Ch. Gerlach u.a.: Das letzte Kapitel

Cover
Titel
Das letzte Kapitel. Realpolitik, Ideologie und der Mord an den ungarischen Juden 1944/45


Autor(en)
Gerlach, Christian; Aly, Götz
Erschienen
Anzahl Seiten
484 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tatjana Tönsmeyer, HU-Berlin Institut für Geschichtswissenschaften

Der Holocaust in Ungarn ist oft als „Holocaust nach dem Holocaust“ beschrieben worden, als Mord, der vor den Augen der Weltöffentlichkeit stattgefunden habe. In ihrem neuen Buch gehen Christian Gerlach und Götz Aly der Frage nach, wie es zu der destruktiven Dynamik kommen konnte, die im Frühjahr und Sommer 1944 zu der Deportation von fast einer halben Million jüdischer Menschen aus Ungarn führte. Hinter diesem Ansatz steht letztlich die Frage nach dem Funktionieren von Antisemitismus und der Gewichtung der „ideologischen Moti-ve“. Die beiden Autoren gehen davon aus, daß eine Kontextualisierung der Geschehnisse un-abdingbar sei, um die Multikausalität des Vernichtungsprogramms aufzeigen zu können.

Antisemitismus wird von ihnen perzeptionstheoretisch verstanden „als eine Perspektive, in der Wirklichkeit wahrgenommen wurde“ (S. 14) und die sich als handlungsleitend erwies. Es gelingt ihnen, in einer eindrucksvollen Darstellung aufzuzeigen, daß die Vernichtung der un-garischen Juden auf der Zusammenarbeit deutscher und ungarischer Stellen basierte, bei der es letztlich um die Verteilung von Ressourcen ging. Erst die Verknüpfungen und Kollisionen von Interessen ermöglichte die Dynamik des Massenmordes.

In den Worten eines der besten Kenner des europäischen Faschismus, Stanley Payne, war das Ungarn der Zwischenkriegszeit „ein wahrhaft reaktionärer Staat“.1 Traumatisiert von der Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem als Schmach empfundenen Friedensvertrag von Tri-anon standen Forderungen nach sozialem Wandel seit der Erfahrung mit dem Béla-Kún-Regime grundsätzlich unter „Kommunismusverdacht“. Gerlach und Aly weisen nach, wie in dieser Situation die Diskriminierungs- und Enteignungspolitik der ungarischen Juden zum Rudiment von Sozialpolitik wurde, die unter dem Stichwort „Schaffung von Gerechtigkeit“ diskutiert wurde. Der Antisemitismus wurde so zum sozialen Kitt zwischen den Schichten und Klassen der ungarischen Gesellschaft.

Verfolgung und Diskriminierung der ungarischen Juden hatten somit lange vor der deutschen Besetzung des Landes begonnen, gewannen jedoch danach ihre tödliche Dynamik. Der Schlüssel zu den Deportationen ist dabei bei den ungarischen Behörden zu suchen: Regierung, Verwaltung, Polizei und Gendarmerie beteiligten sich am Erlaß und an der Durchführung antijüdischer Gesetze, an der Ghettoisierung, am Raub des Eigentums und schließlich an De-portationen und der Organisation von Todesmärschen – dies alles zu einem Zeitpunkt, als der Ausgang des Krieges nicht mehr in Frage stand. Gerlach und Aly kommen daher zu der Ein-schätzung, daß in Ungarn der Verfolgungseifer seinen Höhepunkt nicht nur auffällig spät er-reichte, sondern „mit einer bürokratischen Konsequenz, die allein mit deutschem Vorgehen vergleichbar war“ (S. 429). Hier zeigt sich eine weitere Parallele. Payne stellt fest, daß ähn-lich wie bei der NSDAP kurz vor der Machtübernahme die Pfeilkreuzler, die ungarische Spielart einer faschistischen Bewegung, bei ihrem Verbot im Jahre 1939 einen ähnlich starken Rückhalt in der Bevölkerung fanden.2

Doch nicht nur die ungarische Seite profitierte von einer Politik, die als Herrschaftsstabilisie-rung durch massenhaften Raubmord bezeichnet werden kann. Gerlach und Aly zeigen auf, daß das, was nach ungarischer Selbstbereicherung aussieht, sich als umfangreiche sekundäre Transformation „hungarisierten“ jüdischen Vermögens in deutsches erweist. Die Beraubung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Ungarns beruhte damit letztlich auf deutsch-ungarischer Arbeitsteilung – ein Sachverhalt, der in der Historiographie noch wenig behandelt wurde.

Dieses Defizit in der Historiographie ist um so bedauerlicher, als interaktive Prozesse, wie die am Beispiel Ungarns geschilderten, nicht nur für die besetzten, sondern auch für die verbün-deten Staaten beschrieben werden können. Auch in der Slowakei oder in Rumänien wurde jüdisches Eigentum unter nationalem Vorzeichen enteignet, sprach man von „Rumänisierung“ oder „Slowakisierung“. Diese Formen des Vermögensentzugs wurden in den betreffenden Ländern ebenfalls unter der Überschrift der „Schaffung von Gerechtigkeit“ diskutiert und dienten gleichermaßen als Ersatz für eine Sozialpolitik, die eine Transformation und Moder-nisierung des gesellschaftlichen Gefüges weitgehend zu vermeiden suchte. Noch ein weiterer Aspekt ist den genannten südosteuropäischen Staaten gemeinsam: Ethnische Homogenisie-rung und Nationalisierung von Eigentum endeten nicht 1945, sondern wurden mit der Ver-treibung der deutschen Minderheit und der Enteignung nunmehr des Besitzes des „Klassen-feindes“ fortgesetzt.

Gerlach und Aly ist es eindrucksvoll gelungen, durch die Kontextualisierung jene interaktiven Prozesse aufzuzeigen, die letztlich zum Mord an den ungarischen Juden führten. Zu ihren Verdiensten gehört es, auf den stark arbeitsteiligen Charakter zwischen deutschen und ungari-schen Stellen hingewiesen zu haben. Dazu gehört auch die Einsicht, daß der Schlüssel zu den Deportationen letztlich bei den ungarischen Behörden liegt, denn ohne deren aktive Beteili-gung wäre der Mord nicht möglich gewesen. Diese Beteiligung hatte ihre Wurzeln in einer einheimischen Judenfeindschaft, die spätestens seit dem Ende des Ersten Weltkrieges Teil der politischen Kultur in einem Land geworden war, das trotz einer rückständigen Gesellschafts-struktur sozialen Wandel dennoch nicht zulassen wollte, so daß die „Judenpolitik“ zum Ru-diment von „Sozialpolitik“ wurde. Man mag bedauern, daß die beiden Autoren, da sie der ungarischen Sprache nicht mächtig sind, bei ihrer Archiv- und Literaturarbeit auf Übersetzun-gen angewiesen waren, dies ändert jedoch letztlich nichts an der grundlegenden Bedeutung ihrer Arbeit.

Anmerkungen:
1 Stanley Payne: Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung, München 2001, S. 175.
2 Ebenda, S. 339.

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