M. Bradley (Hrsg.): Classics and Imperialism in the British Empire

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Titel
Classics and Imperialism in the British Empire.


Herausgeber
Bradley, Mark
Reihe
Classical Presences
Erschienen
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
€ 84,98
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Altmann, Korb

Premierminister Harold Macmillans letzte Monate im Amt verliefen turbulent. 1957 als Lichtgestalt der Tories auf den Schild gehoben, zog sich sein Abschied von der Macht quälend in die Länge. Nach einem Jahrzehnt erdrückender konservativer Dominanz erschütterten Anfang der 1960er-Jahre Skandale die britische Regierung, die zur selben Zeit auch außen- und sicherheitspolitisch in schwieriges Fahrwasser geriet. Im April 1963 porträtierte das Satiremagazin „Private Eye“ den Premierminister als römischen Senator, der sich mit leichtgeschürzten Gespielinnen verlustierte, anstatt das taumelnde Imperium vor dem Untergang zu retten.1 Diese opulente Szenerie spätrömischer Dekadenz war nicht nur als sarkastische Abrechnung mit dem Verhalten der Regierung in der Profumo-Affäre zu verstehen. Historiographisch Versierte erkannten darin auch die visuelle Engführung von Edward Gibbons Monumentalwerk „The History of the Decline and Fall of the Roman Empire“ auf den unter Macmillan beschleunigten Prozess der Dekolonisation. Die politische Klasse des Vereinigten Königreichs musste sich den wenig schmeichelhaften Vergleich mit den von Gibbon im 18. Jahrhundert so wirkungsvoll bloßgestellten Konkursverwaltern des römischen Imperiums gefallen lassen. „Private Eye“ nutzte demnach jene „important didactic role“ (S. 17), die Mark Bradley in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband den antiken Weltreichen im imperialen Diskurs Großbritanniens attestiert. Die Autorinnen und Autoren des Bandes werfen einen interdisziplinären Blick auf die Antikenrezeption im Wechselspiel mit den praktischen Anforderungen und legitimatorischen Bedürfnissen einer imperialen Nation vor 1914.

Kostas Vlassopoulos erkennt den geistesgeschichtlichen Unterbau des im 19. Jahrhundert pseudowissenschaftlich aufgeputzten Rassismus in der griechischen wie römischen Konstruktion der Barbaren als den gänzlich Anderen im Zivilisationsdiskurs der Antike. Andererseits bot die schottische Aufklärung schon im 18. Jahrhundert eine Alternative zu einem besinnungslos wuchernden Empire, nämlich den Handel, der die Menschheit insgesamt auf die Bahn des Fortschritts lenke. Dennoch setzte sich Rama Sundari Mantena zufolge einstweilen das römische Modell für den Umgang mit fremden Kulturen durch. Charles Trevelyan, für kurze Zeit Gouverneur von Madras, empfahl den Indern mit paternalistischem Zungenschlag das Beispiel der einst von Rom unterworfenen Völker, die langfristig von dieser zunächst zweifelsohne ungleichen Beziehung profitiertet hätten. Nach der indischen Rebellion von 1857 verdüsterte sich freilich diese selbstgewisse britische Projektion antiker Lehren auf den Subkontinent.

Debbie Challis’ bemerkenswerter Beitrag wirft ein grelles Schlaglicht auf die rassistischen Untertöne beim Studium der antiken Mittelmeerwelt. Die von Johann Joachim Winckelmann forcierte Idealisierung des menschlichen Körpers in der griechischen Kunst führte zu einem fatalen Kurzschluss von physischer Schönheit und rassischer Überlegenheit. Die apollinisch schönen Züge griechischer Skulpturen als „perfect example of racial purity and aesthetic nobility“ (S. 112) verbürgten obendrein scheinbar die freiheitsliebende Kultur der attischen Poleis. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die britische Gesellschaft dann von Kontroversen über die Bedeutung von rassischen Unterschieden förmlich überrollt. Die Furcht vor einer Vermischung mit den kolonialisierten Ethnien, aber auch die Angst vor einer sozialen Degeneration im Kontext der Industrialisierung befeuerte hitzige Debatten über den Einfluss der keltischen Randvölker, jüdischer Immigranten und einer kriminellen Unterschicht auf den Zusammenhalt der britischen Gesellschaft. Der einflussreiche Zoologe Robert Knox zog aus diesem toxischen Gebräu gar den Schluss, dass Großbritannien aus Sorge um die Reinheit der angelsächsischen Rasse seine imperiale Mission hintanstellen müsse. Challis sieht in der populärwissenschaftlichen Verballhornung von Charles Darwins 1859 publizierten Thesen zur Evolution nur mehr eine Intensivierung einer längst entbrannten Debatte.

Mark Bradley befasst sich mit einer kurzen, aber wirkungsmächtigen Sentenz aus Tacitus’ „Agricola“. Der römische Geschichtsschreiber lässt dort den kaledonischen Feldherrn Calgacus ausrufen: „Sie schaffen eine Wüste und nennen es Frieden.“ Dieses Verdikt über die Besatzungsmacht steht im Kontext der ersten britischen Auseinandersetzung mit einem Imperium und wurde zu einer Art Memento für jene, die das Empire über den Tag hinaus in weitere historische Zusammenhänge rückten. Francis Bacon hatte 1605 die dann im 19. Jahrhundert geläufige, jedoch von dem englischen Philosophen und Staatsmann falsch übertragene Formel imperium et libertas in den Wortschatz der imperialen Selbstvergewisserung eingespeist. Sie wurde zu einem Schlagwort, das beispielsweise Premierminister Disraeli auf dem Höhepunkt des Zweiten Afghanistankriegs 1879 benutzte, um das ambivalente, in der Konsequenz für die Betroffenen jedoch befreiende Wirken des Empire moralisch zu dimensionieren.

Adam Rogers und Richard Hingley führen das gegen Ende des 19. Jahrhunderts neu aufflammende Interesse an Edward Gibbons Verfallsgeschichte des römischen Imperiums auf die wachsenden Selbstzweifel Großbritanniens zurück. Wie in der Schlussphase der Regierung Macmillan, so diente der Rekurs auf Gibbon auch um 1900 als „cautionary tale“ (S. 206) für ein Land, das seine Kräfte zu überspannen und den Anschluss an dynamischere Gesellschaften – in beiden Fällen handelte es sich um die Vereinigten Staaten und Deutschland – zu verlieren drohte. Die USA schickten sich an, in die Fußstapfen ihres früheren Mutterlands zu treten. Margaret Malamud verweist in ihrem lesenswerten Aufsatz über diese translatio imperii auf die Ironie, die aufscheint, wenn man Calgacus’ düstere Mahnung an die kaledonischen Truppen vor dem Hintergrund der amerikanischen Revolution liest: Die Rebellen von 1776 eiferten ihren glücklosen „britischen“ Ahnen nämlich darin nach, das Joch der Fremdherrschaft auch um den Preis des eigenen Untergangs abzuschütteln. Und in dem Maße, in dem die USA Ende des 19. Jahrhunderts ihre imperialen Ambitionen in die Karibik und über den Pazifik lancierten, erfuhr die römische Geschichte eine spürbare Aufwertung in öffentlichen Debatten. Vor dem Bürgerkrieg noch als Brutstätte der Dekadenz verschrien, avancierte Rom nun etwa mit Blick auf öffentliche wie private Bauten zum Maß der Dinge. Die goldene Ära der römischen Imperatoren sollte etwas von ihrem Glanz auf die neue Weltmacht strahlen lassen und so „vulgar capital into cultural capital“ (S. 273) verwandeln.

Der Streit um Beutekunst, der die Berliner Nofretete ebenso mit gewisser Regelmäßigkeit überschattet wie die berühmt-berüchtigten Elgin Marbles im Britischen Museum, führt auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Wechselwirkung zwischen Antikenrezeption und dem imperialem Ausgreifen nach Übersee plastisch vor Augen. Die Vereinnahmung des antiken Erbes als Unterpfand für den Imperialismus des 19. Jahrhunderts wird in den Beiträgen zum vorliegenden Sammelband kenntnisreich und mit großer Umsicht analysiert. Dabei nehmen die Autorinnen und Autoren vor allem auch die Rückwirkung des imperialen Diskurses auf die Altertumsforschung ins Visier und zeigen, wie das Interesse an historischer Legitimation der imperialistischen Politik zum erkenntnisleitenden Interesse bei der Erforschung antiker Imperien werden konnte.

Anmerkung:
1 Richard Ingrams (Hrsg.), The Life and Times of Private Eye 1961-1971, London 1971, S. 76f.