Titel
Hungrige Metropole. Essen, Wohlfahrt und Kommerz in Berlin


Autor(en)
Allen, Keith
Erschienen
Hamburg 2002: Ergebnisse Verlag
Anzahl Seiten
159 S.
Preis
€ 12,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Spiekermann, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Das Mittagessen ist bis heute die wichtigste Mahlzeit in Deutschland. Diese bemerkenswerte, in deutlichem Gegensatz zu den europäischen Nachbarn stehende Konstanz des Mahlzeitensystems wäre nicht möglich ohne eine breites Netz von Speiseeinrichtungen und kommerziellen Anbietern, von tendenziell geringer Frauenerwerbstätigkeit und strikter Geschlechtshierarchie. Die vorliegende Studie von Keith A. Allen – eine gründlich überarbeitete und stark gekürzte Fassung seiner 1997 an der Carnegie Mellon University vorgelegten Dissertation – stellt die „gesellschaftliche Gestaltung des Mittagsmahls“ (S. 7) in den Mittelpunkt, fragt nach den Motivationen und Maßnahmen mittels derer es gelang, das Mittagsmahl als Ankerpunkt des Tagesablaufes zu stabilisieren. Nicht hauswirtschaftliches und staatliches Handeln stehen im Mittelpunkt der Analyse, sondern die Wechselwirkungen zwischen privater und kommunaler Wohlfahrtspflege einerseits, dem Angebot des Marktes andererseits. Angesichts der offenkundigen Zurückhaltung des Staates, einen zentralen, sich während der Hochindustrialisierung tiefgreifend wandelnden Bereich menschlichen Daseins – das Essen – strikt zu regulieren, will Allen so ein anderes, ein neues Verständnis des deutschen „Wohlfahrtsstaates“ ermöglichen. Als Fallbeispiel wählt er Berlin aus, knüpft damit an ein älteres, leider nicht umgesetztes Forschungsvorhaben des Berliner Kulturanthropologen Harald Dehne an, das unter dem Titel „Veröffentlichung und Vermarktung – Transformation der Ernährungsweise und Habituswandel in Berlin 1880-1914“ allerdings wesentlich stärker auf die Entwicklung des Gastgewerbes zielte, als dies Allen in seiner Studie tut.

Diese ist übersichtlich in sechs Kapitel gegliedert, die jeweils klar voneinander abgegrenzte Themenkomplexe behandeln: Am Beginn steht eine Rückfrage an die Berliner Ernährungsweisen um die Jahrhundertwende. Allen betont die tiefgreifenden Rückwirkungen der Hochindustrialisierung auf die Versorgung der Mehrzahl der Bevölkerung. Sie führte zu einer „Veröffentlichung“ des Mittagessens, das zunehmend am Arbeitsplatz oder aber in Gaststätten sowie auf der Straße eingenommen wurde. Trotz vielfacher Mühen, das gemeinsame Familienmahl zu bewahren, veränderte sich dadurch auch die Art der Speisen. An die Stelle eines auch von der damaligen Ernährungswissenschaft propagierten warmen Mittagessens traten vermehrt kalte Speisen, belegte Stullen, Wurstwaren, Buletten. Das aber erschien gesundheitlich problematisch, schien die Arbeitsfähigkeit der Männer, die Gebärfähigkeit der Frauen negativ zu beeinflussen. Und entsprechend – so Allens These – begann seit 1870 eine breit gelagerte Debatte über die Art der Mittagsmahlzeit.

Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht allerdings nur ein Teil dieser Debatte, nämlich die Entwicklung der Schulspeisung in Berlin von 1880-1914. Der Autor konzentriert sich dabei auf das Wirken von Hermann Abraham und des von ihm initiierten und geleiteten Vereins für Kindervolksküchen. Dieser bot Mitte der 1890er Jahre mehreren Tausend bedürftigen Kindern gegen eine Kostenbeteiligung, zumeist aber unentgeltlich, ein Mittagessen an. Damit stieß er auf deutlichen Protest Berliner Rektoren bzw. des Vereins zur Speisung armer Kinder und Notleidender, der sich seit 1875 der Frühstücksverpflegung armer Schulkinder widmete. Stein des Anstoßes war, dass der jüdische Philantroph durch ein Mittagessen Kinder aus dem Familienverbund herausreiße, dass er keine strikte Kontrolle von Bedürftigkeit durchführte. Entsprechend zurückhaltend war auch der Berliner Magistrat, der trotz Tausender hungriger Kinder die Schulspeisung nicht als Teil der Daseinsvorsorge verstand. Gründe des geordneten Schulalltages führten zwar zur begrenzten Subventionierung des Abrahamschen Vereins, doch die Masse der materiellen Hilfe ging an die Mütter, die dann für ihre Kinder angemessen sorgen sollten. Erst angesichts der Versorgungskrise im Ersten Weltkrieg begann eine massive Subventionierung und der Aufbau eines breiten Netzes öffentlicher Suppenküchen. Der Gedanke der Selbsthilfe und des Primates der Familie standen quer zum Eingriff in das Mahlzeitengefüge der Haushalte. Selbst die Kriegshilfe blieb trotz massiver Not eher halbherzig.

Was aber war mit den Frauen? Wie stand es mit ihrer Versorgungsrolle, wie mit ihren Kochfertigkeiten? Allen skizziert im dritten Kapitel das Ideal der patriarchalischen Familie, die der Frau die tägliche Versorgung der Kinder und des Mannes auferlegte, schildert zugleich das allseitige Klagen über die schwindende hauswirtschaftliche Kompetenz der (vielfach ja auch erwerbstätigen) Hausfrauen. Private Wohltätigkeit reagierte hierauf. Allen konzentriert sich vornehmlich auf die Arbeit Lina Morgensterns und Hedwig Heyls. Während erste eine Reihe von Volksküchen aufbaute, in der ein preiswerter Eintopf angeboten wurde (aufgrund der strikten Disziplinierung in den Volksküchen nahmen viele ihre Speisen mit nach Hause, verzehrten sie dort allein oder im Familienverbund), baute die andere auf die hauswirtschaftliche Bildung möglichst vieler Frauen. Die Volksküchen gerieten in den 1890er Jahren in eine Bestandskrise, war die Speisenqualität doch offenbar schlechter als die der wachsenden Zahl von kommerziellen Speiseanbietern. Die Bildungsanstrengungen wurden jedoch intensiviert, die Verantwortung der Frau für die Bekämpfung öffentlicher Armut und Versorgung ihrer Familie wurde damit nochmals gestärkt. Warmes schmackhaftes (Mittag-)Essen und eine klare Geschlechterordnung schienen die besten Garanten eines geordneten Staatswesens zu sein.

Dieser Konsens zerbrach auch während des Ersten Weltkrieges nicht – so Allen in seinem vierten Kapitel. Er schildert anschaulich die kommunalen Bemühungen um Volks- und Mittelstandsküchen, betont zugleich aber die bedeutsameren, auf effiziente Mahlzeitenherstellung im Haushalt gerichteten Bildungsbemühungen. Der gleichwohl beträchtliche Aufwand für kommunale Versorgungseinrichtungen erreichte jedenfalls nicht sein Ziel: Die Absatzziffern blieben weit unter den anvisierten Zahlen, schlechte Speisenqualität war hierfür ebenso verantwortlich wie der weiterhin bestehende Wunsch, Speisen im Familienrahmen einzunehmen. Entsprechend wurde die Mehrzahl 1919 abgewickelt, obwohl die Versorgungsprobleme bis 1923 akut blieben.

Damit aber wird die These eines sich nach der Revolution allgemein ausweitenden Sozialstaates im Felde der Ernährung fraglich. Allen diskutiert dies am Beispiel der 1920 einsetzenden Quäkerspeisung. Diese internationale Wohlfahrtspolitik zielte auf ein Frühstück für bedürftige Kinder, bot in vielen Schulen jedoch auch Mittagsspeisung an. Dagegen leisteten staatliche Instanzen erst seit 1922 nennenswerte Zuschüsse. Die folgende Ausweitung der Schulspeisung blieb eng begrenzt, konzentrierte sich allenfalls auf ein Schulfrühstück; und dies entgegen den Forderungen der Sozialmedizin. Mittagsmahl speziell, Ernährung allgemein blieben auch während der Weimarer Republik Bereiche geringer staatlicher Intervention.

Höchste Zeit also, zum eigentlichen Helden der Arbeit zu kommen. Für Allen ist dies jedenfalls der „Fast-Food-Gigant“ Aschinger, den er als Prototyp für das schnell wachsende kommerzielle Speisenangebot präsentiert. Die Etablierung dieser 1890 gegründeten kleinen filialisierten Speiselokale erscheint als die eigentlich zukunftsweisende Innovation der Jahrhundertwende. Die systematische Verbindung von hoher Speisenqualität, einnehmendem (Modernität und Tradition kombinierenden) Marketing, Service für ein Massenpublikum und rationaler Arbeitsorganisation führte zu einem Angebot, das dem der privaten und öffentlichen Wohlfahrtspflege überlegen war. Zugleich aber schien Aschinger keine wirkliche Gefahr für das Familienmahl zu bilden, da der Außer-Haus-Verzehr nicht durchgängig erfolgte und somit eine Ergänzung blieb.

Keith A. Allen hat aus einem scheinbar kleinen Gegenstand, dem Mittagessen, eine spannend zu lesende Geschichte destilliert. Sie kann gleichwohl nicht völlig überzeugen. Dies liegt sicher nicht am gut gewählten Thema – Ernährung und Haushaltshandeln fristen in der deutschen Geschichtswissenschaft angesichts ihrer realen Bedeutung in Wirtschaft, Gesellschaft und Alltag ein kärgliches Dasein; Allen steht dagegen in der Tradition einer großen Zahl US-amerikanischer HistorikerInnen, die hier international Maßstäbe gesetzt haben. Das Unbehagen keimt auch nicht aus einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Fehleinschätzungen und Detailfehlern: Aschinger war keineswegs „der erste Anbieter von Fast-Food“ (S. 21), von einer Monopolstellung (S. 107, 112) lässt sich auch während der Weimarer Republik sicher nicht reden. Das Mittagessen hat sich als wichtigstes Essen bis heute gehalten, seine Dominanz endete nicht in den 1960er Jahren (S. 24). Vielfach wird die Bedeutung einzelner Akteure überschätzt und verabsolutiert, so etwa, wenn die Kompetenz der ernährungspolitischen Aufklärung „vollständig“ (S. 65) auf Ernährungswissenschaft und Kriegsverwaltung übergegangen sein soll. Trotz neuester Überarbeitung wird die alte Rechtschreibung gewählt, bestehen deutliche Inkongruenzen zwischen Anmerkungs-, Quellen- und Literaturteil.

Schwerwiegend wiegt dagegen die strikte Konzentration der Studie auf nur wenige Beispiele, die dann jedoch für Gesamtentwicklungen stehen müssen. Unabhängig davon, dass die Arbeiten v. a. Harald Dehnes hier schon manches vorweggenommen haben, stellt sich die Frage nach den Bewertungsmaßstäben für die getroffenen Aussagen. Die Arbeit gründet auf nur wenigen quantitativen Quellen, die mehr sporadisch eingefügt als systematisch analysiert werden. Aussagen zum Ernährungsalltag der Berliner bleiben vage, die massenhaft vorliegenden Quellen werden nicht systematisch herangezogen. Auch die Entwicklung des kommerziellen Speiseangebotes bleibt offen, dabei liegen auch hier Quellen und selbst fachwissenschaftliche Analysen vor. Es wäre gewiss zu einfach, Allens Satz „Lassen wir der Spekulation freien Lauf“ (S. 24), hier anzuwenden – schließlich ist die Dissertation stark gekürzt worden. Doch ob in der gewählten Form und ohne ein systematisches Analysieren gerade auch der kulturellen Logik der Haushalte, der handelnden Frauen und Männer, ein so komplexes Element der Alltagskultur wie das des Mittagessens angemessen beurteilt werden kann, ist zumindest fraglich. Entsprechend gibt es zahlreiche Einschätzungsprobleme – so etwa, wenn die zeitgenössischen Kriterien von „Unterernährung“ und Bedürftigkeit vergleichsweise unkritisch übernommen werden. Und so verdienstvoll eine Fallstudie zu Berlin auch sein mag, so hätte man doch gerne gewusst, welchen Stellenwert die Reichshauptstadt im System der deutschen Gesamtentwicklung gehabt hat.

Summa summarum aber macht die preiswerte und gut bebilderte Arbeit von Keith A. Allen Lust auf mehr: Auf Studien, die Mut haben, Themen aus ihrer Bedeutung für das Alltagleben heraus zu entwickeln. Auf Studien, die Diskursstrukturen und Kontroversen auf empirisch breiter Basis erforschen. Auf Studien, die Frage- und Problemstellungen anderer Wissenschaftskulturen an Fallbeispielen einer anderen, hier der unseren Kultur erproben. Aller Kritik zum Trotz ist es ein wichtiges Verdienst dieses Buches, dies exemplarisch gewagt zu haben.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension