S. Schnyder: Tötung und Diebstahl

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Titel
Tötung und Diebstahl. Delikt und Strafe in der gelehrten Strafrechtsliteratur des 16. Jahrhunderts


Autor(en)
Schnyder, Sibylle
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
209 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Bendlage, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Die Entwicklung der Staatstheorie hatte, so Sybille Schnyder, seit dem 16. Jahrhundert zunehmenden Einfluss auf das Strafverständnis der Zeit: Das Strafen wurde grundsätzlich ein hoheitlicher Akt (S. 14). Dieser Befund ist das zentrale Ergebnis der vorliegenden Untersuchung, entstanden im Rahmen des Forschungsprojektes ‘Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts’, einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zwischen 1993 und 1999 geförderten Schwerpunktprogramm. In diesem Projekt untersuchten Historiker/innen und Rechtshistoriker/innen erstmals gemeinsam die historischen Wurzeln und Ausprägungen des öffentlichen Strafrechts im Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit. Ausgangspunkt des Forschungsvorhabens war die Erkenntnis, dass die Durchsetzung des staatlichen Strafmonopols und danach des Legalitätsprinzips, welches die staatlichen Strafverfolgungsbehörden verpflichtet, von Gesetzes wegen jedem begründeten Verdacht einer Straftat nachzugehen, selbst als historische Vorgänge zu verstehen seien. Diese hatten ihrerseits die Herausbildung der souveränen Staatsgewalt gegenüber einem homogenen Untertanenverband zur Voraussetzung.1

Um den Zusammenhang zwischen Strafen und Strafrechtstheorie sowie das Verhältnis zwischen einer Proportionalität von Delikt und Strafe einerseits und dem Strafzweck andererseits herauszuarbeiten, analysiert Schnyder in ihrer Dissertation ausgewählte Texte der Strafrechtsliteratur des 16. Jahrhunderts, die sich mit ‚strafrechtlicher’ Materie befassen (S. 14). Der Zeitraum ist dabei nicht zufällig gewählt, denn das 16. Jahrhundert wird in der Forschung gemeinhin als eine Übergangsphase vom mittelalterlichen, noch stark von der Privatjustiz dominierten Strafrecht zu einem neuzeitlichen Strafrechtsverständnis beschrieben, das auf einer ausschließlich hoheitlichen Strafkompetenz beruhte (S. 15). Im Zentrum steht dabei das Verhältnis von Delikt und Strafe am Beispiel von Tötung (homicidium) und Diebstahl (furtum) – typische Delikte der schweren und der mittleren Kriminalität. Es geht Schnyder darum, einen Eindruck vom Strafrechtsverständnis in der gelehrten Literatur dieser Zeit zu „vermitteln“ und dabei die gegenseitigen Einflüsse und allfälligen Entwicklungen bei den Gelehrten „aufzuspüren“ (S. 15). Als Sonde dienen ihr zu diesem Vorhaben Traktate, Kommentare, Traktatsummen, strafrechtliche Spezialliteratur und allgemeine juristische Werke von Vertretern der spanischen Spätscholastik, der Schule von Salamanca, sowie von Gelehrten des kanonischen und des römischen Rechts auf der iberischen Halbinsel, in Italien, Frankreich und den Niederlanden (S. 17). Ihre Auswahl soll damit zugleich auf die Europäisierung der Strafrechtswissenschaft im 15. und 16. Jahrhundert verweisen.

In vier Großkapiteln geht die Autorin systematisch bei der Erschließung des Materials vor: Im ersten Schritt (Kapitel 2) werden die ausgewählten Autoren und ihre einschlägigen Schriften vorgestellt. Dabei zeichnet Schnyder auch die Geschichte der Theologie und Strafrechtswissenschaften nach und verweist auf deren wichtigste Vertreter. Im nächsten Schritt (Kapitel 3) werden die Delikte Tötung und Diebstahl dargestellt. Insbesondere Vorsatz, Fahrlässigkeit und Notwehr stehen beim Tötungsdelikt im Zentrum der Diskussion, denn sowohl Theologen als auch Kanonisten des 16. Jahrhunderts haben sich intensiv mit der Willenszurechnung auseinandergesetzt (S. 52). Im vierten Kapitel werden folgerichtig die Strafen, die für die jeweiligen Delikte vorgesehen waren, diskutiert. Deutlich wird in diesem Abschnitt der Übergangscharakter des 16. Jahrhunderts, wenn die Autorin beschreibt, wie die kirchenrechtliche Buße und die kirchenrechtliche Restitutionslehre, die insbesondere noch das Seelenheil des Missetäters in den Fokus stellte, dem obrigkeitlichen Strafanspruch, der ganz auf diesseitige Vergeltung und Ausgleich des Schadens abzielte, in den Hintergrund traten, in einzelnen Betrachtungen jedoch noch vorhanden waren (S. 97-100). Eine der großen Neuerungen in der Strafrechtslehre des 16. Jahrhunderts war schließlich die „Wiederentdeckung“ (S. 113) einer ansatzweise im kirchlichen Strafrecht des Mittelalters zu findenden Präventionstheorie der Strafe, die den Besserungs- und Abschreckungscharakter gegenüber der vergeltenden Rache den Vorzug gab und damit der Strafe einen auf die Zukunft gerichteten, positiven Zweck zuschrieb (S. 114). Reine Geldstrafen im heutigen Sinne existierten im 16. Jahrhundert noch nicht, vielmehr waren Strafen noch vom Rachegedanken geprägt (S. 146).

Anschließend (Kapitel 5) wird der Frage nach der Proportionalität von Delikt und Strafe nachgegangen: Die Proportionalitätslehre des 16. Jahrhunderts diente nicht nur der Begrenzung der Strafe, sondern auch der Abschreckung. Der Strafzweck im Sinne von Abschreckung und Besserung wird deutlich gestärkt. Das Schuldprinzip (als Voraussetzung für Strafe) rückt zunehmend in den Vordergrund (S. 156f.). Deutlich verweist Schnyder hier auf ein Zweiklassenstrafrecht, in dem Reiche Strafen durch Geldzahlungen abmildern konnten. „Erst in der CCC [Constitutio Criminalis Carolina] wird dann aber schließlich ein für Arme und Reiche gleichermaßen gültiges System von Lebens- und Leibesstrafen eingeführt, in welchem öffentliche Strafen nicht mehr abgelöst werden können.“ (S. 181) Auffallend ist, dass ein vorsätzlicher Totschlag unter Umständen mit einer bloßen Geldstrafe geahndet werden konnte, während ein Diebstahl die Todesstrafe durch Erhängen nach sich zog. Schnyder erklärt dies mit dem besonders ehrlosen Charakter des Deliktes und der Einschätzung der Gelehrten, dass insbesondere schwerer Diebstahl gefährlicher für das Gemeinwesen sei. „Mit dem erstarkten Bewusstsein eines hoheitlichen Strafanspruchs setzte sich allmählich die generelle Erkenntnis durch, dass jedes Delikt zugleich auch die res publica verletzt.“ (S. 187) Das erhöhte Sicherheitsbedürfnis habe schließlich die in der Praxis offenbar weit verbreitete Todesstrafe für den Diebstahl gerechtfertigt.

Die Lebendigkeit der gelehrten Strafrechtsliteratur des 16. Jahrhunderts, die sich durch eine Vielfalt von Meinungen und Auffassungen auszeichne, sei ein Beleg für die intensive Auseinandersetzung und die kritische Durcharbeitung der strafrechtlichen Materie, so die Autorin in ihrem Resümee (S. 190). Die Gelehrten bewegten sich in dieser Zeit jedoch innerhalb des religiösen Rahmens und damit innerhalb einer stark hierarchischen Gesellschaft. Damit, so ein zentrales Ergebnis der Studie, waren Straftaten zugleich Verstöße gegen die menschliche und gegen die göttliche Ordnung. Die verletzte Ordnung konnte daher nur durch Vergeltung und oder einen Ausgleich des angerichteten Schadens wieder hergestellt werden. Irdische Strafen traten jedoch neben göttliche Strafen. Das 16. Jahrhundert steht daher, so die Autorin, für einen Wendepunkt des Strafverständnisses insgesamt. Mit diesem veränderten Strafverständnis ging zugleich ein neues Verständnis des Strafzwecks einher: Strafen sollten nicht nur der Vergeltung dienen, sondern auch einen Nutzen haben für das gemeine Wohl (S. 191). In der Theorie des 16. Jahrhunderts wurde schließlich ein Strafsystem im Interesse der Allgemeinheit vorausgesetzt. Mit der Betonung des Besserungsgedankens sei die Strafrechtsliteratur des 16. Jahrhunderts auch der damaligen Rechtssetzung voraus gewesen, die diese Vorstellungen noch nicht formulierte, wie die Autorin mit Verweis auf die Constitutio Criminalis Carolina feststellt.

Gemeiner Nutzen und Vermeidung schlimmeren Übels waren jedoch bereits im 15. Jahrhundert zentrale Begriffe städtischer Verordnungs- und Rechtstätigkeit. Ähnliches lässt sich für das hoheitliche Strafen konstatieren, das nicht erst an der Wende zur Frühen Neuzeit jede Form der Selbstjustiz ersetzen sollte. Die Theoretiker standen zwar vor der Herausforderung, die „Theorie der ausschließlichen und selbständigen öffentlichen Strafe mit den Tatsachen des Rechtsalltages zu vereinen“ (S. 137), in dem durchaus noch verschiedene Rechtsansprüche konkurrierten. Aber die immer noch existierenden ‚Privatstrafen’ und der im 16. Jahrhundert vermeintlich noch stark ausgeprägte private Vergeltungsanspruch spiegelte offenkundig eher das Rechtsempfinden der Rechtsgelehrten. Auch waren Strafnachlass und Gnade in der Praxis eher die Ausnahme, und noch seltener erfolgte aus Gnade ein Strafverzicht (S. 137). Damit ist auf eine zentrale Schwäche der vorliegenden Studie hingewiesen. Schnyder untersucht, was die Rechtsgelehrten über das Strafrecht ‚dachten’, wie sie ihr Wissen aus älteren Traditionen herleiteten und vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und politischer Veränderungen anzupassen suchten. Weil Schnyder die Strafrechtspraxis – die, so die Autorin, zwar interessant wäre, aber den Rahmen der Untersuchung sprengen würde (S. 18) – nicht berücksichtigt, erscheint die Strafrechtsliteratur des 16. Jahrhunderts als ein eigentümlich geschlossenes System und gar nicht mehr so ‚lebendig’. Gerade die Gegenüberstellung von ‚Gelehrtenkultur’ und geübter Rechtspraxis, die inzwischen durch zahlreiche Einzelstudien recht gut erforscht ist, hätte der Untersuchung ein bisschen mehr ‚Leben’ einhauchen können. Das mögen auf den ersten Blick kleinliche Einwände sein. Doch gerade mit Blick auf das eingangs zitierte Forschungsprojekt und dessen Leitgedanken stellen sich Fragen nach der gesellschaftlichen Handhabung des Rechts, das heißt nach der Wechselwirkung von Theorie und Praxis, Fragen, die Rechtshistorikern/innen zuweilen immer noch nachrangig erscheinen.

Anmerkung:
1 Dietmar Willoweit, Programm eines Forschungsprojektes, in: ders. u.a. (Hrsg.), Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts, Köln 1999, S. 1-12.

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