P. Scholliers (Hg.): Food, drink and identity

Titel
Food, drink and identity. Cooking, eating and drinking in Europe since the middle ages


Herausgeber
Scholliers, Peter
Erschienen
Oxford 2001: Berg Publishers
Anzahl Seiten
223 S.
Preis
€ 21,25
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manuel Schramm, Sonderforschungsbereich 417, Universität Leipzig

Ist der Mensch wirklich, was er isst? Peter Scholliers und zehn weitere Autoren dieses Sammelbandes tun gut daran, das Lieblingszitat mancher Ernährungshistoriker 1 kritisch unter die Lupe zu nehmen: “This saying is surely a far-reaching, simplistic and imperious allegation” schreibt der Herausgeber (4). Scholliers bevorzugt gegenüber der bloßen Unterstellung, Essen sei per se identitätsbildend, einen konstruktivistischen Ansatz, der Ernährung als möglichen Baustein in Identifikationsprozessen betrachtet, wie z. B. bei religiösen Speiseverboten. Identifikation erscheint somit als dynamischer Konstruktionsprozess, in dem Identität über eine Kombination von Sprache und Praxis, durch Diskurse und Narrative hergestellt wird.

Mit diesem theoretischen Ansatz gehen die Autoren des Sammelbandes in sehr unterschiedlicher Weise um. Die Überlegungen des französischen Soziologen Claude Grignon zur Typologisierung von Mahlzeitengemeinschaften kann man getrost ignorieren, da sie nichts neues enthalten. Gleiches gilt für die historiographischen Betrachtungen von Amy Bentley über Nahrungsmittelunruhen. Die übrigen acht Aufsätze enthalten Fallbeispiele, vorwiegend aus mittel- und westeuropäischen Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie sind in zwei thematische Blöcke eingeteilt, nämlich erstens Klassen- und Gruppenidentitäten und zweitens nationale Identitäten. Carmen Sarasúa beschreibt anhand von Haushaltsrechnungen die Ernährung einer landadeligen Familie in La Mancha am Beginn des 19. Jahrhunderts. In diesem interessanten mikrogeschichtlichen Aufsatz kann sie zeigen, wie die klassenspezifische Ernährungsweise des spanischen Landadels von regionalen Gewohnheiten modifiziert wurde. Identität als diskursive Konstruktion kommt hier jedoch genauso wenig vor wie in dem Aufsatz von Michael Wildt, der den Wandel der Ernährung in der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er Jahren nachzeichnet und darin eine Abkehr von älteren proletarischen Konsummustern sieht. Das implizierte nach Wildt jedoch nicht das Verschwinden sozialer Ungleichheit, wohl aber verloren klassenspezifische Unterschiede an Gewicht. Ähnliche Prozesse lassen sich in Italien in den 1960er und 1970er Jahren beobachten, wie Paolo Sorcinelli feststellt. Zwischen 1900 und 1960 änderte sich die Ernährung der italienischen Arbeiter kaum. Der Mangel an Fleisch wurde dagegen von Mittelklassenideologen und besonders den italienischen Faschisten glorifiziert und als typisch italienisch dargestellt. Sorcinelli behauptet, diese Diskurse und Praktiken hätten zur Herausbildung einer italienischen Arbeiterklassenidentität beigetragen, ohne die Rezeption dieser Propaganda durch die italienischen Arbeiter zu thematisieren. Ähnlich problematisch erscheint die Schlussfolgerung Martin Bruegels, der in dem geringen Zuckerkonsum der französischen Arbeiter im 19. und frühen 20. Jahrhundert einen Beleg für die starke Autonomie der Arbeiterkultur sieht. Unklar ist jedoch, ob die französischen Arbeiter ihren Verzicht auf den ihrer Meinung nach unnützen Zucker wirklich als Ausdruck einer Klassenidentität ansahen, oder eher als pragmatische Sparmaßnahme im Rahmen knapper Haushaltsbudgets. Der an sich interessante Aufsatz von A. Lynn Martin beschäftigt sich mit dem Stereotyp der Alkohol trinkenden Alten in Europa zwischen 1300 und 1700 und steht damit thematisch in diesem Band allein. Insgesamt, so Martin, reflektiert dieses Heterostereotyp die Ambivalenz der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften gegenüber alten Menschen.

Die Aufsätze des zweiten thematischen Blockes nähern sich dem Verhältnis zwischen Nahrung und nationaler Identität aus unterschiedlichen Perspektiven. Inger Johanne Lyngø untersucht die Nationale Ernährungsausstellung in Oslo 1936, die den Versuch machte, norwegische Identität mit einer gesunden, vitaminreichen Ernährung zu verknüpfen. Kolleen Guy betrachtet die Auseinandersetzungen um die geographische Herkunftsangabe “Champagner” in Frankreich am Beginn des 20. Jahrhunderts. Dabei ging es in erster Linie zwar um die Definition einer Produktionsregion, aber die beteiligten Parteien appellierten in unterschiedlicher Weise an die Werte der Französischen Revolution, um ihre Forderungen zu begründen. Die ambivalenten Einstellungen der Algerier zu französischem Brot und algerischem Wein in den 1970er und 1980er Jahren sind das Thema des Beitrags von Willy Jansen. Beide Güter werden je nach sozialem Kontext sehr unterschiedlich gebraucht und bewertet. Zur Schaffung nationaler Identität (im positiven wie im negativen Sinn) sind sie damit allerdings ungeeignet.

Insgesamt ist dieser Band für die ernährungsgeschichtlich interessierten Historiker von hohem Wert, da er eine Reihe interessanter Fallstudien präsentiert. Wer sich allerdings im allgemeinen für die Bedeutung von Konsum für die Konstruktion von Identitäten interessiert, wird vom Fazit des Herausgebers leicht enttäuscht sein: “A main conclusion of this book would therefore simply be that food does matter to identity formation, but that sweeping claims in this respect must be avoided” (17). Auf dieser Ebene geht der Band nicht über die Erkenntnisse früherer Publikationen hinaus 2.

Anmerkungen:
1 Jakob Tanner, Der Mensch ist, was er isst. Ernährungsmythen und Wandel der Esskultur, in: Historische Anthropologie, Jg. 4, H. 3, 1996, S. 399-419; Donna Gabaccia, We are what we eat. Ethnic Food and the Making of Americans, Cambridge/Mass. 1998.
2 Vgl. Hans Jürgen Teuteberg/ Gerhard Neumann/ Alois Wierlacher (Hg.), Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven, Berlin 1997.

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