V. Gallé (Hrsg.): Schätze der Erinnerung

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Titel
Schätze der Erinnerung. Geschichte, Mythos und Literatur in der Überlieferung des Nibelungenliedes. Dokumentation des 7. wissenschaftlichen Symposiums der Nibelungenliedgesellschaft Worms e. V. und der Stadt Worms vom 17. bis 19. Oktober 2008


Herausgeber
Gallé, Volker
Reihe
Schriftenreihe der Nibelungenliedgesellschaft Worms e.V. 6
Erschienen
Worms 2009: Worms-Verlag
Anzahl Seiten
214 S.
Preis
€ 16,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Burkert, Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft, RWTH Aachen

Der Band bezeugt die regen Bemühungen der Stadt Worms um das „Nibelungenlied“ als „Schatz der Erinnerung“, der „durch Denken, Fühlen, Lesen, Schreiben und Spielen ergraben werden kann“ (S. 7). Diese Einschätzung wie auch die Ablehnung einer „einseitige[n] Festlegung der Erzählung auf einen einzigen Ursprung“ (ebd.) zerstreuen etwaige Befürchtungen einer lokalpatriotischen Ausrichtung. Vielmehr versammelt der Band acht ein breites Themenspektrum abdeckende Beiträge, die vorwiegend zur Erforschung der Rezeptionsgeschichte, aber sehr wohl auch zu der des „Nibelungenliedes“ selbst interessante Aspekte beisteuern.

Knut Ebeling stellt (Literatur-)Geschichte und Archäologie als wichtigste Verfahren der Vergangenheitsrekonstruktion einander gegenüber und erachtet sie als konkurrierende und nicht komplementäre Ansätze. Aufgrund der unterschiedlichen Methoden und Quellen komme es jedoch nur selten zu Überschneidungen; die Nibelungen allerdings, über die schriftliche und archäologische Quellen existieren, seien ein Beispiel einer auch konkret gegebenen Konkurrenzsituation. Ebeling schildert den modernen Vertrauensverlust in die Geschichte und das Geschriebene. Die Vorzüge der Archäologie nach dem 19. Jahrhundert lägen in ihrer Abkehr von der triumphalen Geste der Geschichte, ihrer „Vorsicht und Voraussetzungslosigkeit“ (S. 17), ihrer durch den Vorgang des Findens vorgegebenen Affinität zum Unerwarteten und in ihrer Arbeit mit der „Materialität des Vergangenen“ (S. 16). Bei den anregenden Ausführungen wird mancher wohl eine stärkere Berücksichtigung der modernen Geschichtswissenschaft vermissen, die gewiss nicht bei Leopold von Ranke stehen geblieben ist, nicht zwangsläufig von der Identität von Geschichte und Vergangenheit ausgeht, archäologische Zeugnisse nicht immer nur in Ausnahmefällen auswertet, der Michel Foucaults „Archäologie des Wissens“ nicht unbekannt geblieben ist und der ebenfalls bewusst ist, dass es auch „ganz anders“ (S. 13) hätte sein können.

Die möglicherweise in der Altgermanistik noch nicht in ausreichendem Maße bedachte narratologische Kategorie (beabsichtigter!) erzählerischer Unzuverlässigkeit macht Otfrid Ehrismann für die Lektüre des „Nibelungenliedes“ fruchtbar. Ein solcher Ansatz berücksichtige in besonderer Weise „die kontextuellen Faktoren der Erzählung […], namentlich […] die Erwartungshaltung des Publikums“ (S. 19). Die von Ehrismann vorgenommene Konturierung dieses Publikums muss dabei freilich hypothetisch bleiben. Zunächst zeigt er die partielle Unzuverlässigkeit des Erzählers auf, worauf ein Teil mit Beispielen für die Unzuverlässigkeit (gemessen an den Erwartungen des Publikums) der Geschichte (also der Handlungsträger) folgt. Der Vorzug einer solchen Betrachtungsweise gegenüber einer rein philologischen zeigt sich dabei etwa, wenn die „,rechtsrheinischen Vogesen‘“ (S. 26) in der 15. Aventiure in den Handschriften A und B nicht als „Zeugen eines homerischen Schläfchens, sondern [als] planvolle[s] Arrangement einer literarischen Landschaft“ (ebd.) erkannt werden. Allerdings warnt Ehrismann abschließend auch davor, dem absichtsvoll unzuverlässigen Erzählen „jedes Vabanquespiel des Autors“ (S. 39) zuzuschreiben.

Volker Gallé kritisiert den „kriminalistische[n] Ansatz“ (S. 42) des Dokutainments, dessen detektivisches Aufspürenwollen eines „wahren Kerns“ eines Mythos am Beispiel des Umgangs mit dem „Nibelungenlied“. Er kennzeichnet solche TV-Formate als „Krimivariante im Bereich der Dokumentation“ (S. 44). Die mit dem „Zerstören des Erzählens“ (S. 47) einhergehende Suche nach der historischen Wahrheit des Mythos wurzele wissenschaftsgeschichtlich in einer unreflektierten Abhängigkeit vom Historismus. Dabei verstärke das Medium Film „absurderweise mit den Mitteln von Konstruktion und Inszenierung“ (S. 49) die „Vorgaben des historistischen Ansatzes“ (ebd.). Als konkrete „Verirrungen“ (S. 53) des Dokutainments nennt Gallé die Versuche, ein historisches Vorbild für Siegfried zu identifizieren, und die Suche nach einem materiellen Nibelungenschatz. Angesichts der durchaus verständlichen Präsenz von Mythen in verschiedenen Medien plädiert Gallé für eine entsprechende Medienkompetenz. Der „kriminalistische Ansatz“ jedenfalls „geht also nicht nur an der Sache vorbei, sondern verdeckt und verharmlost die wahren Kräfte, die in den Bildern und Geschichten gebunden sind“ (S. 59).

Ausgehend von der höfischen und mythischen Komponente des zugleich „unüberbietbar[en] und nicht überlebensfähig[en]“ (S. 62) Siegfried fragt Irmgard Gephart unter Einbezug tiefenpsychologischer Aspekte nach der dichterischen Darstellung dieser Ambivalenz und der Funktion, die „dem mythischen Urgrund im Verhältnis zu einer höfischen Oberfläche zukommt“ (ebd.). Sie analysiert die dafür relevanten Episoden (Siegfrieds Auftritt in Worms, die Tarnkappen-Szenen, die Passagen um Siegfrieds Tod) und deutet Siegfried als Narzissten und dessen Hornhaut als Zeichen „mangelnder Sozialität“ (S. 72). Alle entsprechenden Abschnitte überschauend kann sie zusammenfassen: „Solchermaßen bestätigt das ‚Nibelungenlied‘ in einem ersten Schritt die phantasmatische Zuschreibung grandioser Allmacht und beflügelt damit die Phantasie seiner Hörer und Leser. In einem zweiten Schritt destruiert es dieses Phantasma und etabliert eine Ordnung der Grenzsetzung“ (S. 76).

Die Ikonografie des Nibelungenhortes in Kunst und Literatur untersucht Gunter E. Grimm. Zunächst geht er dabei auf Umsetzungen der Bildtradition, hier der Hortversenkung durch Hagen, aus dem 19. Jahrhundert ein und macht auf deren deutsch-nationale Symbolik aufmerksam. Anschließend bespricht er Beispiele aus der literarischen Tradition vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg, die – abgesehen von der besonderen Rezeption bei Stefan George – zeigen, wie der Hort zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlicher (auch parodistischer) Weise Dichtern politisch verschiedener Gesinnung als Sinnbild deutscher (Reichs-)Herrlichkeit bzw. zu gewinnender oder bereits erreichter deutscher Einheit diente. Allerdings lasse sich nach der Einheit von 1871 teils auch „der Verlust der nationalen Semantik-Tradition“ (S. 98) erkennen. Kürzer dargestellt werden andere Semantik-Traditionen wie etwa die ökonomische (der Hort als Symbol für den Kapitalismus). Ein gesonderter Blick auf die humoristische, unpolitische und unmythische Rezeption Karl Simrocks dient Grimm als Überleitung zu ebenfalls humoristischen und parodistischen Darstellungen des Hortes in der Gegenwartsliteratur (Fantasy, Comic, Jugendbuch). Abschließend konstatiert er die heutige Entpolitisierung des Hortes, dessen Symbolwert „in Richtung Null“ (S. 113) gesunken sei.

Der Beitrag Alexander Honolds klärt zunächst über die „strukturbildende Funktion“ (S. 120) der Wasserläufe von Rhein und Donau für das „Nibelungenlied“ selbst auf, denn es sei „der Flusslauf, welcher […] die unterschiedlichen und weit verteilten Bestandteile der Ausgangskonfiguration zu einem gemeinsamen […] Handlungsgeflecht“ (ebd.) zusammenfüge. Mit diesem Gedanken verbindet Honold Überlegungen zu einigen vielbedachten Forschungsproblemen (fehlende gattungsästhetische Homogenität und inhaltliche Kohärenz im „Nibelungenlied“, Konfrontation der Siegfried-Figur mit der Sphäre der Burgunder, vorausdeutende Erzählerkommentare), bevor er auf die Wiederentdeckung des Nibelungenstoffes im 19. Jahrhundert eingeht. Als eine Wurzel dieser Wiederentdeckung kann er sich vorstellen, „dass dieses nationale Kulturgut sowohl Rhein- wie auch Donauraum umfasst und zwischen den großen mitteleuropäischen Einflusssphären einen stetigen Austausch durch hin- und hergehende Wanderungen inszeniert“ (S. 145).

Mit Alheydis Plassmanns Untersuchung der Frage, ob Friedrich Barbarossa 1156 Worms in bewusstem Rückgriff auf dessen burgundische Tradition als Krönungsort für seine Gemahlin Beatrix von Burgund wählte, hat auch ein rein geschichtswissenschaftlicher Beitrag Eingang in den Band gefunden. Aufgrund fehlender diesbezüglicher Selbstaussagen Friedrichs nimmt Plassmann Legitimationsstrategien staufischer Herrschaft in Burgund in den Blick und prüft die entsprechenden Diplome und historiographischen Quellen. Zwar habe sich die staufische Herrschaft durchaus über den Rückgriff auf die Vergangenheit legitimieren wollen, „[man] drang dabei aber nicht weiter als bis zu Rudolf III. vor“ (S. 184). Die Krönung der Beatrix müsse „im Lichte der hier gewonnenen Erkenntnisse ihre[r] mythischen Verbindungen zum Nibelungenlied und zum alten Burgunderreich von Worms geradezu entkleidet werden […]. Was die Stiftung von Legitimität anging, war zumindest im römisch-deutschen Kontext das ‚imperium‘ und das Kaisertum nach wie vor ungeschlagen“ (S. 185).

Aktuelle mediale Verarbeitungen des Nibelungenstoffs überprüft Siegrid Schmidt im Hinblick auf deren etwaige „mediale Rückentwicklung in eine ‚neue Mündlichkeit‘“ (S. 187). Nach einem kurzen Referat einiger Forschungspositionen zur Mündlichkeit der (Helden-)Epik stellt sie Beispiele produktiver Rezeption des „Nibelungenliedes“ mit mündlicher Präsentation aus dem Kinder- und Jugendtheater und für Darbietungen durch Epensänger und Epenerzähler vor. Zwar reichten „Gesetzmäßigkeiten der Mündlichkeit in diese Produktionen herein“ (S. 206), dennoch blieben „diese Adaptationen des Nibelungenstoffes in jeder Präsentationsform eine Variante von inszenierter bzw. rekonstruierender Mündlichkeit und [würden] zu keiner tatsächlich vom schriftlichen Text unabhängigen Kunstform“ (S. 207).

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