A. Rutz (Hrsg.): Das Rheinland als Schul- und Bildungslandschaft

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Titel
Das Rheinland als Schul- und Bildungslandschaft (1250-1750).


Herausgeber
Rutz, Andreas
Reihe
Beiträge zur historischen Bildungsforschung 39
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 47,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Andrea De Vincenti, Pädagogische Hochschule Zürich Email:

Spatial turn, so schrieb Karl Schlögel vor bald zehn Jahren, bedeute nichts anderes als die gesteigerte Aufmerksamkeit für die räumliche Seite der geschichtlichen Welt – nicht mehr, aber auch nicht weniger.1 Seine Einschätzung, der Raum müsse als Kategorie der historischen Forschung wieder vermehrt Beachtung finden, wird von anderen Historikern und Historikerinnen durchaus geteilt und hat in der historischen Forschung auch bereits Früchte getragen.

An das Paradigma des Raumes schließt auch Andreas Rutz mit dem von ihm herausgegebenen Sammelband „Das Rheinland als Schul- und Bildungslandschaft (1250-1750)“ an. Die Publikation, die 2007 mit einer Tagung in Bonn vorbereitet wurde, begreift die Schul- oder Bildungslandschaft als eigentliches „Forschungskonzept“ (S. 7), welches mit zehn Beiträgen an konkreten Fallbeispielen erprobt wird. Der Herausgeber formuliert vor dem Hintergrund der im Vorwort beklagten Abwesenheit eines Handbuches zur rheinländischen Bildungsgeschichte den Anspruch, mittels einer systematischen und epochenübergreifenden Diskussion zur Schul- und Bildungsgeschichte im Rheinland „wichtige Grundlagen und Anknüpfungspunkte für künftige Untersuchungen“ (S. 9) zu liefern. Zur Einlösung dieses Anspruchs trägt neben der Vielfalt der Beiträge sicherlich auch die ausführliche und übersichtlich nach thematischen Gesichtspunkten gegliederte Bibliographie am Ende des Bandes bei.

In der Einführung umreißt Andreas Rutz das Forschungskonzept in Abgrenzung zu vorgängigen Versuchen, Schul- und Bildungslandschaften quantitativ, konfessionell oder territorial zu fassen. Er bezeichnet die bisherigen Forschungsansätze als „inhaltlich und methodisch unzureichend“ (S. 21), weil sie in erster Linie Einzelphänomene (zum Beispiel Universitäten oder das höhere Bildungswesen) diskutierten und es damit verpassten, „die räumliche Dimension von Schule und Bildung in der Vormoderne insgesamt“ (S. 22) in den Blick zu nehmen. Vielmehr müssten, so Rutz, Bildungsinstitutionen wie Bibliotheken und Sammlungen, nichtschulische Bildungsformen wie Katechese, Autodidaxie und Berufsbildung oder auch bildungskulturelle Phänomene wie Buchdruck, Zeitungen, Alphabetisierung und Leseverhalten systematisch in die Diskussion um Bildungslandschaften mit einbezogen und ihre wechselseitige Bedingtheit untersucht werden. Gleiches gelte außerdem für den Bereich des Elementarschulwesens. Es ist Stefan Ehrenpreis, selbst Autor im Sammelband, der in seinem Beitrag auf die begrenzte Anschlussfähigkeit des Bildungsbegriffs außerhalb Deutschlands, die darin eingeschriebene neuhumanistische Hybris und den im Hinblick auf die Frühe Neuzeit anachronistischen Charakter desselben hinweist und diesen deshalb als „analytisch ungeeignet“ (S. 296) bezeichnet. Nichtsdestotrotz ist das Konzept, entlang thematischer Parameter nach Landschaften, also räumlicher Ausdehnung derselben zu fragen, ein innovativer und attraktiver Forschungszugang.

Ein erstes, drei Studien umfassendes Kapitel ist den Institutionen ‚Schule und Universität‘ gewidmet. Kurt Wesoly zeigt in seinem quellengesättigten Beitrag über das Elementarschulwesen die Nachfrage in der Bevölkerung nach elementarer deutscher Bildung vor allem in den Kulturtechniken, aber auch im Katechismus auf. Er verweist dabei auf entscheidende Impulse aus der Reformation und dem Humanismus, später auch auf den Einbezug der Bauern in die Verwaltungstätigkeit, wo Lesen, Schreiben und Rechnen Schlüsselkompetenzen darstellten. Die Schullandschaft zeichnete sich jedoch durch lokale Praktiken aus und war somit heterogen. Wie Wesoly kommt auch Karl Härter mit Blick auf die Normsetzung im Schul- und Bildungsbereich zu dem Schluss, dass sich ein einheitlicher rheinischer Bildungsraum nicht behaupten lasse. Vielmehr seien die Befunde für das Rheinland in einen überterritorialen Bildungsdiskurs einzuordnen. Er unterstreicht, dass die Schulen nicht nur im Rahmen der Konfessionalisierung, sondern auch zum Zweck guter Ordnung und Policey eingerichtet und unterhalten sowie die Schulordnungen zusehends aus den Kirchenordnungen ausgegliedert und vermehrt in ordnungspoliceylichen Einzelgesetzgebungen geregelt wurden. Andreas Freitäger nimmt sich der Universitäten des Rheinlandes an und zeigt, wie die 1388 gegründete Universität Köln fast einhundert Jahre lang die einzige Hochschule der Region blieb und somit das Zentrum einer Bildungslandschaft darstellte, das erst durch die Gründungen in Trier und Duisburg in den Jahren 1473 und 1655 aufgebrochen wurde.

Weitere drei Beiträge des Sammelbandes werden unter dem Titel ‚Bildung und Konfession‘ subsumiert. Johannes Kistenich zeigt die Bedeutung der geistlichen Orden im öffentlichen Schulwesen auf. Aufschlussreich ist der Hinweis darauf, dass sich in der Frühen Neuzeit alte und neue Orden in den Dienst der katholischen Reform und der Gegenreformation stellten. Reformierte Bemühungen, das Schul- und Bildungswesen zu konfessionalisieren, gingen, das zeigt Gerhard Menk in seinem Beitrag, von den brandenburg-preussischen Landesherren in ihren niederrheinischen Besitzungen aus. Doch die starken lokalen, auch konfessionell unterschiedlichen Traditionen gerade im Elementarschulwesen verhinderten die Etablierung eines protestantischen Bildungsraumes. Der Beitrag von Birgit Klein thematisiert die jüdische Lehre, die in Bonn einen regionalen Kristallisationspunkt aufwies. Es waren vor allem Gelehrte aus Mainz, neben Speyer und Worms eines der Zentren jüdischer Gelehrsamkeit, die dort lehrten.

Der nächste Abschnitt ist dem Thema ‚Sprache und Medien‘ gewidmet. Manfred Groten beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der pragmatischen Schriftlichkeit in Kanzleien. Bis 1500 könne von einer relativen Einheitlichkeit der Schrift ausgegangen werden. Mit der Einführung des deutschen Schriftgebrauchs und dem Zuzug von Gelehrten in die Kanzleien sei diese Homogenität allerdings aufgebrochen worden. Wolfgang Schmitz und Wolfgang Schmid behandeln das Verlags- und Bibliothekswesen und stellen diese als Mittler respektive als Speicher für Bildung und Wissen in der Region dar.

Eine übergreifende Perspektive nimmt schließlich Stefan Ehrenpreis ein. Er fokussiert das ausgeprägte Interesse an Alphabetisierung und Bildung in der ländlichen Gesellschaft und deutet dabei konfessionelle Gegensätze als Movens des vormodernen Schulwesens. Er plädiert dafür, die frühneuzeitliche Institution Schule als „Bestandteil eines übergeordneten Literalisierungsprozesses zu beschreiben, der familiäre Sozialisationsbedingungen, soziale Verhaltensnormierungen, kulturelle Kommunikationsformen und den politisch-sozialen Diskurs mit umfasst“ (S. 299). Ehrenpreis sieht die Universitäten in außerregionale Netzwerke eingebunden und fokussiert daher im Hinblick auf die Schul- und Bildungslandschaft das höhere und niedere Schulwesen. Humanismus und Kirchenreformation beeinflussten dabei nicht nur das Schulwesen sondern auch das geistige Klima; daneben spielten landesherrliche Bemühungen zur Etablierung einer fürstlichen Bildungspolitik im 16. Jahrhundert eine Rolle. Mit der Konfessionalisierung differenzierten sich auch je eigene pädagogische Theorien aus und so sei die Katechese in den Mittelpunkt der Erziehung gerückt. Ein flächendeckendes Unterrichtsangebot in Lesen, Schreiben und Rechnen auch in ländlichen Gebieten wird als Leistung der Konfessionalisierungsepoche dargestellt.

Das Verständnis des Rheinlandes als eine einheitliche Schul- und Bildungslandschaft findet in den Beiträgen also kaum eine Bestätigung, viele kleinräumigere (zum Beispiel die konfessionell geprägte, lokale Elementarschullandschaft) oder auch großräumigere (zum Beispiel Netzwerke der Universitäten und Studierenden) Landschaften treten hervor, was deutlich macht, dass hinsichtlich der systematischen Bearbeitung bildungshistorischer Themen im Rahmen des Raumparadigmas immer noch eine Forschungslücke klafft. Wie bei Periodisierungen kann auch bei der Untersuchung von Schul- und Bildungslandschaften nicht davon ausgegangen werden, dass sich aus jedem Parameter dieselben Zäsuren oder Grenzen ergeben. So wären analog zu den gerade im Zuge des cultural turn thematisch aufgebrochenen Epochenbildungen auch unterschiedliche thematische, mehr oder weniger weit ausgreifende Landschaften in den Blick zu nehmen. Dies gelingt, wenn eben nicht das Rheinland als Landschaft vorausgesetzt, sondern Räume konsequent aus dem Quellenmaterial abgeleitet und entlang der je untersuchten Forschungsgegenstände dargestellt und erst dann auf ihre Überlappungen und Deckungsungleichheiten hin überprüft werden. Damit wäre aber weniger die in der Einleitung angesprochene wechselseitige Bedingtheit der unter dem Begriff des Bildungsraumes zusammengefassten Parameter konstituierendes Kriterium der Landschaften, sondern vielmehr die empirisch festgestellte Ähnlichkeit von Praktiken und institutionellen Formen. Insgesamt liegt mit ‚Das Rheinland als Schul- und Bildungslandschaft‘ ein von einem innovativen Forschungskonzept geklammerter, vielseitiger und anregender Sammelband vor, dessen Lektüre sich gerade im Hinblick auf eine weitere systematische Bearbeitung des Forschungskonzeptes mit Sicherheit auch außerhalb des Rheinlandes lohnt.

Anmerkung:
1 Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003, S. 68.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/