herzogtum die Wende zu einer liberalen Auswanderungspolitik und gewährte den Untertanen Auswanderungsfreiheit, sofern sie sich ihrer Verpflichtungen im Heimatterritorium entledigt hatten (Begleichung von Schulden, Militärdienst). Die liberale Haltung zur Auswanderung, die sich seit den 1840er Jahren auch in der staatlichen Unterstützung von Auswanderungswilligen und einer relativ großen Toleranz gegenüber den Aktivitäten von Werbern und Agenten äußerte, „fügte sich in eine Reihe von ... bevölkerungs- und sozialpolitischen Maßnahmen ein, mit denen die Regierung ... versuchte, die ständisch-hierarchische Agrargesellschaft über die Pauperismuskrise hinwegzuretten“ (322). In noch stärkerem Maße als andere deutsche Staaten griff Braunschweig um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch zum Mittel der Abschiebung von Strafgefangenen nach Übersee, ehe massive Proteste der US-amerikanischen und britisch-kanadischen Behörden das Herzogtum nötigten, die Abschiebepraxis in den 1870er Jahren einzustellen.

Obwohl die Auswanderungspolitik primär von finanziellen und ökonomischen Interessen geleitet war, gesteht ihr Pohlmann auch „humanitäre“ Motive zu (274, 307). So arbeitete die braunschweigische Regierung eng mit den Behörden in den Auswanderungshäfen Bremen und Hamburg zusammen, machte deren Schutzbestimmungen für Auswanderer im Herzogtum publik und beaufsichtigte die ansässigen Agenten. Außerdem kooperierte Braunschweig mit den Deutschen Gesellschaften und anderen Hilfsvereinigungen für Auswanderer in den USA, hielt sich durch die Berichte der seit 1842 eingerichteten braunschweigischen Konsulate über die Lage der Auswanderer auf dem Laufenden und sorgte für die Verbreitung dieser Informationen. Pohlmann kommt zu dem Schluss, dass die Maßnahmen der Regierung „im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend zur Rechtssicherheit für die Fortziehenden beitrug[en], womit ein beachtlicher Grad an Kalkulierbarkeit des Reiserisikos erreicht wurde.“ (325)

Ausführlich dargestellt werden ferner die Auswanderungs- und Kolonialdiskussion in der Publizistik, die Resonanz der Kolonisationsprojekte des Mainzer „Adelsvereins“ in Texas und der Braunschweiger Unternehmer Friedrich Carl Ludwig Koch in Michigan und Hermann Blumenau in Südbrasilien sowie weitere staatliche und private Werbeaktivitäten im Herzogtum. Wie andere Studien kommt auch Pohlmanns Arbeit zu dem Ergebnis, dass briefliche Informationen und die Unterstützung von Angehörigen, Freunden und ehemaligen Nachbarn wesentlich größeren Einfluss auf die Auswanderungsentscheidung hatten als staatliche Werbungen oder die Propaganda privater Unternehmer für ihre überseeischen Kolonisationsprojekte.

Insgesamt handelt es sich um eine informative und materialreiche Arbeit, die mit ihrer etatistischen, institutionengeschichtlichen Perspektive allerdings weitgehend den Fragestellungen verpflichtet bleibt, die Günther Moltmann, Wolfgang von Hippel u.a. in den 1970er und 1980er Jahren formuliert haben. Die Erkenntnisse früherer Arbeiten zum Einfluss von Werbung und brieflicher Information, zur Organisation des Passagiertransports und zu den Leitlinien staatlicher Auswanderungspolitik werden im wesentlichen bestätigt und am Braunschweiger Material vertieft. Fragen der jüngeren Migrationsforschung, inwieweit sich Auswanderung als „Investitionsstrategie“ charakterisieren lässt und welche Auswirkungen sie auf die ländliche Gesellschaft hatte, bleiben weitgehend ausgespart. Von den im Entstehen begriffenen Dissertationen Stephan Hucks zu den braunschweigischen Truppen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, Sabine Heerwarts zur Auswanderung aus Wolfshagen und Gabriele Strathmanns zur Sozialgeschichte der Migration aus Ganderheim und Holzminden sind also noch wichtige Ergänzungen zu erwarten.

Eine Schwäche von Pohlmanns Arbeit liegt zudem darin, dass der Begriff der „Öffentlichkeit“ nicht problematisiert wird. Dimensionen und Wandel einer „bürgerlichen Öffentlichkeit“ im Herzogtum Braunschweig zwischen dem frühen 18. und späten 19. Jahrhundert bleiben ebenso diffus wie die Formen dörflicher Öffentlichkeit und deren obrigkeitliche Durchdringung. Zahlreiche anschauliche Quellenzitate bereichern einen Text, der an manchen Stellen etwas holprig wirkt (z.B. S. 72: „begrenzte Anschauungen von Amerika“; S. 75: „das gleichzeitige Hochfahren der Repressionsmaßnahmen“; S. 96: „Fortziehungswillige“; S. 98: „den fürsorgelasttragenden Gemeinden“) und sich manchmal den bürokratisch-distanzierenden Duktus der obrigkeitlichen Behörden zu eigen macht (S. 87: „Einsickern von Besitzlosen“; S. 118: „liederliche Frauenzimmer“). Alles in allem handelt es sich um eine solide, konventionelle Territorialgeschichte, die einen fundierten Überblick über die braunschweigische Auswanderung bietet, aber konzeptionell kein Neuland betritt.

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