M. Hertig: Die Auflösung der Tschechoslowakei

Cover
Titel
Die Auflösung der Tschechoslowakei. Analyse einer friedlichen Staatsteilung


Autor(en)
Hertig, Maya
Reihe
Publications de l'Institut du Fédéralisme Fribourg/Suisse 36
Erschienen
Anzahl Seiten
537 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Boyer, Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt/M.

Die Ende 1992 nach dreijährigen Verhandlungen vollzogene Aufteilung der Tschechoslowakei in die Nachfolgestaaten Tschechien und Slowakei ist bislang von der Transformationsforschung nicht ausführlicher gewürdigt worden. Friedliche und geordnete Staatentrennungen scheinen – man bedenke die jugoslawische Katastrophe - eher die Ausnahme als die Regel zu sein; die Analyse der Ursachen und Rahmenbedingungen der tschechisch-slowakischen „Ehescheidung“ ist aus diesem Grund über den Einzelfall hinaus von Bedeutung.

Eine tschechische und eine slowakische Identität bildeten sich im 19. Jahrhundert im Rahmen der Habsburger Monarchie heraus. Das Konstrukt eines einheitlichen „tschechoslowakischen Staatsvolkes“ war dann in die Fundamente der 1918 gegründeten Ersten Tschechoslowakischen Republik (ČSR) eingelassen. Der „Tschechoslowakismus“ erwies sich für die Tschechen als vorteilhaft, weil er den Slawen gegenüber Deutschen und Ungarn das Übergewicht im Staat sicherte; für die Slowaken war die „Vernunftehe“ ein probates Werkzeug zur Abwehr ungarischer kultureller Hegemonieansprüche. Aufgrund der wirtschaftlichen, demographischen und kulturellen Überlegenheit des westlichen Landesteils war die Tschechoslowakei allerdings von Anfang an ein ungleichgewichtiges Gebilde, mit dem sich Tschechen weitaus stärker als Slowaken identifizierten.

Das kommunistische Regime erkannte die Eigenständigkeit und Gleichheit der Slowaken unumschränkt an; angesichts der faktischen Präponderanz der zentralistischen Parteiherrschaft waren diese „Errungenschaften“ allerdings das Papier der Verfassungsdokumente nicht wert. Auch der 1968 installierte, über die bestehende Autonomie der Teilstaaten noch hinausführende Dualismus blieb bedeutungslos. Die nationale Frage lösen konnte der „sozialistische Föderalismus“ nie. Die in den Staatskrisen von 1948 und 1968 durch die Ritzen dringenden nationalen Unverträglichkeiten waren Indizien des an der Wurzel gestörten Verhältnisses zwischen den „taubstummen Geschwistern“ (Pithart); seinen Ausdruck fand der schwelende Konflikt im Mythos des „gegenseitigen Verrats“ und in höchst unterschiedlichen Wahrnehmungen der gemeinsamen Geschichte.

Der nach vierzig Jahres des Schweigens Anfang 1990 einsetzende öffentliche Diskurs über die „nationale Frage“ mündete zunächst in den - auf den ersten Blick possenhaften, aber symbolisch hoch aufgeladenen - „Bindestrichkrieg“ um die Schreibung des Staatsnamens (Tschecho-Slowakische oder Tschechoslowakische Republik). Virulent wurde der nationale Konflikt dann im Kontext der Verhandlungen über eine neue Bundesverfassung. Die angestrebte Revision – nicht Revolutionierung - der sozialistischen Verfassung implizierte Rechtskontinuität, mithin einen Konsens zumindest über die Spielregeln der Auseinandersetzung. Die Orientierung am Recht konnte den Staatszerfall nicht verhindern; doch war sie eine zentral wichtige Vorbedingung für den friedlichen Verlauf des Desintegrationsprozesses.

Angesichts wachsender Ungeduld breiter Kreise geriet die Arbeit an der Verfassungsgebung dann schnell unter Druck. Nach den Parlamentswahlen vom Juni 1990 drängte insbesondere die neue slowakische Regierung unter Vladimir Mečiar auf die schleunige Neuverteilung der Kompetenzen zwischen Zentrale und Gliedstaaten. Wollten die Tschechen - im Einklang mit der Regierung des Gesamtstaates - nur wenige, klar definierte Kompetenzen auf die beiden Republiken delegieren, so strebten die slowakischen Verhandlungsführer vor dem Hintergrund wachsender chauvinistischer Pressionen weitestgehende Dezentralisierung an. Auf der tschechischen Seite entstand nun der Eindruck vom unbedingten Willen der Slowaken zur Sezession und von Mečiar als „Erpresser“.

Vorerst blieb allerdings der Wille zum Kompromiss maßgebend: ein Verfassungsgesetz statuierte zugunsten der Republiken bedeutende Kompetenzverschiebungen. Sie ließen die Bundesstaatlichkeit intakt, leisteten allerdings dem Auseinanderdriften der Landesteile und wirtschaftspolitischen Blockaden ausgerechnet auf der kritischsten Strecke der ökonomischen Transformation Vorschub. Bereits nach einigen Monaten war diese Lösung obsolet; „Föderalismus“ setzten die Slowaken nun tendenziell mit „tschechischer Vorherrschaft“ gleich; vor dem Hintergrund schwächer werdender Loyalitäten zum Zentralstaat erschien in Bratislava ein freiwilliges Bündnis mit Austrittsrecht wünschenswert. Gegen das konföderative Modell, das die Souveränität des Bundes der gliedstaatlichen nachordnete, setzten die Tschechen den dezentralisierten Einheitsstaat, in dem die Souveränität der Republiken eine abgeleitete Größe darstellte.

Die Konföderationslösung rückte im Laufe des Jahres 1991 zusehends in den Vordergrund. Katalytische Wirkung hatte das Auseinanderbrechen der Sowjetunion und Jugoslawiens. Die im Zerfall der tschechischen und der slowakischen Bürgerbewegung zahlreich neu entstehenden Parteien setzten im harten Verdrängungskampf auf die nationalistische Karte; in der Slowakei tat sich hier wiederum Mečiar besonders hervor. Nach erdrutschartigen Wahlsiegen der tschechischen ODS und der slowakischen HZDS, deren Vorsitzende Klaus bzw. Mečiar das weitverbreitete Bedürfnis nach starken, kompromisslosen Führerfiguren bedienten, waren die beiden großen Parteien imstande, alle wichtigen Entscheidungen auf gesamtstaatlicher Ebene zu blockieren.

Der Ausweg einer „Elefantenhochzeit“ war schon durch die unvereinbaren wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Granden - Klaus` Neoliberalismus hie, Meciars Interventionismus dort - verstellt. Wollte Klaus dem Gesamtstaat im Interesse des Umbaus der Wirtschaft umfassendere Kompetenzen reservieren, so erachtete Meciar die Konföderation zweier selbständiger Staaten als das geeignetste Vehikel seiner Macht. Beide Seiten zogen letztlich die Trennung einer Einigung auf der Basis der Vorstellungen der jeweiligen Gegenseite vor. Die im Herbst 1992 vom Slowakischen Nationalrat verabschiedete Unabhängigkeitserklärung und die neue slowakische Verfassung waren Gründungsdokumente eines unabhängigen Staates.

Heilsame Folge der einvernehmlichen Trennung war ein hohes Maß an Rechtssicherheit. Beide Seiten interpretierten die Teilung als Dismembration, nicht als Sezession; keiner der Nachfolger nahm exklusiv die juristische oder politische Nachfolge der Tschechoslowakei in Anspruch. Unbestritten war beide Male die Weitergeltung des Rechts der untergegangenen Tschechoslowakei. Die neue Geschäftsgrundlage war bereits auf dem Weg zur Trennung durch eine Vielzahl bilateraler Staatsverträge vorformuliert worden. Weitgehend reibungsfrei verlief die Ziehung der neuen Staatsgrenze: sie entsprach der historischen und ethnischen Scheidelinie zwischen den Landesteilen. Die Staatsangehörigkeit orientierte sich an der Zugehörigkeit zu den ehemaligen Teilrepubliken. Die anfangs weniger liberale, insbesondere die Roma diskriminierende tschechische Regelung wurde in mehreren Schritten revidiert. Staatsvermögen und Staatsschulden wurden in zügigen Vereinbarungen, nach klaren Prinzipien, bei großzügigen Konzessionen der wirtschaftlich stärkeren tschechischen Seite, aufgeteilt. Die Währungsunion löste sich auf. Der Handel wurde auf die Grundlage des bilateralen Clearings gestellt; das Niveau der ökonomischen Kooperation allerdings fiel weit hinter den Integrationsgrad der Tschechoslowakei zurück.

Welches waren die Ursachen der Trennung? Die strukturelle Asymmetrie der Teilstaaten begründete von Anbeginn unterschiedliche Interessen und Loyalitäten: der stärkere - tschechische - Partner identifizierte sich vorrangig mit dem Gesamtstaat; die Slowaken hingegen präferierten Autonomie und ein loses Bündnis. Hatte der sozialistische „Fassadenföderalismus“ die Partnerschaft bereits aufs gründlichste diskreditiert, so„befreite“ die Transition dann die subkutanen nationalistischen Strömungen. Bald leistete diesen der harte Konkurrenzkampf einer Vielzahl neuer Parteien Vorschub. Eine Reihe spezieller Voraussetzungen erklärt den geordneten und friedlichen Verlauf der Trennung; die Nationalismen waren antagonistisch; sie waren füreinander jedoch keine „Erbfeinde“. Beide Völker hatten sich im „Gehäuse“ der Tschechoslowakei bereits als politische Körperschaften institutionalisiert. Das erforderliche Mindestmaß an demokratischer Kultur und Konsensfähigkeit war gegeben; der Trennungsprozess bewegte sich in den Bahnen des Rechts.

Maya Hertigs Studie ist gründlich. Sie ist umfangreich, aber kaum redundant; sie ist klar gegliedert, einleuchtend zäsuriert und gut lesbar. Die Arbeit basiert auf den gedruckten Quellen - für die Archive ist die Zeit noch nicht reif – und auf Zeitzeugeninterviews; die Kriterien für die Auswahl der Gesprächspartner sind allerdings nicht immer plausibel. Heuristisch fruchtbar ist die verfassungsrechtliche Zentralperspektive der Untersuchung; von Haupt- und Staatsaktionen auf den Schlachtfeldern ist schließlich nichts zu berichten. Auch war die Rechtsförmigkeit des politischen Prozesses nicht akzidentell, sondern wesentlich. Hertig anerkennt die Bedeutung des „ökonomischen Faktors“; die wirtschaftlichen Beweggründe bleiben allerdings eher blass. Abgesehen davon ist die Ursachenanalyse jedoch von vorbildlicher Stringenz, Präzision und von robuster Überzeugungskraft. Dass sie sine ira et studio vorgetragen wird, ist angesichts der fast noch tagespolitischen Aktualität des Themas besonders anerkennenswert.

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