Cover
Titel
Julius Goldstein. Der jüdische Philosoph in seinen Tagebüchern. 1873-1929 Hamburg - Jena - Darmstadt


Herausgeber
Zuber, Uwe
Anzahl Seiten
XXXVI, 316 S.
Preis
€ 37,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Thiel, Institut für Geschichtswissenschaft, Humboldt-Universität Berlin

„Hin und wieder bin ich noch empört über tückischen Antisemitismus und bin noch voll Ekel über ihn und die Abwehr. […] Ekel und Überdruß! Ich will von all den Dingen nichts mehr wissen. Mich widert auch das Herumklettern in geschichtsphilosophischen Materien an – wie leicht kann man da gescheit sein. Deutsche Krankheit. Mich widert diese Schwatz- und Schreibwelt, die man geistige Kultur nennt, an. Wieviel war hier vertan! Und man vertut mit, wozu wär man sonst Professor. Einstens kam es von profiteor – jetzt von Profit. Pfui Deibel!“ (S. 207) Als der deutsch-jüdische Gelehrte und Intellektuelle Julius Goldstein 1927 seiner Verzweiflung drastisch Luft machte, war er bereits schwer an Krebs erkrankt. Zwei Jahre später erlag er der tödlichen Krankheit. Goldstein erlebte den 1933 zur Macht gelangten „tückischen Antisemitismus“ der Nationalsozialisten nicht mehr. Seine Frau und seine Tochter mussten jedoch ins englische Exil fliehen.

Julius Goldstein hatte seine Hoffnungen in Bezug auf die volle Anerkennung der Juden in der deutsche Mehrheitsgesellschaft schon in den Jahren zuvor aufgegeben. Vor dem Nationalsozialismus hatte er früh gewarnt; der Kampf gegen den auch in bildungsbürgerlichen und akademischen Kreisen weit verbreiteten Antisemitismus und gegen jegliche Rassentheorien war ihm zur Lebensaufgabe geworden. Gleichzeitig hatte er sich aber auch deutlich gegen den Zionismus abgegrenzt. Für Juden wie ihn, die sich der deutschen Kultur zutiefst verbunden fühlten, bot er keine Alternative. Goldstein wollte die volle Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft. Sie sollten Teil der deutschen Nation werden, zugleich aber auch in ihren Eigenheiten erkennbar bleiben.

Mit dieser Position geriet Goldstein fast automatisch in die „Fallstricke der Akkulturation“. So hat Uwe Zuber, der Herausgeber der nun edierten Tagebücher Goldsteins, auch seinen einführenden biographischen Essay überschrieben. Goldstein engagierte sich früh im „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, der wichtigsten Organisation liberal-demokratischer Juden in Deutschland, der sich für die gesellschaftliche Gleichstellung sowie die Verbindung von Juden- und Deutschtum einsetzte. Diesen Zielen widmete sich Goldstein als Redner und Publizist. 1925 gründete er die einflussreiche Zweimonatsschrift „Der Morgen“, zu deren ständigen oder zeitweiligen Mitarbeitern eine Vielzahl prominenter jüdischer und nichtjüdischer Gelehrter, Intellektueller und Künstler wie Julius Bab, Ernst Cassirer, Siegried Kracauer, Leo Baeck, Franz Rosenzweig, Martin Buber oder Nelly Sachs gehörten. Der kürzlich verstorbene Germanist Gert Mattenklott hat diese Zeitschrift jüngst noch einmal gewürdigt.1

Die von Zuber, inzwischen Mitarbeiter des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, in der Schriftenreihe der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen vorgelegte Tagebuchedition macht uns erstmals ausführlich mit den von inneren und äußeren Konflikten überreichen Leben Julius Goldsteins vertraut. Sieht man von wenigen kurzen Abrissen in einschlägigen Nachschlagewerken ab, so fehlte bislang eine umfangreichere Arbeit zu seiner Person. Diese Lücke schließt die schon erwähnte biographische Skizze, die Zuber den Tagebüchern voran gestellt hat. Den Hauptteil des Buches umfassen mehr als 200 Seiten Tagebucheinträge aus den Jahren 1890 bis 1929, dem Todesjahr Goldsteins. Der Herausgeber hat sich dafür entschieden, die Tagebücher nicht komplett, sondern auszugsweise zu veröffentlichen. Die Edition umfasst etwa die Hälfte der Tagebucheinträge. Die nachvollziehbaren Auswahlkriterien erläutert Zuber in den editorischen Vorbemerkungen. Das gesamte Konvolut der insgesamt ca. 1900 Tagebuchseiten umfassenden 25 Tagebuchbände wird heute – mit Ausnahme der Jahre 1926 bis 1929, die sich im Privatbesitz seiner Tochter befinden – im Leo-Baeck-Institut in New York aufbewahrt.2 Einige Bände der Tagebücher sind nicht erhalten. Zudem gab es Monate und Jahre, in denen Julius Goldstein nicht regelmäßig Tagebuch führte. Von den überlieferten Tagebüchern hat Zuber etwa vierzig Prozent aus der Vorkriegszeit, siebzig Prozent des Kriegstagebuchs und mehr als die Hälfte der Nachkriegsaufzeichnungen in die Edition aufgenommen. Abgerundet wird die Edition durch kurze Texte von Goldstein: einem „Vermächtnis“ von 1913, einem Bericht über die Begegnung mit dem ihn prägenden französischen Lebensphilosophen Henri Bergson 1912 und einer „Selbstbetrachtung“ von 1916. Die Auswahl vermittelt einen unmittelbaren, teils auch bedrückenden Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt des zeitlebens mit sich und seiner Umwelt ringenden deutsch-jüdischen Gelehrten.

Julius Goldstein setzte sich in seinen Tagebüchern immer wieder mit bestimmten Fragen und Problemen auseinander. Das Verhältnis von Juden- und Deutschtum und seine eigene Positionsbestimmung waren sicherlich die wichtigsten. Religion, Politik, Kultur, Philosophie und Wissenschaft bilden die Eckpunkte seines persönlichen Koordinatensystems; der Zionismus den Kontrapunkt im eigenen Lager. Antisemitismus und Rassenwahn, deren Vordringen er mit aller Kraft bekämpfte, aber nicht verhindern konnte, stellten eine immer wieder thematisierte existentielle Bedrohung dar; Familie und Ehefrau waren hingegen die stabilisierenden, Kraft spendenden Faktoren seines Lebens.

Zwei zentrale Ereignisse, mit denen sich Julius Goldstein ausführlich beschäftigt, seien herausgehoben: der Erste Weltkrieg und der sogenannte „Fall Goldstein“, der die deutsche Wissenschaftspolitik 1925/26 beschäftigte. Der nach eigenem stolzen Bekunden „jüngste Offizier [S]einer [M]ajestät siegreichen Armee“ (S. XV), der sich wie viele Juden zunächst der tragischen Illusion hingab, durch den Heeresdienst endlich die gewünschte Anerkennung zu finden, wurde angesichts des Grauens und der Exzesse des Krieges zum Pazifisten. Angewidert vom Auftreten der deutschen Offiziere gegenüber Kriegsgefangenen und Zivilisten in den besetzten Gebieten des Ostens und Westens, abgestoßen von den moralischen Entgleisungen, dem Rassismus und offenen Antisemitismus seiner vermeintlichen „Kameraden“, gerieten ihm seine Tagebücher zur Abrechnung. Sie sind von einer schonungslosen Offenheit, die man in vergleichbaren Dokumenten nicht oft findet. „Man antisemitelte“, heißt es etwa beiläufig über evangelische Feldgeistliche (S. 114f.). Oder, ebenso entsetzt wie verwundert, über einen Hauptmann: „Als die Franzosen flohen, schossen sie stehend freihändig die fliehenden Rothosen wie Hasen ab. ‚Es war die schönste Stunde meines Lebens, sie purzeln zu sehen‘. Da komme ich gefühlsmäßig nicht mit. Dieser selbe Mann ist stolz auf sein Christentum, das durch das Gebot der Feindesliebe hoch über dem Judentum steht“ (S. 116). Eindringlich beschreibt Goldstein auch das Verhalten deutscher Besatzungstruppen im besetzten Nordfrankreich. So ließ ein deutscher Etappenkommandeur Ende 1916 in Avesnes die Bibliothek eines französischen Abgeordneten verbrennen, da er dort eine deutschfeindliche Propagandaschrift gefunden hatte. Anschließend ließ er den kollektiv zur „Strafe“ gefangen genommenen französischen Zivilisten – Frauen wie Männern – die Haare abschneiden. Das geplünderte Hab und Gut der Bestraften verfrachtete er nach Deutschland. Allmachtsphantasien, Machtkoller und Militarismus machte Julius Goldstein für solche Verhaltensweisen verantwortlich: „Was sind das für Menschen! Wie lächerlich der Satz von der großen Zeit, die die Menschen umwandelt: Sie saufen mehr, sie dösen mehr, sie verfetten in ihren dünkelhaften Vorurteilen mehr, dabei bürgerlich anständige Menschen“ (S. 134).

Hintergrund dieser Äußerung war die Ablehnung eines Urlaubsantrags für einen Vortrag. Goldsteins militärischer Vorgesetzter hielt es „mit dem Stande eines Offiziers nicht vereinbar, während des Krieges mit Vorträgen Geld zu verdienen“. Als Privatdozent war Goldstein auch im Krieg auf solche Einnahmen angewiesen. Er hatte sich 1902 an der Technischen Hochschule Darmstadt habilitiert, wo Juden – stärker als an den Universitäten – etwas größere Chancen hatten, auf der akademischen Karriereleiter wenigstens eine Stufe voranzukommen. Wirtschaftliche Schwierigkeiten zwangen Goldstein zu verschiedenen Broterwerbstätigkeiten; Vorträge und publizistische Arbeiten ließen ihm wenig Raum für originär wissenschaftliche Studien. Das Fehlen eines „dicken Wälzers“ (S. XXIV) sollte schließlich einer der Hauptkritikpunkte an seiner Berufung zum Extraordinarius in Darmstadt sein, die mit deutlicher Verspätung und nur durch politischen Druck der Sozialdemokraten erst Ende 1925 erfolgte.

Der „Fall Goldstein“, der im Tagebuch aus der Perspektive des Betroffenen anschaulich geschildert wird, hat nicht nur wissenschaftshistorische Bedeutung. Hier zeigten sich Tendenzen, die das Klima an vielen Universitäts- und Hochschulstädten längst vor 1933 antisemitisch vergiftet hatten – erinnert sei an die fast zeitgleichen Auseinandersetzungen um Theodor Lessing an der TH Hannover. Der Leser kann sich ein anschauliches Bild von den polarisierenden, verletzenden und oft unappetitlichen Auseinandersetzungen um die Ernennung Goldsteins machen. Herausgeber Uwe Zuber bezeichnet diesen Konflikt als eine grundsätzliche „Auseinandersetzung zwischen Demokraten und Demokratiegegnern auf dem Gebiet der Hochschulpolitik“ (S. XXXVIII). Die Lektüre der Tagebucheinträge lässt aber auch Ambivalenzen erkennen. Die beiden Lager waren so klar nicht gespalten; auch jüdische, sich national verstehende Studentenverbindungen boykottierten zum Beispiel Goldsteins Vorlesungen. Hier hätte sich der Rezensent weitere, über die Hinweise in der Einführung hinausgehende Informationen über die Hintergründe gewünscht. Dass Goldstein von einigen demokratisch gesinnten, ihm auch persönlich verbundenen Hochschullehrern wie Max Scheler oder Rudolf Eucken unterstützt wurde, gereicht diesen zur Ehre. Ernst Troeltsch hingegen konnte im historisch überprüfbaren Diesseits nicht zu seinen Verteidigern gehört haben. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits über zwei Jahre tot. Ungeachtet dieses vermeidbaren Fehlers ist das Buch sorgfältig ediert und kommentiert.

Mit der Veröffentlichung von Julius Goldsteins Tagebüchern hat uns Uwe Zuber mit der Denk- und Lebenswelt eines wichtigen deutsch-jüdischen Intellektuellen bekannt gemacht. Über das persönliche Einzelschicksal hinaus lässt sich in Goldsteins Tagebüchern anschaulich nachvollziehen, welche Chancen und Hoffnungen in der Akkulturation deutscher Juden in den Jahrzehnten vor 1933 gelegen haben, aber auch, mit wie viel Enttäuschungen und Resignation dieser Prozess letztlich verbunden gewesen ist. Darin liegt das Exemplarische von Leben und Werk Julius Goldsteins. Nicht zuletzt deshalb sind dem Buch viele Leser zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Gert Mattenklott, Juden in NS-Deutschland. „Der Morgen“ 1933–1938, in: Kerstin Schoor (Hrsg.), Zwischen Rassenhass und Identitätssuche. Deutsch-jüdische literarische Kultur im nationalsozialistischen Deutschland, Göttingen 2010, S. 77-88.
2 Vgl. Guide to the Papers of Julius (1873-1929) and Margarete (1885-1960?) Goldstein, 1834-1944 (AR 7167), <http://findingaids.cjh.org/index2.php?fnm=JMGoldstein&pnm=LBI=LBI> (24.8.2010). Der Bestand ist zudem im Leo Baeck Institut, Archiv am Jüdischen Museum Berlin, auf Mikrofilm einsehbar.

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