M. Lenz: „Arms are necessary“

Titel
„Arms are necessary“. Gun Culture in Eighteenth-Century American Politics and Society


Autor(en)
Lenz, Michael
Reihe
Kölner Historische Abhandlungen 48
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
XIII, 236 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dagmar Ellerbrock, Historische Fakultät, Universität Bielefeld

„Arms are necessary“ – unter diesem eingängigen Diktum fasst Michael Lenz die zentrale These seiner 2007 in Köln eingereichten und 2010 bei Böhlau publizierten Dissertation zusammen. Um eine kulturgeschichtliche Analyse der amerikanischen Waffenkultur des 18. Jahrhunderts geht es Lenz, um die Verbreitung und Bedeutung von Schusswaffen im kolonialen Alltag Nordamerikas.

Wer glaubt, die amerikanische Waffenkultur sei ein längst erschöpfend analysiertes Feld, den belehrt der Autor in seinem kursorischen Forschungsüberblick eines Besseren, denn die amerikanische „gun-culture“-Forschung ist tatsächlich so sehr auf den Zweiten Verfassungszusatz fokussiert, dass weitergehende kulturgeschichtliche Fragestellungen ein lohnendes Untersuchungsfeld darstellen.

Während die amerikanische Waffenkulturforschung mehrheitlich vom Verfassungsartikel ausgehend die Bedeutung von Schusswaffen für Politik und Kultur der USA untersucht, wählt Lenz die umgekehrte Perspektive: Er will rekonstruieren, welche Bedeutung Schusswaffen im Alltag des 18. Jahrhunderts zukam und dies zur Basis des politischen Redens über Waffen machen. Lenz definiert „Waffenkultur“ unter Rückgriff auf kulturanthropologische Konzepte als Zusammenspiel aller Verhaltensmuster, Gewohnheiten und Wahrnehmungen, die sich auf Schusswaffen bezogen (S. 10). Diese Definition ist theoretisch solide abgestützt und mit Blick auf Fragestellung und Erkenntnisinteresse sinnvoll und einleuchtend.

Die Verbreitung, Verwendung und Gewichtung von Schusswaffen im kolonialen Nordamerika des 18. Jahrhunderts zu analysieren, ist ein ambitioniertes Unterfangen, vor allem, weil es Lenz nicht um einzelne, skandalisierte Vorfälle mit Waffen, sondern um alltägliche Normalität geht. Dieser Normalität auf die Spur zu kommen, ist die reizvolle Herausforderung, der sich Lenz stellt, und in der Tat gelingt es ihm, durch methodisch reflektiertes Vorgehen und kreative Quellensuche bemerkenswerte Einsichten in die amerikanische Waffenkultur des 18. Jahrhunderts zu gewinnen: Dafür versucht er zunächst im ersten Teil der Studie die quantitative Verbreitung von Schusswaffen zu ermitteln. Er durchforstet Testamente und Eigentumslisten; methodisch gründlich (und langatmig) ermittelt er eine Waffenbesitzquote zwischen 40-66%. Klug folgert er aus diesen Quoten keinesfalls den faktischen Bewaffnungsstand, sondern sieht sie als Indikator für eine breite Grundbewaffnung der Bevölkerung, und als solcher können sie ohne Zweifel gelesen werden.

Über dem ersten Drittel der Studie liegt der Schatten der Bellesiles-Kontroverse.1 In Folge der von „Arming America“ angestoßenen Diskussion zur quantitativen Dimension der amerikanischen Waffenkultur beginnt auch Lenz seine Ausführungen mit der Analyse quantitativer Aspekte. Bedeutsam ist sein Ergebnis daher vor allem im Kontext dieser Forschungsdebatte, die grundsätzliche methodische Überlegungen darüber angestellt hatte, wie die amerikanische Waffenkultur quantitativ zu vermessen sei.2 Lenz’ Ergebnisse nun bestätigen die ältere Forschungsmeinung (und Bellesiles’ Kritiker), die von einer weitreichenden privaten Grundbewaffnung im kolonialen Amerika ausgegangen waren.

Darüber hinausgehende Aussagen sind diesen Quellen jedoch nicht zu entlocken. Da sich aus diesen Zahlen nur wenig Funken schlagen lassen, schließt Lenz an die quantitative Untersuchung eine kulturhistorische Analyse an. Feuerwaffen – so sein überzeugendes Ergebnis – waren allgegenwärtig, nicht nur in den Kleinanzeigen der lokalen Zeitungen, sondern auf vielfältige Weise im Alltag der Amerikaner präsent: bei der Jagd, als Mittel der Selbstverteidigung, als Milizwaffe, beim Duell, als häufiges Handelsobjekt und natürlich auch als Werkzeug Krimineller und Selbstmörder.

Lenz’ Studie ist dort am stärksten, wo er sich Zeit für ein „close reading“ seiner interessanten Quellen nimmt. So zeichnet er zum Beispiel ein eindrückliches Bild des sozialen Schießens. Egal ob der Geburtstag der Queen, Weihnachten oder das Neue Jahr gefeiert wurden, die Menschen drückten ihre Fröhlichkeit mit Freudenschüssen aus – eine Tatsache, die einen verbreiteten Waffenbesitz voraussetzte. Auch die sorgfältige Rekonstruktion der Jagdgewohnheiten stützt seine These des weit verbreiteten Waffenbesitzes. Die Analyse zum Beispiel von Jagdbeschränkungen aus Tierschutzgründen (S. 98ff.) belegt, dass Waffen ein verbreitetes Gebrauchswerkzeug des 18. Jahrhunderts waren.

Dabei gelingt es ihm durch die Vielfalt der benutzen Quellen von der Werbeanzeige bis zu Jagdgesetzen, von Reiseberichten bis zur Pressereportage ein weites Panorama amerikanischer Waffenpraktiken aufzublättern. Dadurch werden Hypothesen zum privaten Waffenbesitz auf solide empirische Füße gestellt. Stellenweise hätte man sich eine dichtere Analyse gewünscht. Dies gilt etwa für die Vermutung, dass Jagdpraktiken stark geschlechtsspezifisch gewesen seien (S. 89ff.) – für die adeligen Jagdpraktiken Europas galt dies nur eingeschränkt, hier griffen Frauen ebenso selbstverständlich wie Männer zur Flinte, wenn auch nicht so häufig. Auch hinsichtlich der Geschlechterordnung der zivilen Waffenkultur bleiben Fragen offen. Lenz selbst vermutet, dass Frauen nicht explizit von Waffenrechten ausgenommen gewesen seien, findet aber wenige Hinweise auf bewaffnete Frauen (S. 143). Die Frauen Europas waren in diesen Jahren vor allem aus Gründen der Selbstverteidigung bewaffnet und gingen bewaffnet auf Reisen – welche diesbezüglichen Gewohnheiten amerikanischen Schwestern hatten, hätte man gerne genauer gewusst.

Auch wie die Milizwaffen systematisch in die zivile Waffenkultur einzupassen sind, bleibt offen, dabei wären grundsätzliche Überlegungen zu diesem Aspekt hilfreich für den dritten Teil der Studie gewesen, der sich mit der amerikanischen Verfassungsdebatte befasst.

Dafür will Lenz die weit verzweigte Waffenkultur des 18. Jahrhundert zur Basis einer neuen Perspektive auf den Zweiten Verfassungsartikel machen. Mit der Fragestellung, wie sich die Alltagswaffenkultur in den Verfassungsdiskurs übersetzte, entwirft er eine innovative neue Perspektive, in der eine kulturgeschichtliche Analyse die bisher primär rechts- und politikgeschichtlichen Untersuchungen ergänzen soll.

Ausgehend von der vorliegenden Forschung zum „Second Amendment“ resümiert Lenz, dass es im Verfassungsdiskurs vor allem um das Verhältnis von stehendem Heer und Miliz ging (S. 185) und das Recht auf die private Waffe kaum diskutiert wurde (S. 203). Dieses Ergebnis deckt sich mit europäischen Verfassungsdebatten des 19. Jahrhunderts, in denen ebenfalls stets die militärisch verwendete Waffe diskutiert wurde. Überaus interessant ist sein Einblick in die britische Verfassungskonstruktion, die er als Traditionsbestand amerikanischer Verfassungsdebatten analysiert: Anhand britischer Verfassungskommentare erläutert Lenz, dass das Recht, private Waffen zur Selbstverteidigung zu besitzen, in England unbestritten war und als Naturrecht galt (S. 155). Das Recht auf die private Waffe war auch in England nicht explizit in der Verfassung verbrieft, trotzdem war es für die Zeitgenossen unstrittig und selbstverständlich. Von diesem Befund ausgehend, hätte man sich gewünscht, dass Lenz auch für die USA juristische Kommentare und Fachzeitschriften analysierte und danach fahndete, ob private Waffen für die Selbstverteidigung erlaubt und üblich waren. Stattdessen konzentriert er sich auf den unmittelbaren Verfassungstext, die „Bill of Rights“ und die Debatten, die sich darum rankten. Diese aber führen wieder nur in die bekannte Milizdiskussion. So bleibt die zentrale Frage, wie der Verfassungsdiskurs und die zivile Waffenkultur der USA zusammen hingen, unbeantwortet.

Lenz offeriert die These eines „hidden impact“ (S. 203), der sich vor allem in der Forderung nach mehr Mitbestimmung und dem Konzept des „limited government“ niedergeschlagen hätte. Leider stützt er diese These nicht empirisch ab. Offen bleibt, wo die Scharnierstellen zwischen ziviler Waffenkultur und politischem Verfassungsdiskurs waren. Ungeklärt ist weiterhin, ob und – wenn ja – wie die Debatte in den Parlamenten und Ausschüssen auf die tägliche Schießerfahrung mit privaten Waffen rekurrierte.

Die These, dass private Waffen als potentielle Widerstandsmittel der eigentliche Kern der Volkssouveränität und ultimatives Mittel der Regierungskontrolle seien, ist ein Evergreen des politischen Streits über das Recht privater Bewaffnung. Für Europa lässt sich sagen, dass private Waffen Jahrhunderte lang weit verbreitet waren, ohne dass dies an den absolutistischen Thronen gerüttelt hätte.

So bleibt als Resümee: Die Studie von Michael Lenz erweitert den Kenntnisstand zur privaten Waffenkultur der USA im 18. Jahrhundert grundlegend. Es gelingt Lenz, mit seiner kulturgeschichtlichen Perspektive frischen Wind in ein etabliertes Forschungsfeld zu bringen und die amerikanische Waffenkultur des 18. Jahrhunderts präziser auszumessen, als die Forschung dies bisher vermochte. Dass Lenz seine innovative kulturgeschichtliche Fragestellung nicht überall umfassend einzulösen vermag, ist vor allem dem noch immer großen Forschungsbedarf zur zivilen Waffenkultur der USA geschuldet. So bleibt es zukünftigen Studien, zum Beispiel die Abgrenzung zwischen ziviler und militärischer (auch die Milizen einschließende) Waffenkultur zu untersuchen, die Geschlechterordnung der zivilen Waffenkultur zu analysieren und zu fragen, wie umfassend die politische Symbolik und Bedeutsamkeit privater Waffen tatsächlich war bzw. welche Signifikanz private Waffen jenseits des politischen Raums besaßen.

Anmerkungen:
1 Stanley N. Katz / Hanna H. Gray / Laurel Th. Ulrich, Report of the Investigative Committee in the Matter of Professor Michael Bellesiles. Verfügbar unter: <http://www.emory.edu/news/Releases//Final_Report.pdf> (12.06.2009); James Lindgren, Fall from Grace: Arming America and the Bellesiles Scandal, in: The Yale Law Journal 111 (2002), Nr. 8, S. 2165–2249.
2 James Lindgren / Justin L. Heather, Counting Guns in Early America, in: William and Mary Law Review 21 (2002), S. 2–66.

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