S. Korstian: Akteurinnen asymmetrischer Konflikte

Titel
Akteurinnen asymmetrischer Konflikte. Eine Studie zur nordirischen und palästinensischen Widerstandsgesellschaft


Autor(en)
Korstian, Sabine
Reihe
Frauen, Gesellschaft, Kritik ; Bd. 51
Erschienen
Freiburg im Breisgau 2010: Centaurus Verlag
Anzahl Seiten
363 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maike Majewski, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Bereits aus dem Titel wird ersichtlich, dass es sich bei der Studie von Sabine Korstian nicht nur um ‚Frauenforschung‘ zu Akteurinnen in den gewaltsamen Konflikten in Nordirland und Palästina handelt. In der Publikation ihrer Dissertation, in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Konfliktforschung in Marburg, geht es vielmehr auch um eine Analyse der „Widerstandsgesellschaft“ in asymmetrischen Konflikten. Mit dem Fokus auf die Kategorie „Geschlecht“ möchte Sabine Korstian dabei einen Beitrag leisten zum differenzierteren Verständnis der Dynamiken innerhalb dieses Teils der Konfliktgesellschaften, und damit auch der zwei exemplarisch ausgesuchten Konflikte. Sabine Korstian interessiert vor allem die wechselseitige Beeinflussung der „Lebenswelt Widerstandsgesellschaft“ durch die Frauen einerseits, und der Frauen durch die in der Gesellschaft vorhandenen Konstrukte und stattfindenden Diskurse andererseits. Sie geht davon aus, dass „Geschlecht“ als Ordnungsprinzip helfe, die Widerstandsgesellschaft zu verstehen, wenngleich diese Kategorie nicht ausreiche, um alle Phänomene zu erklären. Des Weiteren postuliert sie, dass politischer Widerstand, vor allem der gewaltsame, männlich gedacht wird und damit die ihn begleitende notwendige Mobilisierung von Frauen zu Spannungen führt. Und schließlich erwartet Korstian, dass die Erkenntnis, wie Geschlechterkonstruktionen von den Gegnern zur Abgrenzung voneinander eingesetzt werden, aufschlussreich für das Verständnis ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmung sei.

Für ihre Studie hat Sabine Korstian 60 semi-standardisierte Interviews mit Frauen geführt, die in diesen Konflikten als Akteurinnen agiert haben. Diese Frauen stehen als Individuen repräsentativ für das weibliche Geschlecht, wobei Korstian im Verlauf auch auf die Grenzen dieser Methode eingeht. Die ausgewählten Konflikte wiederum versteht sie als exemplarische Beispiele asymmetrischer Konflikte, in denen eine mit geringen Machtmitteln ausgestattete Gruppe innerhalb einer Gesellschaft gegen eine deutlich besser bewaffnete, organisierte und etablierte (staatliche) Seite gewaltsam kämpft. Doch auch wenn das Auswahlverfahren für die Interviewpartnerinnen in der Ethnologie und Soziologie des Nordirlandkonfliktes üblich ist (eine Kombination aus Kontakten zu lokalen NGOs und Empfehlungen), sehe ich es als Historikerin kritisch, denn es führt zu einer Dominanz einiger prominenter, häufig interviewter Personen über das überlieferte Geschichtsbild. Hierzu gehört unter anderem die Interpretation des Nordirlandkonfliktes als zweiseitigem Konflikt (RepublikanerInnen/ Britisch-Unionistischer Staat). Ebenso wie bei der sonst gängigen Darstellung der „Troubles“ als „ethnischem“ Konflikt (Protestanten/ Katholiken) wird so die jeweils andere Konfliktlinie in diesem damit mindestens dreiseitigen Konflikt übergangen. Da Sabine Korstian sich im Weiteren jedoch auf ihre deutlich differenziertere historische Darstellung bezieht, spielt diese problematische Simplifizierung für das Ergebnis nur eine untergeordnete Rolle.

Den historischen Kontext stellt Sabine Korstian im Wesentlichen entlang der gängigen politisch-ereignisgeschichtlichen Linie dar. Sehr kenntnisreich arbeitet sie die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der republikanischen und palästinensischen Widerstandsbewegung heraus und beleuchtet deren Wandel und interne Konflikte. Auch die Interaktion von Gewalt und Gegengewalt und von Akteur/innen und Widerstandsgesellschaft werden gut nachvollziehbar dargestellt. In einem zusammenfassenden Vergleich der beiden Konflikte stellt Korstian allerdings sehr richtig fest, dass die Unterschiede die Gemeinsamkeiten überwiegen.

Sabine Korstians Analyse geht von einem prozessualen Verständnis der Interaktionen zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung, Realitätserfahrung und interpretativen Konstrukten aus. Dies entspricht Erkenntnissen der neueren Konfliktforschung, die die Wirkungsmacht von sozialen Konstrukten und kollektiven Ideen, Interpretationen und Definitionen für die Wirklichkeiten unterschiedlicher Konflikte meines Erachtens sehr überzeugend dargelegt hat.1 Das grundlegende Thema von Korstians Analyse ist die Begrenzung und Entgrenzung des Konfliktgeschehens durch die Konfliktparteien. Diese beiden Begriffe nutzt sie recht überzeugend für eine generelle Analyse der Dynamiken der zwei Konflikte, bevor sie auf die Bedeutung der Kategorie „Geschlecht“ kommt. Auch hier geht es um Prozesse der Be- und Entgrenzung von Geschlechterrollen und -identitäten durch die gewaltsame Situation und durch die Konfliktparteien. Aber auch die Veränderung und Nutzung der Genderrollenerwartungen durch die Akteurinnen, sowie die damit entstehenden Spannungen und Ambivalenzen werden eingehend beleuchtet. Etwas kurz kommt dagegen die abschließende Analyse des Verhältnisses der Akteurinnen zur - auch durch ihre Aktionen vorangetriebenen - Reproduktion des Krieges sowie ihrer Einstellung zu den konkreten Ansätzen für die Schaffung von Frieden in den Regionen.

Im Vergleich der zwei Beispiele Nordirland und Palästina arbeitet Sabine Korstian, entsprechend der kulturellen und historischen Besonderheiten der Fälle, deutliche Unterschiede in den Diskursen und den Wandlungsprozessen heraus. Plausibel kommt sie aber zu dem Schluss, dass in beiden Fällen Prozesse der Entgrenzung von Gewalt zu begrenzteren Geschlechterrollen führten, während dies zugleich einzelnen Akteurinnen erlaubte, als Kämpferinnen Grenzen zu überschreiten. So führte zum Beispiel die Logik der Begrenzung der „In-Group Widerstandsgesellschaft“ zu strengeren Konformitätserwartungen, unter anderem in Hinblick auf traditionelle Frauenbilder. Zugleich entgrenzte die Abwesenheit der gefallenen oder inhaftierten Männer den Aktionsradius von Frauen, wenn sie als Hinterbliebene deren Aufgaben mit erfüllen mussten und durften. Außerdem fand eine Entgrenzung der Handlungen der „Widerstandsbewegung“ gegen echte und vermeintliche Feinde im Inneren statt. Und auch das Bemühen von staatlicher Seite, den Konflikt zu begrenzen, verwischte zum Beispiel bei Razzien die Trennung zwischen öffentlichem (politischem) und privatem (‚weiblich’-häuslichem) Raum. Im Gegenzug diente gerade die Entgrenzung der Geschlechterrollen dem Widerstand, wenn Frauen in den bewaffneten Kampf einbezogen wurden. In solchen Fällen erweiterte sich nicht nur zahlenmäßig der Kreis der potentiellen Akteure. In ihrer weiblichen Rolle als moralische Instanz unterstützten die Frauen die Forderungen der Bewegung, während sie zugleich als „Zivilistinnen“ ihre vermeintliche Unschuld als Überraschungs- und Schockmoment nutzen konnten. Frauen waren damit keineswegs so friedfertig, wie es die traditionellen Rollen in ihrer Gesellschaft erwarten lassen würden, und unterstützten auch nicht notwendigerweise die Friedensbemühungen. Sabine Korstian belegt so, wie vielschichtig und zum Teil gegenläufig, ambivalent und spannungsvoll diese ineinander verwobenen Prozesse waren, innerhalb der Widerstandgesellschaft, aber auch unter den dort lebenden Frauen.

Insgesamt ist Sabine Korstians Buch sehr lesenswert für alle, die sich eingehender mit dem Nordirland- oder Palästinakonflikt oder mit Genderaspekten von Konflikten beschäftigen, nicht zuletzt wegen der vielen aussagekräftigen Zitate aus den Interviews.

Anmerkung:
1 Jacques Sèmelin, Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von Massakern und Völkermorden, Hamburg 2007 (Paris 2005); Stuart J. Kaufman, Resolution in Ethnic Wars. Escaping the Symbolic Politics Trap: Reconciliation Initiatives and Conflict, in: Journal of Peace Research 43 (2006), S. 201- 218; Paul Dixon, Northern Ireland. The Politics of War and Peace, 2. Üb. Aufl., Houndsmills 2008. u.a.

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