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Titel
Der gerichtliche Zweikampf. Gottesurteil – Wettstreit – Ehrensache


Autor(en)
Neumann, Sarah
Reihe
Mittelalter-Forschungen 31
Erschienen
Ostfildern 2010: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
268 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Jaser, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

Sarah Neumann markiert mit ihrer Studie zum gerichtlichen duellum des Mittelalters, die 2008 als Dissertation an der Universität Oldenburg angenommen wurde, eine wichtige Zwischenetappe der mediävistischen Zweikampfforschung. Sie räumt ebenso sachdienlich wie begrüßenswert mit der rechtshistorischen „Sehnsucht nach Eindeutigkeit“ (S. 21) auf, die mittelalterliche Zweikampfpraktiken in ein Korsett aus Definitionen und Typologisierungen einzuzwängen suchte und daran fortschrittsoptimistische Entwicklungshypothesen wie etwa einen Ausbruch des Zweikampfs aus der vermeintlichen Irrationalität des Gottesurteils anknüpfte.1 Gegen diesen simplifizierenden Zugriff einer historischen Rechtssystematik betont Neumann in ihrer diachron angelegten „Bestandsaufnahme der Bedeutungsvarianten des gerichtlichen Zweikampfs“ (S. 30) mit Recht, dass „sich das duellum durch Mehrdeutigkeit und gerade nicht durch Eindeutigkeit auszeichnet“ (S. 27). Denn dieses vielschichtige und variantenreiche historische Phänomen lässt sich keinesfalls in einem entschiedenen Entweder-Oder monolithischer Klassifikationen, sondern nur in der Interaktion von Wahrnehmungs- und Deutungsebenen – Gottesurteil, Wettstreit, Ehrensache – hinreichend interpretieren, wie bereits der differenzierende Untertitel von Neumanns Arbeit nahelegt. Indem die Autorin konsequent der Analyse von Rechtsnormen die Auswertung historiographischer und literarischer Narrative zur Seite stellt und damit den „Mechanismen der erzählerischen Sinnstiftung“ (S. 30) breiten Raum gewährt, bewahrt sie ihren Gegenstand vor dem Irrweg einer dezidiert essentialistischen Lesart und nimmt stattdessen wechselseitige Durchdringungen und Bruchlinien beider Quellentypen in den Blick.

Im Zuschnitt ihres Untersuchungsfeldes bemüht Neumann ein ambitioniertes grand tableau, wie es gegenwärtig bei Dissertationen nur noch selten anzutreffen ist: In zeitlicher Hinsicht deckt sie das gesamte Mittelalter von den frühmittelalterlichen leges bis zu den „Ritter[n] von sehr trauriger Gestalt“ (S. 218) der beginnenden Neuzeit ab, während der räumliche Horizont das Reich, Frankreich, England und Skandinavien umfasst. Gegliedert ist der Hauptteil der Arbeit nach vier W-Fragen: „Wo, wie und warum wird gekämpft und wer sind die Kombattanten“ (S. 30)? Im ersten Analyseabschnitt geht die Autorin nicht nur den Rechtsräumen und typischen Schauplätzen des gerichtlichen Zweikampfes nach, sondern rückt auch das traditionelle Bild, sowohl die Stadt als auch die Kirche seien kategorische Duellfeinde gewesen, zugunsten eines eher ambivalenten Meinungsspektrums zurecht. Die Verlaufsformen des Zweikampfs stehen im Mittelpunkt des zweiten Fragekomplexes. In der Zusammenschau von Regelwerken, die den Zweikampf als Rechtsmittel, Sakralhandlung oder Wettkampf ausweisen, und narrativen Schilderungen treten Interdependenz- und Transformationslogiken zutage, die im Gefährdungsmoment des Regelverstoßes zusätzlich akzentuiert werden. Den Gründen für den Einsatz des duellum als Beweis- und Rechtsmittel spürt Neumann in der dritten Etappe ihres Fragekataloges nach: Privat- und strafrechtliche Delikte – Auseinandersetzungen um Besitzrechte an Grund und Boden, Raub, schwere Körperverletzung oder Mord – werden dabei genauso diskutiert wie die typischen Konfliktstrukturen um Treubruch und Verrat, die in der erzählenden Literatur regelmäßig mit spezifischen Vorstellungen von Ehre und Reputation verknüpft werden. Den Abschluss des Hauptteils bildet der Blick auf Identifikationsmuster, Wertvorstellungen und Distinktionsinteressen derjenigen Personen, die in die Schranken des Kampfplatzes eintreten oder darüber verhandeln. Die erwartbar enge Verbindung von duellum und adlig-ritterlichem Standesbewusstsein ist in der Dichtung und Chronistik ebenso gegenwärtig wie hierarchische Binnendifferenzierungen zwischen Herren und Vasallen, Ritterbürtigen und Aufsteigern. In diese aristokratische Logik des Zweikampfs, der – abgesehen von entlohnten Kampfesstellvertretern – nur von der funktional und moralisch definierten Elite der bellatores adäquat ausgeführt werden kann, gliedern sich implizit auch inversive literarische Sujets ein, die kämpfende Bauern, Bürger, Juden und Frauen präsentieren. Insofern fungiert der Zweikampf in den erzählenden Quellen als Instrument sozialer Integration oder Ausgrenzung, das in einem fiktionalen Aushandlungsraum seinerseits die etablierte geistliche und weltliche Ordnung reproduziert und stabilisiert.

Freilich bringt die auf den ersten Blick durchaus überzeugende Architektur der Arbeit bei genauerem Hinsehen nicht unerhebliche Kosten mit sich. Zwar gelingt die avisierte Bestandsaufnahme der Bedeutungsvarianten, die – so Neumanns durchaus vorhersehbarer Befund – „sowohl dem Gesetz der Tradition als auch dem Diktat des Wandels unterworfen“ (S. 215) sind und in der Schlussbetrachtung als Schnittmenge von Rechtsvorstellungen, Gesellschaftsbildern, Positionen und Ausdrucksformen resümiert werden. Allerdings bleibt der analytische Geländegewinn bei der sich aufdrängenden historischen Frage, welche spezifischen Funktionen, Bedeutungen und Eigenlogiken dem Zweikampf für bestimmte soziale Räume und soziokulturelle Milieus zukam, doch eher bescheiden. Verantwortlich hierfür ist das Zusammenhänge und Kontexte zerschneidende Trennungsdenken der W-Fragen, das beispielsweise keinen systematischen Zugriff auf mittelalterliche Städte als Rechtsräume, Austragungsorte, Konfliktschauplätze und Aufenthaltsorte potenzieller Zweikampfakteure erlaubt. Zwangsläufig verweist die Autorin regelmäßig auf die unscharfe Totale der „mittelalterlichen Kultur“ (S. 23), „mittelalterlichen Rechts- und Lebenswelt“ (S. 27), „mittelalterlichen Vorstellungen von Recht und Gesellschaft“ (S. 215) als analytischen Fluchtpunkt, setzt aber nur sehr zaghaft das Instrumentarium einer sozial- und kulturgeschichtlichen Feinanalyse an. Insofern bleibt auch ihr Erkenntnisinteresse, eine „Re-Interpretation des duellum unter kulturwissenschaftlichen Vorzeichen“ (S. 30) zu leisten, auf halber Strecke stehen. Hierfür hätte es einer konsequenteren Nahperspektive auf die agonalen Praktiken kleinerer sozialer Einheiten in Selbst- und Fremddeutung bedurft. Aus diesem Blickwinkel wäre vielleicht auch neu und unverkrampft über den historischen Wandel des mittelalterlichen Zweikampfs zum neuzeitlichen Ehrenduell nachzudenken, dem Neumann im Abwehrkampf gegen jegliche entwicklungsgeschichtliche Fragestellung zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. An dieser Stelle erscheint es besonders bedauerlich, dass Neumann zwar den Gerichtszweikampf mit Recht als „gesamteuropäisches Element des mittelalterlichen Rechts“ (S. 11) begreift, zugleich aber ohne weitere Begründung den südeuropäischen Raum ausspart. Denn die lebhafte italienische Duellforschung des letzten Jahrzehnts, namentlich eines Marco Cavina, konnte zeigen, dass Italien für die zukunftsweisenden Fortschreibungen des mittelalterlichen Zweikampfs eine Schlüsselrolle zukommt.2 Den gerichtlichen Zweikampf des Mittelalters und das neuzeitliche Ehrenduell als gemeinsames alteuropäisches Langzeitphänomen zu denken und in der Reziprozität von mikrogeschichtlichen Logiken und makrohistorischen Wandlungsprozessen zu begreifen, wird für die zukünftige Beschäftigung mit dem Untersuchungsgegenstand maßgebend sein. Hierfür hat Sarah Neumann eine bei allen genannten Defiziten höchst anregende, für den weiteren Gang der Forschung grundlegende Arbeit geschaffen.

Anmerkungen:
1 Der Generalmaßstab der ‚Rationalität‘ zur Bewertung historischer Phänomene steht auch vonseiten der Rechtswissenschaft selbst zunehmend in Frage. Vgl. Helge Dedek, Die Schönheit der Vernunft – (Ir-)Rationalität von Rechtswissenschaft in Mittelalter und Moderne, in: Rechtswissenschaft 1 (2010), S. 59–86.
2 Siehe Marco Cavina, Il sangue dell’onore. Storia del duello, Rom 2005; ders., Il duello giudiziario per punto d’onore. Genesi, apogeo e crisi nell’elaborazione dottrinale italiana (sec. XIV–XVI), Turin 2003.

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