U. Wilhelm: Das Deutsche Kaiserreich und seine Justiz

Titel
Das Deutsche Kaiserreich und seine Justiz. Justizkritik - politische Strafrechtsprechung - Justizpolitik


Autor(en)
Wilhelm, Uwe
Reihe
Historische Forschungen 93
Erschienen
Anzahl Seiten
721 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexandra Ortmann, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Das heutige Strafverfahren geht in wesentlichen Teilen auf die Reichsstrafprozessordnung von 1879 und das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 zurück. Nachdem diese Phase der Justizgeschichte lange Zeit wenig Beachtung gefunden hatte, wurde sie in den vergangenen Jahren in den Fokus justizhistorischer Forschung gerückt. Neben der Gefängnisreform, der Kriminologie, diversen Skandalprozessen und der Strafrechtsreform wird auch das Strafverfahren selbst zunehmend analysiert.1 Eine weitere Lücke schließt nun die um aktuelle Literatur erweiterte, 2006 fertig gestellte Freiburger Habilitationsschrift von Uwe Wilhelm, die sich mit zentralen Punkten der strafprozessualen Reformdebatte des Kaiserreichs auseinandersetzt.

Ausgehend von der Beobachtung, dass rechtspolitische Auseinandersetzungen im Kaiserreich „ein innenpolitisches Thema von Dauer und Gewicht“ (S. 22) waren, liegt der Drehpunkt der Studie in der zeitgenössischen Justizkritik, die vor allem mit dem Schlagwort der „Klassenjustiz“ bis heute nachwirkt. Da Wilhelm die Grundlagen für die justizkritische Debatte zum einen in der Rechtsprechungspraxis der Gerichte und zum anderen in der Justizpolitik des Reiches und der Länder begründet sieht, bilden diese drei (Kritik, Gerichtspraxis bei ‚politischen Prozessen‘, Rechtspolitik) die Stränge der dezidiert geistes- und politikgeschichtlich ausgerichteten Untersuchung. Der Fokus liegt dabei auf Preußen, auch wenn als Kontrast ein gelegentlicher Seitenblick auf die bayerischen Verhältnisse geworfen wird. Das Ergebnis ist eine detailgesättigte Studie, welche neben einer Medienanalyse auch umfangreiche Parlaments- und Ministerialunterlagen ausgewertet hat und damit die erste minutiöse Rekonstruktion und politikgeschichtliche Einordnung der diversen Gesetzgebungsanläufe vorlegt. Wilhelm selbst ordnet seine Untersuchung in eine Geschichte ambivalenter gesellschaftlicher Modernisierung ein. Zum einen seien die Gerichte angesichts des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Wandels und der daraus resultierenden Ansprüche überfordert gewesen, zum anderen habe insbesondere Preußen die Justiz weiterhin als Repressionsinstrument zu missbrauchen gesucht.

Das chronologisch gegliederte Buch besteht aus drei Teilen: Der erste Teil, der immerhin 180 Seiten lang ist, beschäftigt sich mit den diskursiven wie normativen Grundlagen und umfasst die Zeit von 1848/49 bis einschließlich 1879. In dieser, dem eigentlichen Untersuchungszeitraum vorgelagerten Phase hätten sich folgende Kristallisationspunkte herausgebildet: Kritik an der Ausbildung und den Kompetenzen der Richter, ein relativer Statusverlust der Justiz im Vergleich zur Verwaltung, ein Spannungsverhältnis zwischen einem vermeintlichen Rechtsbewusstsein des Volkes und der Urteilspraxis sowie eine politische Instrumentalisierung der Justiz. Der parlamentarische Kompromiss um die Reichsjustizgesetze 1879 sei schließlich hinter den liberalen Erwartungen zurückgeblieben und habe ein „‚Gefahrenpotential‘ für die zukünftige Reputation der Gerichte“ (S. 169) beinhaltet. Der zweite Teil beschreibt, wie sich sowohl die gesellschaftliche als auch die innerjuristische Kritik zwischen 1879 und 1900 ausweiteten und in eine „Autoritätskrise der Gerichte“ (S. 477) mündeten. Erneut schildert Wilhelm umfassend die politisierten Presse- und Beleidigungsklagen sowie strukturelle Probleme der Justiz. Er verweist auf die gescheiterten Reformansätze zur Einführung der Berufung und Veränderung der ‚Laienbeteiligung‘ und ordnet die Vertrauenskrise der Justiz in die allgemeine Krisenphase der Jahrhundertwende ein. Die Ursachen sieht Wilhelm vor allem in tatsächlichen Missständen der Justiz, welche es den politischen Gegnern, insbesondere den Sozialdemokraten, leicht gemacht hätten, Systemkritik zu äußern, die bis in die bürgerlichen Schichten Unterstützung gefunden hätte. Der dritte Teil legt schließlich dar, wie sich die Justizkritik zwischen 1900 und 1914 stärker auch dem Zivilrecht zuwandte und zu einer breiten, aber in sich widersprüchlichen Reformbewegung führte. Wilhelm analysiert hier nicht nur die Bestrebungen, die Kompetenzen zwischen Berufsrichtern und „Laien“ im Strafverfahren neu zu justieren, sondern verweist etwa auch auf Reformansätze im Strafrecht selbst. Das durchaus disparate Feld der Rechtspolitik sei ein Beleg dafür, „daß die Reformbewegung bis zum Kriegsausbruch 1914 beachtliche Erfolge zu verzeichnen hatte, auch wenn die ‚Vertrauenskrise‘ noch nicht als überwunden gelten konnte.“ (S. 635)

In seinem Fazit betont Wilhelm, dass er die Vertrauenskrise der Justiz als allgemeine „Modernisierungskrise“ (S. 636) ansieht, die einerseits durch eine hohe Erwartung an die Justiz und ein breites Rechtsbewusstsein der Bevölkerung und andererseits durch die politische Instrumentalisierung der Justiz und ihre Überforderung, mit gesellschaftlichen Neuerungen Schritt zu halten, ausgelöst worden sei. Neigungen zu „Klassenjustiz“ will er nicht bei den Richtern, sondern eher bei den weisungsgebundenen Staatsanwälten konstatieren. 1914 habe angesichts der Reformbewegung auch innerhalb der Justiz eine berechtigte Hoffnung bestanden, diese langfristig zu modernisieren und die Kritik zum Verstummen zu bringen. Die Republikfeindlichkeit der Richter, die in den 1920er-Jahren den Angelpunkt der radikalisierten – in den Schlusssätzen der Arbeit nur angedeuteten – Justizkritik der Weimarer Republik bildete, dürfe nicht in eine vereinfachende Kontinuitätslinie mit dem Kaiserreich gesetzt werden. Sie sei vielmehr „in erster Linie das Ergebnis der durch den Ersten Weltkrieg und seine Folgen bewirkten Radikalisierung“ (S. 646).

Dieser Schlusssatz der Studie ist symptomatisch für die Sympathie gegenüber den Juristen, welche sich latent im gesamten Buch beobachten lässt. Bereits die Lektüre des Forschungsüberblicks erweckt einen Verdacht, der sich im Verlauf der weiteren Lektüre erhärtet: Während die rechtshistorische Forschung mit beeindruckender Vollständigkeit verarbeitet wurde, findet die in älterer und neuerer Zeit erschienene allgemeinhistorische Literatur zur Justiz des Kaiserreichs kaum Berücksichtigung. Die Schilderung des gerichtspraktischen Alltags hätte hier sicherlich ebenso gewinnen können wie die Bewertung der zeitgenössischen Juristen. Hinzu kommt, dass Wilhelm über weite Strecken des Buches lange, häufig nicht näher erläuterte Zitate zeitgenössischer Juristen wiedergibt, auch um „Stil und Schärfe der damaligen Auseinandersetzungen ein Stück weit wieder lebendig werden zu lassen“ (S. 25). Ganz unzweifelhaft hat sich Uwe Wilhelm akribisch in die juristische Materie eingearbeitet, diese Genauigkeit bis hin zu den Fachbegriffen ist jedoch in zweierlei Hinsicht auch von Nachteil. Zum einen werden hier juristische Termini als Beschreibungskategorie verwendet, die als Gegenstand der Analyse auch hätten hinterfragt werden können. Zum zweiten, und das ist der wahre Wermutstropfen, erschwert es die Lektüre eines langen, sehr dichten Buches gerade für jene Leser, die mit der Materie noch nicht allzu vertraut sind. Ihnen dürften nicht nur einzelne Sätze sprachlich, sondern ganze Passagen mangels Vorkenntnissen inhaltlich nicht zugänglich sein. Sie werden auch – und das ist überaus bedauerlich – zahlreiche Perlen der Argumentation in den einzelnen Kapiteln dadurch schlichtweg überlesen. Dennoch hat Uwe Wilhelm mit seiner Studie ein Grundlagenwerk zur Geschichte der (Straf-)Prozessordnung geschrieben, an dem niemand vorbeikommen wird.

Anmerkung:
1 Vgl. stellvertretend für viele die – leider nicht berücksichtigten – klassischen Literaturberichte: Gerd Schwerhoff, Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die historische Kriminalitätsforschung, Tübingen 1999; Rebekka Habermas, Von Anselm von Feuerbach zu Jack the Ripper. Recht und Kriminalität im 19. Jahrhundert. Ein Literaturbericht, in: Rg. Rechtsgeschichte 3 (2003), S. 128-163; Désirée Schauz / Sabine Freitag, Verbrecher im Visier der Experten. Zur Einführung, in: Dies. (Hrsg.), Verbrecher im Visier der Experten. Kriminalpolitik zwischen Wissenschaft und Praxis im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 2007, S. 9-32; zuletzt auch: Herbert Reinke, Crime and criminal justice history in Germany. A report on recent trends, in: Crime, histoire & société – Crime, history & society 13 (2009), H. 1, S. 117-130. Jüngst erschienen außerdem: Ann Goldberg, Honour, Politics, and the Law in Imperial Germany, 1871-1914, New York 2010; Sylvia Kesper-Biermann, Strafgesetzgebung und Kriminalrechtsexperten in Deutschland vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871, Frankfurt am Main 2009.