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Titel
Die Schuldfrage. Untersuchungen zur geistigen Situation der Nachkriegszeit


Herausgeber
Dutt, Carsten
Erschienen
Heidelberg 2010: Manutius Verlag
Anzahl Seiten
247 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara Wolbring, Historisches Seminar, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Wie gingen die Deutschen unmittelbar nach dem Ende des Krieges und des Nationalsozialismus mit der Last der Verbrechen um? Ein von Hitler-Deutschland angezettelter Krieg hatte Europa verwüstet; Kriegsverbrechen und insbesondere der Holocaust machten die Alliierten fassungslos, als sie bei der Befreiung der Konzentrationslager das Ausmaß der Taten sahen. Deutsche hatten diese Verbrechen geplant, angeordnet und ausgeführt – die insofern nicht bloß einzelnen Tätern vorgeworfen wurden, sondern daneben als ein Stigma auf Deutschland und allen Deutschen lasteten. „Fast die gesamte Welt erhebt Anklage gegen Deutschland und gegen die Deutschen“, hat deshalb der Heidelberger Philosoph Karl Jaspers seine erste Nachkriegsvorlesung begonnen, die sich der „Schuldfrage“ widmete als „Einleitung zu einer Vorlesung über die geistige Situation in Deutschland“.1

Bereits der Titel des hier vorzustellenden neuen Sammelbandes bezieht sich auf diesen Schlüsseltext der Nachkriegsdebatte, und auch in den einzelnen Beiträgen wird der Bezug zu Jaspers immer wieder hergestellt. Die Aufsätze, die aus einer Vortragsreihe am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg hervorgegangen sind, sollen den Diskurs über die Schuldfrage für die frühen Nachkriegsjahre differenzierter vermessen (Vorwort, S. 10). Dabei wird auch bekanntes Terrain abgeschritten, wenn Wortführer des Diskurses wie Hannah Arendt, Julius Ebbinghaus, Dolf Sternberger oder Ernst Jünger vorgestellt werden. Neuland betreten teilweise diejenigen Beiträge, die literarische und künstlerische Auseinandersetzungen mit erlebtem Schrecken, mit individueller Schuld und dem Stigma der nationalen Schande untersuchen. Christmut Präger ist auf die Suche gegangen nach bildnerischen Verarbeitungen der Kriegsgräuel und der nationalsozialistischen Verbrechen. Er präsentiert eine Reihe graphischer Werke, die meist nicht in den damaligen kulturpolitischen Zeitschriften, sondern in Mappen veröffentlicht wurden. Sie sind inzwischen weitgehend in Vergessenheit geraten, weil die künstlerischen Ausdrucksformen wenig innovativ waren. Dennoch meldet Präger unter Hinweis auf diese Kunstwerke Widerspruch an gegen das gängige Urteil, die bildende Kunst habe die Realität des Schreckens von Krieg und Nazi-Terror ausgeblendet. Der Autor belässt es weitgehend dabei, die Künstler mit ausgewählten Arbeiten vorzustellen, und enthält sich eines politisch-moralischen oder auch künstlerischen Urteils.

Demgegenüber geht es Jürgen Schröder in seinem Beitrag über die deutsche Lyrik der frühen Nachkriegsjahre durchaus um ein Urteil. Auch er untersucht heute weitgehend vergessene Künstler, denen seit den 1950er-Jahren das Beschweigen der Katastrophe bei sonstiger Redseligkeit und damit eine Entlastungsabsicht vorgeworfen wird. Nach mehr als einem halben Jahrhundert sei es an der Zeit, „die damals maßgeblichen Autoren und Gedichte noch einmal zu lesen und zu prüfen“ (S. 147). Es handelt sich dabei für Schröder auch um ein Wiederlesen und Überprüfen eigener, 1971/72 in einer Vorlesung vertretener Urteile. Dabei werden die damaligen Einschätzungen, wenn auch „etwas kühler“ (S. 148), bestätigt und insofern erweitert, als die „lyrischen und ethischen Einseitigkeiten, Mißgriffe und Mängel“ (S. 164) nicht nur einzelnen Dichtern vorgeworfen, sondern als Ausdruck einer kollektiven Befindlichkeit gewertet werden.

Die Verschiedenheit der Zugänge von Präger und Schröder und daraus resultierend ihr sehr unterschiedliches Urteil entspricht auch insgesamt dem Verhältnis der Beiträge untereinander. Damit spiegelt dieser Band die Disparität des Forschungsdiskurses, der oft mehr neben- als miteinander von Publizisten und Wissenschaftlern verschiedener Fachkulturen und Nationalitäten bestritten wird. In diesem Fall stammt die Mehrzahl der Beiträge von Germanisten; daneben sind zwei Philosophen, ein Kunsthistoriker und ein Historiker vertreten. Der Nachkriegsdiskurs wird dabei in manchen Beiträgen implizit oder explizit weitergeführt, indem zeitgenössische Äußerungen nicht nur analysiert, sondern nach künstlerischen, politischen und ethisch-moralischen Kriterien bewertet werden. In seinem Beitrag zu den Begriffen „Befreiung, Zusammenbruch und Schuld“ bekennt sich beispielsweise Andreas Rothenhöfer dazu, dieser Aufsatz sei „nicht als völlig zweckfreie Wissenschaft“ zu verstehen, sondern als sprachwissenschaftlicher Beitrag zu jenem Diskurs, der sich „als Gegenentwurf zur fortgesetzten Verdrängung herausbildete“ (S. 60).

Ebenfalls symptomatisch für den Forschungsdiskurs ist eine sehr heterogene Rezeption der – zugegebenermaßen umfangreichen – Forschungsliteratur. Für Beiträge, die einzelnen Publizisten gewidmet sind, mag es sinnvoll sein, dass überwiegend aus den Quellen argumentiert wird. Verwunderlicher ist die sehr uneinheitliche Rezeption des Forschungsstandes etwa in der Frage, ob es einen Kollektivschuldvorwurf an die Deutschen gegeben habe. Die These, dies sei nicht der Fall gewesen, weil ein solcher Vorwurf nicht explizit in amtlichen Dokumenten enthalten sei, wird insbesondere in germanistischer Literatur immer noch weitergetragen2, obwohl eine Reihe von Einzelstudien inzwischen aufgezeigt hat, dass dieser Vorwurf in der Bildkampagne der Amerikaner transportiert wurde, die als eine erste Re-Education-Maßnahme Fotos aus den befreiten Konzentrationslagern mit einem expliziten Schuldvorwurf versah.3 Zudem war er in einer Reihe von Artikeln und Äußerungen enthalten und entsprach einer verbreiteten Meinung in der britischen und amerikanischen Öffentlichkeit.4 In manchen Beiträgen wird auf diese Literatur (wenigstens teilweise und kaum auf englischsprachige) verwiesen, und in der Einleitung wird die Faktizität des Kollektivschuldvorwurfs benannt (S. 8). Heidrun Kämper und Andreas Rothenhöfer bleiben hingegen dabei, der Schuldvorwurf sei eine deutsche Erfindung. Und Martin Tavakolian führt das 1945 überall in der amerikanischen Besatzungszone aufgehängte Plakat mit der Überschrift „Das ist Eure Schuld“, das mehrfach publiziert und zudem im Bonner Haus der Geschichte ausgestellt ist, sogar allein unter Hinweis auf seine Erwähnung bei Karl Jaspers ein und stellt es zudem unter konjunktivischen Realitätsvorbehalt (S. 65).

Keiner wird erwarten, dass bei einem solchen Thema alle Beiträger gleiche Positionen einnehmen oder zu ähnlichen Urteilen kommen. Doch es irritiert, wenn der Eindruck eines sehr unterschiedlichen Kenntnisstands der jeweiligen Autoren entsteht, wenn sie unterschiedliche Urteile und Positionen nicht benennen und sich nicht aufeinander beziehen. Haben die Autoren ihre Vorträge gegenseitig angehört? Haben sie miteinander diskutiert? Wenn den Leser der Verdacht beschleicht, dass vielleicht die Ergebnisse anderer Forscher, anderer Fächer oder eines anderen Sprachraumes nicht zur Kenntnis genommen werden, droht der Forschungsdiskurs in ein Nebeneinander von Monologen zu zerfallen.

Anmerkungen:
1 Karl Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946, wieder in: ders., Erneuerung der Universität. Reden und Schriften 1945/46, Heidelberg 1986, S. 113-213, hier S. 133.
2 Vgl. Art. „Kollektivschuld“, in: Thorsten Eitz / Georg Stötzel, Wörterbuch der „Vergangenheitsbewältigung“. Die NS-Vergangenheit im öffentlichen Sprachgebrauch, Hildesheim 2007, S. 371-395; Torben Fischer / Matthias N. Lorenz (Hrsg.), Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007, S. 43f.; Heidrun Kämper, Der Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte des sprachlichen Umbruchs nach 1945, Berlin 2005; Art. „Kollektivschuld“, in: Dieter Felbick, Schlagwörter der Nachkriegszeit 1945–1949, Berlin 2003, S. 359-364.
3 Dagmar Barnouw, Konfrontation mit dem Grauen. Alliierte Schuldpolitik 1945, in: Merkur 49 (1995), S. 390-401; Cornelia Brink, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998; Aleida Assmann, Ein deutsches Trauma? Die Kollektivschuldthese zwischen Erinnern und Vergessen, in: Merkur 53 (1999), S. 1142-1154; Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001.
4 Richard L. Merritt, Democracy Imposed. U.S. Occupation Policy and the German Public, 1945–1949, New Haven 1995; Dagmar Barnouw, Germany 1945. Views of War and Violence, Bloomington 1996, 2. Aufl. 2008; Felicitas Hentschke, Demokratisierung als Ziel der amerikanischen Besatzungspolitik in Deutschland und Japan, 1943–1947, Hamburg 2001, S. 41ff.; Jan Friedemann / Jörg Später, Britische und deutsche Kollektivschuld-Debatte, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 53-90; Jeffrey K. Olick, In the House of the Hangman. The Agonies of German Defeat, 1943–1949, Chicago 2005; Barbara Wolbring, Nationales Stigma und persönliche Schuld – die Debatte über Kollektivschuld in der Nachkriegszeit, in: Historische Zeitschrift 289 (2009), S. 325-364.

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